KAPITEL VIERUNDDREISSIG




An diesem Morgen waren schwere Schauer über der Stadt niedergegangen und hatten die Kakerlaken in die Gullys geschwemmt, was Manovitch schade fand. Die Tiere hatten die Menschen in Trab gehalten und von den Gedanken an Teufelsverfolgungen abgelenkt. Jetzt waren die schwarzbraunen Käfer wieder dort, wo sie hingehörten, in den Kloaken.

Manovitch wußte, daß man ihn zum Fluß trieb. Er hätte sich jederzeit umwenden und seinen Treibern stellen können, die versuchten, ihn wie einen Leoparden ins offene Gelände zu scheuchen. Aber sein Instinkt riet ihm zu gehen, wohin sie ihn trieben, denn er wußte, daß Peters dort auf ihn wartete. Er würde seinen Körper in Stücke reißen.

Der bedauernswerte Überrest des ursprünglichen Stan Gates führte Manovitch über die Dachfirste in Richtung Battersea-Krematorium. Dabei stellte Manovitch fest, daß die Straßen unter ihm menschenleer waren. Ab und zu entdeckte er einen Mann oder eine Frau, die ihn aus einer ihrer Meinung nach sicheren Entfernung beobachteten. Über ihm brummte ein Hubschrauber, vermutlich ebenfalls zu seiner Beobachtung. Hin und wieder fuhr ein Wagen durch die Gegend.

Manovitch lächelte angesichts dieser albernen Possen. Er wußte, daß er jederzeit Gates’ Körper töten und der Erde entfliehen konnte. Dazu brauchte er sich nur von einem Dach zu stürzen. Offensichtlich hofften sie, ihn verbrennen zu können. Aber zuerst einmal mußten sie ihn fangen. Klar, sie könnten versuchen, ihn zu vernichten, seine Seele mit ihren Feuerwaffen in Gates’ Körper einzusperren. Aber Manovitch war nicht sicher, ob die Spezialwaffen seinen Geist vernichten konnten.

Auf dem Towergelände hatte diese Frau auf ihn geschossen und verfehlt. Die Flammen hatten lediglich einen Arm angesengt. Es war ein ganz normaler Schmerz gewesen, wie ihn Sterbliche spüren, kein Schmerz, wie ihn heiliges Feuer bereitete: sein Geist war nicht verdorrt. Manovitch glaubte, daß er, wenn auch nicht sein Körper, vor diesen Waffen sicher war.

Er blieb im Schutz eines mit Utensilien zum Fensterputzen vollgestopften Dachverschlages stehen. Der Weg vor ihm schien frei zu sein. Er würde bald auf den Boden zurück müssen, was ihm ein wenig Sorgen bereitete. Zwischen dem Gebäude, auf dem er sich befand, und dem Dach des Krematoriums klaffte eine riesige Lücke, die auch ein ausgezeichneter Sportler nicht mit einem Sprung überwinden konnte. Also flog er wie eine Fledermaus.

Der Hubschrauber drehte ab und steuerte das gegenüberliegende Ufer an. Manovitch landete auf dem Krematorium. Eine Polizistin, die ihn von der Erde aus beobachtete, schrie erschreckt auf, als er wie eine Krabbe an dem Gebäude hinunterlief und aus fünfzehn Meter Höhe auf sie sprang, wobei er ihren Körper als Sprungkissen benutzte. Die Wucht des Aufpralls brach ihr das Genick. Das Funkgerät, in das sie gerade noch geschrien hatte, fiel ihr aus der Hand und glitt klappernd in den Rinnstein.

Manovitch schleuderte ihren Körper zur Seite und murmelte: »Das sollte sie lehren, Abstand zu halten.«

Dann stürzte er die Stufen hoch und sprang durch ein Fenster, wobei er sich mehrere Fleischwunden zufügte. Als er mit den Füßen zuerst in der Krematoriumskapelle landete, feuerte jemand aus dem Schatten auf ihn. Das Geschoß schlug in der Wand hinter ihm ein. Flammen schlugen aus dem Putz und versengten seinen Rücken. Aber er empfand nur körperlichen Schmerz. Er hatte recht gehabt.

Er nahm einen Messingteller von einem in der Nähe stehenden Tisch und warf ihn wie einen Diskus in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war. Ein Mann schrie auf und fiel aus dem Schatten, den Teller zu einem Viertel in seiner rechten Schulter vergraben. Als er auf den Boden aufschlug, löste sich der Messingteller und rollte unter lautem Geklapper schwankend wie eine Münze vor die Altarstufen.

Manovitch wußte, daß sich noch andere Menschen in dem Krematorium befanden und nur darauf warteten, daß er sich zeigte. Er schlich zum zentralen Bereich des Gebäudes und fragte sich, wo seine Beute stecken könnte. Er war hierhergekommen, um Peters aufzuspüren – nicht, um diese anderen Sterblichen zu töten. Hier gab es eine offene Decke mit Dachsparren aus Hartholz. Manovitch kletterte die Wand hoch und kroch spinnengleich zwischen den Sparren herum. Seine Feinde hielten immer noch auf dem Boden nach ihm Ausschau, nicht wissend, daß er sich jetzt über ihnen befand und auf sie hinunterstarrte.

Nachdem er Stan Gates’ herumschweifende Gedanken untersucht hatte, war er zu dem Schluß gekommen, daß man versuchte, ihn in den Verbrennungsraum zu locken. In einem Krematorium wurden Leichen eingeäschert. Weshalb also sollten sie ihn in ein Krematorium locken, wenn nicht, um ihn zu verbrennen? Peters mußte sich in der Nähe der Öfen befinden.

»Asche zu Asche«, murmelte Manovitch.

Er machte sich ein Bild von den Schlupfwinkeln und Verstecken, die das Gebäude bot, sondierte das Dunkel mit seinen scharfen Augen. Die Dunkelheit war seine Stärke. Er spürte die Schatten, die sich in ihr verbargen, sah sie mit seinem geistigen Auge, wie eine Ratte in einer Kloake, eine Schlange in ihrer Grube, ein Dämon im Höllenschlund.

Hier verbargen sich einige Männer, aber nicht der Mann, den er suchte.

Etwas stimmte nicht. Es war an der Zeit, daß man ihn herausforderte, zu den Öfen lockte. Peters hätte sich mittlerweile zeigen und als Köder anbieten sollen. Manovitch sollte ihm blind nachjagen und ihn angreifen, um sich dann in einem Verbrennungsofen wiederzufinden, den man per Fernbedienung einschalten würde.

Aber Peters war nicht zu sehen.

Manovitch blieb stehen und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Blut tropfte aus seinen Wunden auf den Boden. Von seinem vorteilhaften Posten aus konnte er durch eines der Fenster auf den Fluß hinausschauen. Ein Mann stand dort auf einer Art Floß oder Kahn. Peters.

Da ist er also, dachte Manovitch mit Genugtuung. Sie versuchen, mich ins Freie zu locken.

Peters stand an einem Ende des Kahns und studierte das Krematorium.

Er weiß, wo ich bin, dachte Manovitch. Interessant.

Dann dachte er darüber nach, wie er zu Peters gelangen konnte, ohne verletzt zu werden. Wenn er den Kahn erreicht hatte, war alles weitere nur noch ein Kinderspiel. Er würde Peters töten und seine Seele mit zu den Schlachtfeldern von Armageddon nehmen, um ihn dort vollständig zu vernichten.

Jetzt ging es einfach nur darum, dorthin zu gelangen, wo sein Widersacher auf ihn wartete, ohne verfolgt und unter Beschuß genommen zu werden. Er sorgte sich nicht so sehr um sich selbst, sondern mehr um den Körper, den er benutzte und der beschädigt werden konnte.

Es schien nicht so leicht zu sein, an Peters heranzukommen.

Da suchte Manovitch seine Feinde mit der neunten Plage heim.


Nun sprach Jahwe zu Mose: ›Strecke deine Hand gegen den Himmel aus, und es wird eine Finsternis über das ganze Land kommen, daß man die Finsternis wird greifen können.‹ Da streckte Mose seine Hand gegen den Himmel aus, und es entstand in ganz Ägypten eine dichte Finsternis…*


Dave hatte gerade mit Lloyd telefoniert, als es geschah.

Plötzlich stürzte London in den Wahnsinn; in eine dicke, klebrige Dunkelheit, die sich auf Daves Haut wie dickflüssig ges Öl anfühlte. Er geriet in Panik bei dem Gedanken, nicht mehr atmen zu können, und wollte nur noch eines: von dem Kahn herunter, auf dem er stand. Er stand kurz davor, verrückt zu werden, als ihm die neunte Plage einfiel.

»Verdammt.« Dave blieb stocksteif stehen. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Er wußte nicht genau, was unter dem Stroh lag, aber er konnte es sich denken. Es wäre nicht gut für ihn, im Dunklen auf dem Lastkahn herumzustolpern. Er mußte versuchen, einen kühlen Kopf zu behalten, was unter diesen Umständen nicht leicht war.

»Mutter Teresa«, sagte er, »sie haben mich nach dir benannt. Du warst immer eine ruhige, gelassene Lady. Ich brauche dringend deine Hilfe.«

Durch die dichte Dunkelheit drangen vom Ufer Geräusche zu ihm. Er hörte gedämpfte Stimmen. Lichter gingen an. Auf den Polizeibooten zu beiden Seiten des Flusses wurden Suchscheinwerfer angeschaltet und auf den Lastkahn gerichtet. Andere Scheinwerfer – wahrscheinlich jene, die normalerweise die Royal Festival Hall beleuchteten – strahlten auf, Brücken- und Straßenlaternen gingen an. Aus den umliegenden Gebäuden drang gedämpftes Licht.

Normalerweise strahlten die Scheinwerfer sehr hell, aber jetzt schafften sie es kaum, die dichte Dunkelheit zu durchdringen. Sie warfen blaßgelbe Strahlen über das Wasser, wie hinter Gewitterwolken verborgene Monde. Das Licht des Erzengels war nur noch ein trübes Glühen. Es glich einer niedergestreckten Sonne, die kein Licht mehr über den Fluß warf.

Dave versuchte über das Handy, Kontakt mit dem Erzdiakon aufzunehmen. »Sind Sie da, Lloyd?«

Er hörte nur ein Knacken. Offenbar wurden die Funkwellen von der Dunkelheit überlagert. Als letztes hatte Lloyd ihm mitgeteilt, daß Manovitch sich im Krematorium befand. Die tote Seele hatte einen Menschen getötet und einen anderen ernsthaft verletzt. Dann hatte man seine Spur verloren. Man vermutete, daß er wieder auf die Dächer geflüchtet war, aber niemand wußte es mit Sicherheit.

Dave klappte das Handy wütend zusammen und steckte es in die Tasche. Nun, wenn Manovitch überhaupt irgendwo war, dann auf dem Weg zu mir, dachte er.

Ein Hubschrauber kam mit trüben glühenden Scheinwerfern von Westen her über den Fluß. Er flog nur wenige Meter über dem Wasser und bewegte sich langsam, fast vorsichtig. Dave tröstete sich mit dem Gedanken, daß diese Maschinen gute Radargeräte besaßen und auch in vollkommener Dunkelheit ihren Weg finden würden. Sie schwebten wie mechanische Fledermäuse durch dieses Meer der Dunkelheit. Lloyds Männer würden zweifellos auch andere Geräte wie Nachtsichtgeräte einsetzen.

Dann versuchte Dave sich vorzustellen, was Manovitch tun würde.

Natürlich würde er sich die Dunkelheit zunutze machen. Aber wie? Würde er zum Lastkahn fliegen? Nein. Damit würde er seinen verwundbaren irdischen Körper nur als Zielscheibe anbieten. Wahrscheinlich würde Manovitch bis zum Lastkahn tauchen, während die Polizei den Himmel nach ihm absuchte.

Dave lauschte. Das Warten war eine Qual. Er bemühte sich, die Dunkelheit zu durchdringen, zu sehen, ob sich die Wasseroberfläche kräuselte. Ihm war, als befände er sich in einer Taucherkugel auf dem Meeresboden und starre in eine Dunkelheit, die nur von Nachtleuchten erhellt wurde. Nichts. Er konnte weder etwas sehen noch hören. Er konzentrierte sich stärker.

»Sind Sie noch da, Dave?«

Dave wäre vor Schreck fast über Bord gegangen. Lloyd benutzte das Megaphon eines der Polizeiboote.

»Rufen Sie mich an, Dave.«

Dave zog das Handy aus der Tasche und stellte fest, daß er vergessen hatte, nach dem letzten Anruf den Trennknopf zu drücken. Wahrscheinlich hatte Lloyd versucht, ihn zu erreichen. Nachdem er den Knopf gedrückt hatte, klingelte das Telefon. »Lloyd?«

»Am Apparat. Wir haben das Signal verstärkt, um durchzukommen. Eine schöne Bescherung, nicht wahr? Ich denke, wir hätten so etwas voraussehen sollen. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Im Augenblick, ja«, sagte Dave, während er sich nervös umschaute, »aber unser Freund muß auf dem Weg zu mir sein. Haben Sie an die Möglichkeit gedacht, daß er die ganze Strecke tauchen könnte?«

»Hören Sie zu«, sagte Lloyd. »Bleiben Sie in Kontakt. Seien Sie bereit.«

»Bereit für was? Was ist los, Lloyd?«

Einen Augenblick hörte er nichts, dann sagte Lloyd. »Es würde Sie viel zu nervös machen, wenn ich es Ihnen sagte. Glauben Sie mir. Es kommt jetzt auf jede Sekunde an, und ich möchte nicht, daß Sie durch Panik Zeit verlieren. Es ist ein guter Plan. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Würde ich auch nicht, wenn Sie mir sagen würden, was los ist«, schrie Dave. »Dann wüßte ich genau, was zu tun ist. Verflucht, wie soll der Plan funktionieren, wenn alles dunkel ist?«

»Die Männer im Hubschrauber können noch sehen.«

»Oh, ich nehme an, ich soll mich darüber freuen, oder?«

Lloyd seufzte hörbar. »Wir passen auf Sie auf, Mann, keine Sorge.«

»Ist das ein offizielles oder ein privates Versprechen?«

»Das Versprechen eines Freundes«, erwiderte Lloyd.

»Okay. Ich will Ihnen vertrauen. Ich muß Ihnen vertrauen. Warten Sie, ich höre jemanden…«

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