KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG




Vom Bug her drang ein leises Plätschern. Dave, der am vorderen Ende des Lastkahns stand, war klar, daß er sich in unmittelbarer Gefahr befand. Er fragte sich, ob er über die strohbedeckte Stelle in der Mitte des Kahns springen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Statt dessen sprang er auf den Bootsrand, wo er balancierend stehen blieb. Dann ging er vorsichtig, Schritt für Schritt, über den abgenutzten Holzrand in Richtung Heck. Er hatte die strohbedeckte Stelle fast hinter sich, als er ausrutschte.

Im Fallen griff er nach einem glitschigen Pfosten. Es gelang ihm, sich trotz der schlüpfrigen Oberfläche festzuhalten. Daves Körper hing über der Reling, der rechte Fuß berührte das Wasser. Schließlich schaffte er es, den rechten Fuß über den Bootsrand zu hieven. Dabei fiel sein Revolver ins Wasser. Das Handy hätte den gleichen Weg genommen, wenn es sich nicht in seiner Jackentasche verheddert hätte.

»Scheiße«, murmelte Dave.

Er zog sich am Schiffsrand entlang bis zum Heck. Dann kroch er aufs Deck und rief Lloyd an.

»Ich bin jetzt am anderen Ende des Schiffes, Lloyd. Verstanden?«

Er starrte besorgt in die Dunkelheit. Die unnatürliche Nacht wirkte tropisch, feucht und schwül. Er konnte kaum die Lichter in den umliegenden Gebäuden erkennen. Es war, als schienen sie durch dichten, schwarzen Nebel. Von Süden her kam das gedämpfte Geräusch der Rotorblätter des Hubschraubers, der sich am Flußlauf orientierte. Im Osten war die Lichtkuppel des Erzengels nur noch eine verschwommene Halbkugel.

»Ich bin froh, daß Sie mir das gesagt haben«, hörte Dave die leise Stimme des Erzdiakons. »Es hätte mir ganz und gar nicht gefallen, den falschen Mann im Netz zu haben. Ist er schon an Bord?«

Während Peters mit Lloyd sprach, kletterte eine tropfnasse Gestalt über den Bug aufs Deck. Stan Gates’ Körper, jetzt in Manovitchs Besitz, stand nur zehn Meter von Peters entfernt. Die Kreatur wirkte so unbarmherzig, so entschlossen, daß es Peters kalt den Rücken hinunterlief.

Dave griff unwillkürlich nach dem Revolver, nur um festzustellen, daß das Holster leer war.

Manovitch beobachtete ihn mit offensichtlichem Vergnügen. »Du wirkst ein wenig wehrlos, Peters. Hast du danach gesucht?«

Manovitch öffnete den Mund. Flammen schossen heraus und versengten Daves Haare.

»Jesus«, schrie Dave.

»Der wird dir nicht helfen«, sagte Manovitch lachend. »Er ist beschäftigt.«

»Du bist entschlossen, mich zu töten, nicht wahr?« fragte Dave.

»Ja. Und dann werde ich die letzte Plage auf diese dummen Menschen loslassen, um die Konferenz der heiligen Männer aufzulösen.«

Dave versuchte Zeit zu schinden. »Und du glaubst, daß das funktioniert? Sie stehen kurz vor einer Einigung. Du könntest zu spät kommen.«

»Der Tod aller Erstgeborenen in London wird sie auseinanderbringen. Ich weiß es, und du weißt es.«

Dave wußte es, und er wußte auch, daß Manovitch, wenn er wollte, aus dem Stand heraus zehn Meter weit springen konnte. Dave hätte bei einem Zweikampf keine Chance, selbst wenn er die Reinkarnation von Bruce Lee wäre. Vor einem solchen Kampf brauchte man nicht einmal Wetten abzuschließen. Er konnte nur hoffen, daß es ihm gelang, Manovitch in die richtige Position zu bringen, im letzten Augenblick in die Themse zu springen und so schnell wie möglich zum Ufer zu gelangen.

Manovitch kam langsam und vorsichtig auf ihn zu, als erwarte er einen Angriff. »Aus welcher Richtung werden sie kommen, eh?« brummte er. »Sag es mir, Peters. Welche Waffen werden sie benutzen? Raketen? Flugkörper? Flammenwerfer? Dieser Jesusmixer hat auch was damit zu tun, nicht wahr?«

»Der Hubschrauber? Ja. Er ist das reinste Kanonenboot. Er wird dich in Stücke pusten«, fauchte Dave ihn mit allem Mut an, den er aufbringen konnte.

»Wenn sie diesen Körper töten«, rief Manovitch, »nehme ich einfach deinen. Hast du schon einmal daran gedacht? Ich werde diesen kleinen, niedlichen Verstand in Besitz nehmen – diesen strammen, hübschen Körper – und beides langsam und schmerzhaft vernichten. Ich werde dir deine Innereien ins Hirn hochsaugen, bis du nur noch Scheiße im Kopf hast. Ich werde deine Persönlichkeit zerstören. Ich werde dich in einen Kindermörder, einen Dieb und Triebtäter verwandeln; in einen, der mit alten Frauen herumhurt. Ich werde Vangellan finden und sie vögeln, bis sie um Gnade winselt. Ich werde ihr die verdammten Augen aus dem Gesicht ficken – wie hättest du sie gern zubereitet, Scheißkerl? Ich werde sie ficken, bis sie aus jeder Körperöffnung blutet. Und alle werden glauben, sie hätte einen wahnsinnigen Orgasmus, Peters. Sie werden lachen und sagen: ›Hör mal, die beiden feiern Manovitchs Vernichtung.‹ Und inzwischen wird sie an zuviel Manovitch unter Schmerzen sterben. Klingt lustig, nicht wahr? Wie gefällt dir das? Also hol schon deine Kanonenboote her und laß sie Stan Gates in Stücke schießen, damit ich endlich deinen anständigen, aufrechten, engärschigen Körper in Besitz nehmen kann…«

Dave ließ sich nicht dazu provozieren, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Er würde diesem Teufel nicht den Gefallen tun, ihn wissen zu lassen, daß er nicht an die Möglichkeit gedacht hatte, selbst in Besitz genommen zu werden. Er hatte nur daran gedacht, daß Manovitch ihn töten wollte, und sich vorgestellt, wie er ihn folterte, und dann: Auf Wiedersehen, Welt. Aber wenn der Körper, in dem sich Manovitch augenblicklich aufhielt, starb, wäre dieser von seinen spirituellen Verwicklungen befreit und vielleicht in der Lage, von einem Körper zum anderen zu springen.

Ein gespenstischer, erschreckender Gedanke. Manovitch konnte seinen Körper in Besitz nehmen und wie eine Marionette benutzen.

Plötzlich roch es sehr stark nach Benzin. Die Dunkelheit um ihn herum war von geschäftiger Aktivität erfüllt.

Manovitch hatte das Stroh erreicht. Er schaute nicht nach unten. Wahrscheinlich erwartete er keinen Angriff von dort, sondern von oben oder von den Seiten.

Plötzlich erklang ein lautes Klack, gefolgt von dem dumpferen Geräusch von Metallkiefern, die sich in Fleisch und Knochen bohrten.

Manovitch stöhnte auf, als er den Schmerz spürte, der durch Gates’ Körper schoß. Er war auf eine stählerne Menschenfalle getreten, deren Zähne sich in sein rechtes Bein gegraben hatten. Die Wadenmuskeln waren gerissen, der Knochen gebrochen. Manovitch griff nach unten und stemmte die Falle auf. Blut spritzte aus der aufgerissenen Arterie über das Stroh.

»Es ist noch nicht vorbei, Peters.« Manovitch fuhr mit den Händen über die Wade. Der Knochen wuchs wieder zusammen, die Wunde schloß sich.

Das Hubschraubergeräusch kam näher; seine Scheinwerfer warfen einen gelben Schein.

»Nichts wird mich jetzt noch aufhalten!« schrie Manovitch. »Nichts!« Er war nur noch ungefähr drei Meter von Peters entfernt und entschlossen, sich auf ihn zu stürzen.

Der Hubschrauber war jetzt über ihm und stürzte plötzlich aus der Dunkelheit auf ihn zu. An seiner Unterseite hing ein flexibler Rahmen mit einem großen Schleppnetz. Dave versuchte beiseite zu springen, aber er wurde von den Füßen gefegt und fiel ins Netz. Dann stieg der Hubschrauber wieder in die Höhe.

»Nicht mich!« schrie Dave. »Ich bin der falsche!«

Manovitch griff nach dem Netz und versuchte den Rahmen zu packen, begierig, seine Beute nicht davonfliegen zu lassen. Eine zweite Menschenfalle schloß sich um das andere Bein. Er erwischte das Schleppnetz, klammerte sich an den Rahmen und wurde ein kurzes Stück hochgezogen, bis sich die Ankerkette der Falle spannte.

Manovitch fiel krachend auf den Lastkahn zurück, wo sich eine dritte Menschenfalle wie das Maul eines entschlossenen Metallhaies um seinen linken Arm schloß.

Unter dem Hubschrauber hing Dave zusammengekrümmt wie ein Fisch in den Maschen des geschlossenen Netzes, das im von den Rotoren erzeugten Wind leicht hin und her schaukelte, während der Hubschrauber vom Lastkahn abdrehte. Dave sah, wie eine brennende Fackel gleich einem Funken von der Albert Bridge in die Themse fiel.

Binnen Sekunden stand die Themse unterhalb der Brücke in Flammen. Eine drei bis vier Meter hohe Flammenwand bahnte sich ihren Weg von der Albert Bridge zur Chelsea Bridge. Sie schien auf ihrem Weg Kräfte zu sammeln und folgte brüllend dem Flußlauf.

In den wenigen Sekunden, während derer das Inferno in einer Flammenflut durch seinen natürlichen Kanal stürzte, gelang es Manovitch erneut, die Fußangel aufzustemmen. Als er seine Hand zurückzog, verlor er zwei Finger.

Gerade als der Hubschrauber das Ufer erreichte, schoß die Flammenwand brüllend an Dave vorbei und versengte seine Haare und Augenbrauen.

Im Schein des Feuers sah Dave, wie Manovitch unbeholfen aufstand und unsicher auf seinen verletzten Beinen stehen blieb. Der Teufel schrie vor unbändiger Wut, als ihn der Feuersturm einschloß. Er schien das Feuer einzuatmen. Seine Schreie vermischten sich mit den brüllenden Flammen, die ihn verschlangen. Er brannte minutenlang mit einer gasiggrünen, hellen Flamme. Dann fiel seine vom Feuer verkohlte Gestalt auf das Deck des Lastkahns, der lichterloh brannte.

Aber er stand wieder auf, so als weigere er sich, von den Flammen verzehrt zu werden.

Die Feuerwand setzte ihren Weg fort, raste unter weiteren Brücken hindurch, bevor sie schließlich in der Nähe der Tower Bridge erlosch, weil ihr das Benzin ausgegangen war, das in den Fluß gepumpt worden war.

Als die Seile verbrannten, entfernte sich der brennende Lastkahn von seinem. Liegeplatz und trieb langsam die dunkle Themse hinab, wobei er ein unheimliches Licht übers Wasser warf.

Die feurige Gestalt Stan Gates’ stand mit Manovitchs gefangener Seele immer noch brennend an Deck: eine Seele, die sichtbar zutage trat, in Form zischender Flammen, die ihm aus Mund, Nase, Augenhöhlen und zwischen den Rippen hindurch drangen.

Endlich hatten die Flammen Manovitch verzehrt.

Der verkohlte Leichnam des Widersachers stürzte ins Flammenmeer und versank.

Als der brennende Kahn die Tower Bridge erreicht hatte, schwand die Dunkelheit.

Dave kletterte aus dem schützenden Netz und dankte der Hubschrauberbesatzung. Auch Rajeb Patel schüttelte ihm die Hand.

»Gut gemacht«, sagte er.

»Hatten Sie etwas damit zu tun?« fragte Dave.

»Ja. Ich habe die Fackel ins Wasser geworfen«, antwortete Rajeb. »Heiliges Feuer, von den Kerzen einer nahe gelegenen Kirche geborgt.«

»Ah.« Dave lächelte. »Also so ist es abgelaufen.«

»Es ging um Sekunden«, sagte Rajeb. »Wir konnten das Benzin erst in den Fluß pumpen, nachdem Manovitch den Kahn erreicht hatte, sonst hätte er etwas geahnt.«

Lloyd Smith erschien als nächster auf der Bildfläche, und wieder wurde Daves Hand energisch geschüttelt. »Gut gemacht, Mann, gut gemacht. Wir haben ihn erwischt. Wir haben den stinkenden Bastard erwischt. Der Erzengel ist zwar noch nicht abgereist, aber ich bin sicher, daß er die Erde bald verlassen wird.«

Dave lächelte. »Sie werden Erzbischof sein, bevor Sie es wissen.«

»Pah«, sagte Lloyd nicht sehr überzeugend. »Von mir aus können die ihren Erzbischof behalten.«

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