KAPITEL NEUNZEHN




Petra verließ das Hotel und ging zur Holborn-U-Bahn-Station. Sie fuhr mit der Piccadilly bis zum Leicester Square und dann mit der Northern zum Südufer des Flusses. Schließlich nahm sie einen Bus bis zu einer bestimmten Straße im Elephant and Castle. Vor Besteigen des Busses hatte sie sich einen Schal um den Kopf und die untere Hälfte des Gesichtes geschlungen, um nicht erkannt zu werden.

Es war dunkel, als sie die kurze, verwahrloste Nebenstraße entlangging und rasch in eine Seitengasse einbog. Sie blieb stehen und lauschte, bevor sie in ihren eleganten, teueren Kleidern über einen Zaun kletterte und sich in einen mit Müll übersäten Hinterhof fallen ließ. Sie hatte in weiser Voraussicht Schuhe mit niedrigen Absätzen angezogen, die ihr gute Dienste leisteten, während sie versuchte, sich einen Weg durch den Sumpf aus Dosen, Flaschen, Lumpen und anderem Abfall zu bahnen. Es galt, verrostete Liegestühle und Fahrradrahmen und alle Arten von Müll zu umrunden, der im Laufe der Jahre von den zahllosen Familien aus den Fenstern geworfen worden war, die die fünf Stockwerke des Mietshauses bewohnten.

Petras Ziel lag im zweiten Stock. Sie bemerkte, daß die Vorhänge noch immer offen waren, obwohl in dem Zimmer dahinter bereits eine Lampe brannte. Petra kletterte auf die Trennmauer, die die Grundstücke voneinander teilte, kauerte sich an der Hauswand nieder und starrte in das Zimmer.

Obgleich billig möbliert mit dick gepolsterten Sofas und einem alten Eichentisch, war der Raum hinter der Scheibe makellos sauber. Am Tisch saß ein ungefähr zwölf Jahre alter Junge. Er schien über seinen Schulbüchern zu brüten und war zweifellos gerade dabei, seine Hausaufgaben zu machen. Sein Haar war eine Masse schwarzglänzender Kräusellocken, unter der ein breites, hübsches Gesicht zu sehen war. Eine tiefe Falte zog sich über seine Stirn. Er schien intensiv über etwas nachzudenken.

An der Wand hinter dem Jungen, der auf den Namen Abibi getauft worden war, aber von allen nur Abby gerufen wurde, hing eine Karte von Nigeria. Abby war noch niemals in Nigeria gewesen, ebensowenig wie die Zeichnerin der Karte, die mit Petra, 13 Jahre alt unterschrieben hatte. Nigeria war für beide ein in ein Geheimnis gehülltes Land: die Heimat ihrer Großeltern. Sie kannten viele Geschichten über Nigeria; Geschichten von mystischen Tieren, die zu den Menschen und miteinander sprachen; Geschichten von Stammesleidenschaft, Kriegen, von verlorenen, goldenen Königreichen. Sie waren beide von dem Land ihrer Ahnen fasziniert gewesen und hatten sich geschworen, es eines Tages zu besuchen, sobald sie genügend Geld und Zeit dafür haben würden.

Petra betrachtete ihren jüngeren Bruder zärtlich und wäre am liebsten durch das Glas gestürzt, das sie voneinander trennte, um ihn an sich zu drücken. Aber sie wollte ihn nicht ängstigen: Er hielt sie für tot. Sie hatte ihren Eltern erklärt, sie wolle nach Nigeria, um ihre Wurzeln zu suchen, bevor ihre Krankheit vollkommen von ihr Besitz ergriff. Später hatten sie dann eine Nachricht erhalten, in der stand, daß sie auf dem Weg nach Nigeria gestorben sei. Ihre Eltern waren zu arm, um ihren Leichnam zurück nach England verschiffen zu lassen, und so akzeptierten sie, daß Petra von ihnen gegangen war und pflanzten auf einem nahe gelegenen Friedhof einen Baum zu ihrem Gedenken.

Plötzlich ging die Tür auf und eine stattliche Frau trat ins Wohnzimmer, in jeder Hand eine Einkaufstasche. Ihre Mutter hatte sich kaum verändert, seit sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie gehörte zu jenen Frauen, die bereits bei der Geburt wie vierzig ausgesehen hatten und mit fünfzig immer noch so aussahen.

»Na, arbeitest du fleißig, Abby?« hörte Petra ihre Mutter fragen.

»Natürlich«, erwiderte Abby ein wenig gereizt. »Kann ich im Dunklen Fußball spielen?«

»Zuerst mußt du deine Hausaufgaben machen«, sagte seine Mutter und verschwand durch die Küchentür.

Der Junge schlug die Augen gen Himmel, als sei er als einziger auf der Welt mit Eltern geschlagen, die nicht nur beschränkt, sondern rettungslos verloren waren.

Petra lächelte und erinnerte sich an die Zeit, als sie an diesem Tisch gesessen und sich danach gesehnt hatte, mit den anderen Mädchen draußen auf der Straße zu spielen. Damals hatte sie ihre Eltern für grausam gehalten, weil sie arbeiten mußte, während andere Eltern ihre Kinder draußen herumlaufen ließen. Später hatte sie ihre Meinung geändert. Nachdem sie einen Job als Top-Model bekommen hatte, waren sie sehr stolz auf sie gewesen. Einmal hatte Petra ihre Mutter zu einem Einkaufsbummel nach Paris mitgenommen, und noch immer traten ihr Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, wie nahe sie sich damals gewesen waren.

Ein Mann in Arbeitskleidung betrat das Wohnzimmer. Er war hochgewachsen, ernst, und hatte eine Narbe an der linken Wange.

»Na, arbeitest du fleißig, Abby?« fragte er, faltete eine Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm.

Der langmütige Abby schlug erneut die Augen gen Himmel und stöhnte. Er machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern beugte sich wieder über die Bücher. Petra hatte Mühe, mit dem Kloß in ihrer Kehle fertig zu werden. Wie ihr Vater an dem Abend, als er erfuhr, daß sie tot war, geweint hatte! Er hatte sich das Herz aus dem Leib geschluchzt. Dieser Mann, der so hart und zäh aussah wie ein Stück Schiene, war in den Armen seiner Frau zusammengebrochen und hatte ihr Kleid mit seinen Tränen durchtränkt. Jetzt wirkte er abgehärmt. Er schlurfte leicht, als er in Hausschuhen durchs Zimmer ging. Petra hatte ihren Großvater genauso herumschlurfen gesehen, bevor er am Parkinson-Syndrom erkrankte.

Ihre Mutter kam ins Wohnzimmer.

Petra schaute ihnen eine Weile nur zu und genoß es, zu sehen, wie sie miteinander umgingen. Sie waren früher eine glückliche Gemeinschaft gewesen und waren es auch jetzt – wie eine Familie sein sollte. Tief innen waren sie in natürlicher Liebe und Zuneigung miteinander verbunden. Ihr Vater hatte einst eine nigerianische Münze in vier Teile gespalten. Eine Viertelmünze trug Petra an einer Kette um den Hals. Als sie einmal mit Verdacht auf Herzstillstand in ein Krankenhaus eingeliefert worden war, hatten die Schwestern ihr die Kette abnehmen wollen, aber sie hatte sie schreiend daran gehindert. Sie konnte die Viertelmünze ihres Bruders über seinen Büchern baumeln sehen.

Wie gern wäre sie zu ihnen gegangen und hätte sie umarmt. Aber Petra war nicht länger Petra. In ihr tobte ein Konflikt, der nicht von ihr allein kontrolliert werden konnte. Man hatte ihr die Erlaubnis gegeben, ihre Familie bei ihren abendlichen Unternehmungen zu beobachten, aber mehr auch nicht. Sie durfte sich ihr nicht zeigen oder sie von ihrer Gegenwart unterrichten.

Als sie sich genug gequält hatte, glitt Petra an der Wand hinab, durchquerte den müllübersäten Hinterhof, stieg über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Sie putzte sich gerade die Hände mit einem Taschentuch ab, als neben ihr eine Gestalt auftauchte. Petra holte erschrocken Luft und trat ein paar Schritte zurück.

»Was zum Teufel machen Sie da?« fragte jemand mit einem amerikanischen Akzent.

Petra schluckte. »Lieutenant Peters?« Wut verdrängte den Schrecken. »Sind Sie mir gefolgt?«

»Ja, und ich habe nicht vor, mich dafür zu entschuldigen«, sagte Dave. »Ich wollte herausfinden, auf was mein Kumpel sich da eingelassen hat…«

»Wir können hier nicht sprechen«, sagte sie, und ging an ihm vorbei auf die Nebenstraße. »Lassen Sie uns irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.«

»Ich würde gerne wissen, ob…«

»Nicht jetzt«, fuhr sie ihn an und ging weiter.

Daves Kopf zuckte zurück, aber er folgte ihr schweigend und hielt mit ihrem Tempo Schritt, bis sie an der Hauptstraße angelangt waren. Petra winkte ein Taxi heran und stieg ein. Er setzte sich neben sie. Sie nannte dem Fahrer eine Adresse am Nordufer des Flusses. Zehn Minuten später deutete Petra auf ein Cafe an der Ecke von The Strand.

»Dort«, sagte sie beiläufig.

Als sie saßen und jeder eine Tasse Kaffee vor sich stehen hatte, sagte sie: »Nun, was wollten Sie über mich wissen? Ich bin mir nicht sicher, ob Sie überhaupt berechtigt sind, irgend etwas zu erfahren, aber wenn Sie höflich fragen, werde ich Ihnen vielleicht antworten.«

Er starrte sie mit seinen sachlichen Blick an. »Zuerst möchte ich wissen, welches Interesse Sie an Danny haben.«

»Ich dachte, das wäre offensichtlich. Ich bin in ihn verliebt. Er ist ein wunderbarer Mensch.«

»Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Was? Daß Danny ein wundervoller Mensch ist?«

»Nein, daß Sie ihn dafür halten.«

Petra nippte an ihrem Kaffee und lächelte. »Sie meinen also, ich könnte jeden haben, den ich wollte, und verstehen nicht, weshalb ich mir einen kleinen, kahlen Mann mit einem Hang zu Prostituierten und zum Beichten ausgesucht habe?«

Dave hob die Augenbrauen und nickte dann langsam. »Ja, so ungefähr.«

»Nun, Lieutenant Peters, die Wahrheit ist, daß Menschen wie ich, Menschen von einer seltenen Schönheit – und ich hege in bezug darauf keine falsche Bescheidenheit – sehr oft einsam sind. Wir sind schön, aber allein, und sehnen uns wie alle anderen nach einer engen Beziehung zu jemandem, den wir als Seelengefährten betrachten. Sie können es glauben oder nicht, aber Danny und ich sind Seelengefährten. Mich kümmert es nicht im geringsten, wie er aussieht; das ist für mich nicht wichtig. Wäre mir nach einem schönen Knaben oder einem Muskelmann gewesen, hätte ich mir eines von den männlichen Models nehmen können, mit denen ich zusammenarbeitete. Aber sie waren gewöhnlich im Kopf so leer wie Schaufensterpuppen und kamen deswegen für mich nicht in Frage. Danny ist genau das Gegenteil. In seinem Kopf wimmelt es von klugen Gedanken. Nun, macht das Sinn, oder nicht?«

»Bis zu einem gewissen Grad schon, nur würde ich Danny nicht gerade als faszinierende Persönlichkeit bezeichnen.«

»Weil Sie ein Mann sind, und noch dazu nicht einmal ein sehr spiritueller Mann.«

Dave machte einen mißmutigen Eindruck. »Das nehme ich Ihnen übel.«

»Sie können es mir übelnehmen«, sagte Petra, »aber es stimmt. Verglichen mit Danny, der ein sehr spiritueller Mann ist, haben Sie in der Beziehung nur wenig zu bieten. Ihr Spitzname Mutter Teresa erscheint mir unpassend. Sie sind praktisch veranlagt, vermutlich freundlich und großzügig, und ich weiß, daß Sie intelligent und manchmal auch emotional sind: aber Sie sind nicht spirituell – wenigstens nicht sehr tief. Ich möchte nicht das Wort flach benutzen, weil es der falsche Begriff ist, aber Ihre Tiefen sind keineswegs metaphysisch.«

Das kränkte Dave. Er hielt sich für genauso spirituell wie seine Mitmenschen. Vielleicht hatte er in geistigen Dingen nicht viel Übung oder schenkte ihnen zuwenig Aufmerksamkeit, aber er war davon überzeugt, daß er nicht weltlicher war als Danny.

»Sie nennen mich wegen meiner Integrität Mutter Teresa«, sagte er förmlich, und fragte sich, wann eigentlich das Verhör eine Wende genommen hatte.

Sie seufzte. »Sie verstehen wirklich nicht, was ich, was die meisten Menschen, mit dem Wort spirituell meinen, nicht wahr? Sie können nicht einfach spirituell sein, sie müssen üben, lernen, um es zu werden. Wie oft waren Sie in den letzten zehn Jahren in einer Kirche?«

»Woher wollen Sie wissen, daß ich ein Christ bin?« schnappte er. »Vielleicht bin ich Buddhist?«

»Und wie oft meditieren Sie täglich? Wie oft beschäftigen Sie sich mit spirituellen Angelegenheiten? Ich werde es Ihnen sagen. Nicht ein einziges Mal. Sie denken viel, aber Sie meditieren nicht.«

»Sie glauben, einiges über mich zu wissen.«

»Ich weiß nicht sehr viel über Sie, Lieutenant Peters, aber soviel weiß ich.«

Dave schwieg. Ihn ärgerte die Tatsache, daß sie wahrscheinlich recht hatte. Wenn der Geist einem Muskel ähnelte, der trainiert werden mußte, um sein volles Potential zu erreichen, dann lag Danny einige Blocks vor ihm.

»Okay«, sagte Dave nach einer Weile mit ruhiger Stimme. »Sie haben mir erklärt, weshalb Sie in Danny verliebt sind und weshalb mir das richtige Verständnis fehlt. Jetzt hätte ich gern gewußt, weshalb Sie über Zäune klettern und auf Fenstersimsen hocken. Sind Sie ein Voyeur?«

Diesmal hatte er ins Schwarze getroffen. »Wie können Sie es wagen? Glauben Sie, es würde mich anregen, wenn ich zuschaue, wie andere sich lieben? Das ist widerlich!«

»Lady, Spannen ist in der Stadt, aus der ich komme, nur eine harmloses Delikt. In die echt ekelhaften Sachen sind verdorbene Erwachsene mit einem Haufen Instrumente verwickelt. Einfach nur schauen ist Kindergartenkram – du zeigst mir deins, ich zeig dir meins, so ähnlich.«

Petras Nasenflügel bebten, ihre Augen wurden schmal. »Ich habe nicht auf dem Fenstersims gehockt, sondern auf einer Trennmauer; und ich habe meine Familie beobachtet.«

Seine Pupillen weiteten sich ein wenig. »Familie? Sie sind verheiratet?«

»Mit Familie meine ich meine Mutter, meinen Vater und meinen Bruder.«

Ein schmutziger Gedanken, sickerte durch Daves Gehirn. Er verdrängte ihn rasch. Er hatte sich bereits mehrmals in dieser Frau geirrt, und er wollte keine weiteren Vorurteile produzieren.

»Okay«, sagte er. »Aber warum wollten Sie Ihre Eltern sehen, ohne von ihnen gesehen zu werden? Hat Ihr Vater Sie rausgeworfen und Sie davor gewarnt, die Schwelle noch einmal zu übertreten? Oder vielleicht ist es ja auch Ihre böse Stiefmutter, die Sie loswerden will?«

Die Trauer in ihren Augen ließ ihn seine Worte bereuen. »Nein«, sagte sie. »Weder noch. Meine Familie hält mich für tot. Es ist wichtig, daß sie es weiterhin glaubt, obwohl ich wünsche, es wäre nicht so. Mehr brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Es ist nichts Schreckliches an dem, was ich mache. Ich meine, es ist schrecklich, daß sie denken, ich sei tot, aber ich möchte nicht aus egoistischen Gründen, daß sie es weiterhin glauben. Im Augenblick ist es für mich wirklich unmöglich, sie aufzuklären.«

Dave, der zahllose Männer und Frauen kennengelernt und manchmal auch verhaftet hatte, die unter die Rubrik ›vermißt, wahrscheinlich tot‹ gefallen waren, merkte, daß eine weitere Befragung Petras zwecklos war.

Die Situation kam ihm bekannt vor. Er hatte junge Menschen gekannt – vielleicht mehr Mädchen als Jungs –, die von zu Hause fortgelaufen waren, aber gelegentlich bei ihren Eltern anriefen, um deren Stimme zu hören, ohne daß diese sie hörten oder wußten, wo sie sich aufhielten. Familien sind Kontrollinstrumente; einige Familien kontrollieren stärker als andere. Sobald man der Kontrolle der geliebten Menschen entkommen war, wollte man außerhalb des Einflußbereiches der Manipulation seiner Familie bleiben, obwohl man sie liebte. Vielleicht rief man deshalb an, ohne etwas zu sagen, oder spähte durch ein Fenster, um zu sehen, wie sie ohne einen lebten. So war die menschliche Natur. Man wollte die Sicherheit, eine Familie zu haben, ohne ein Teil von ihr zu sein; ohne daß einem jemand sagte, was man tun sollte.

»Okay, ich geb’ auf«, sagte Dave. »Vergessen wir’s.«

Sie lächelte. Endlich hatte er verstanden.

Auf dem Rückweg ins Hotel ließ Petra etwas in Daves Hand gleiten; einen Anhänger an einer silbernen Kette. »Falls mir etwas zustoßen sollte, geben Sie das bitte Danny«, sagte sie.

Dave starrte auf den Anhänger und hob die Schultern. »Natürlich«, sagte er, »warum nicht?«

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