KAPITEL VIERUNDZWANZIG




Lloyd Smith hatte vor dem British Museum eine nette Frau getroffen, der seine Begleitung angenehm zu sein schien, und er fühlte sich bedeutend besser, persönlich und was die Welt allgemein betraf. Sein scharfer analytischer Verstand, jetzt von privaten Sorgen unbehindert, beschäftigte sich wieder mit dem Problem des Erzengels. Wie es aussah, strich Manovitch noch immer in der Stadt herum. Petra hatte ihm erklärt, daß der Erzengel Manovitch immer noch spüren konnte. Folglich kam Lloyd zu dem Schluß, daß die Kreatur, die Körper und Verstand seines Neffen in Besitz genommen hatte, nicht Manovitch gewesen war, sondern wahrscheinlich ein aus der Kontrolle geratener Dämon. In der Regel machten Dämonen nicht viel Aufhebens, da sie ständig auf der Flucht waren; Deserteure, die sich nicht nur vor dem Zorn Satans, sondern auch vor der Gerechtigkeit der Engel versteckten.

Während er mit Petra am Nordufer der Themse entlangspazierte, dachte er über ihren nächsten Zug nach. »Der Verlust von Danny Spitz ist Lieutenant Peters recht nahegegangen, Petra. Er wird für heute zurückerwartet, nicht wahr? Ich frage mich, ob wir ihn nicht vom Dienst suspendieren sollten. Seine Gegenwart hat Manovitch nicht aus seinem Versteck gelockt, und ich habe das Gefühl, als würden wir ihn überflüssigerweise als Köder benutzen.«

Petra schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir sollten ihn hierbehalten. Ich habe das Gefühl, als würde unter der Oberfläche etwas brodeln. Etwas, das nicht ganz so ist, wie es scheint.«

Lloyd blieb stehen und schaute sie an. »Können Sie mehr ins Detail gehen?«

Petra schüttelte abermals den Kopf. »Ich glaube nicht, daß Danny tot ist. Ich habe zwar keinen einzigen Beweis, aber ich habe in Ihrem Namen um eine Passagierliste des Fluges VA765 gebeten. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Sie geben nur Listen heraus, wenn eine Autorität hinter der Bitte steht.«

»Kommen Sie, setzen wir uns auf diese Bank«, sagte Lloyd. »Ich mag Whitehall Gardens. Sie auch? Die Blumenbeete sind stets so kunstvoll gestaltet… Nun, Sie glauben also, daß Spitz noch lebt, daß er sich nicht im Flugzeug befand. Aber Sergeant Gates sagte, er habe ihn zum Flugzeug gebracht.«

»Das ist nur so eine Phrase. Ich meine, er ist doch bestimmt nicht mit Danny bis zum Flugzeug gegangen. Er hat ihn an der Paßkontrolle zurückgelassen. Und irgendwo zwischen der Paßkontrolle und dem Betreten des Flugzeugs ist Danny fortgeschafft worden.«

»Sind Sie sicher, daß eine fremde Macht darin verwickelt ist? Kann er nicht einfach aus eigenem Antrieb davonspaziert sein, verärgert über den Befehl des Lieutenants, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren? Immer vorausgesetzt, Sie haben mit Ihrer Vermutung recht, daß er sich nicht im Flugzeug befand.«

Petra starrte auf ihre Füße. »Wenn es Danny möglich gewesen wäre, hätte er bereits vor Zeiten mit mir Kontakt aufgenommen. Aber er tat es nicht. Deshalb kann ich nur vermuten, daß er irgendwo gegen seinen Willen festgehalten wird. Ich bin sicher, daß er noch lebt. Der Erzengel zählt ihn nicht zu den kürzlich… im Himmel angekommenen Seelen.«

»Nun, ich nehme Sie beim Wort, daß er nicht einfach irgendwohin verschwunden ist.«

Plötzlich stand Petra mit angstverzerrtem Gesicht auf. Lloyd wäre fast das Herz stehengeblieben. Er entnahm ihrem Gesichtsausdruck, daß gleich etwas geschehen würde; etwas Schreckliches. Sollten sie fortlaufen?

»Was ist los?« rief er und sprang auf. »Was geschieht?«

Petra schaute umher, als wittere sie etwas in der Luft und sagte dann: »Laufen Sie, Lloyd. Wir beide müssen von hier verschwinden. Wir alle.« Sie schrie den Vorübergehenden zu: »Verschwinden Sie! Verschwinden Sie!«

Lloyd packte sie am Arm und zerrte sie mit sich. Er wußte nicht, in welche Richtung er laufen sollte. Er entschloß sich für das Themseufer. In der Nähe gab es eine Treppe, die zu dem Kai führte, wo die Touristenboote nach Kew Gardens vor Anker lagen. Petra rief den Menschen zu, sie sollten aus der Nähe der riesigen Whitehall-Gebäude verschwinden; Menschen, die stehengeblieben waren, um sie anzustarren, und sich fragten, was ihnen diese merkwürdige Frau sagen wollte. Einige entschlossen sich fortzulaufen. Sie hatten Blut, Läuse, Frösche und Fliegen hinter sich gebracht und glaubten, die Aufforderung der Frau hätte etwas mit der nächsten Plage zu tun. Lloyd lief mit ihr die Treppe zum Kai hinunter, damit sie sich hinter der Mauer verstecken konnten, bevor das Gebäude explodierte oder was auch immer geschehen mochte.

»Ich weiß nicht, was passieren wird«, sagte Petra. »Ich weiß nur, daß mit diesem Ort etwas nicht stimmt.«

Kaum hatte Petra die Worte ausgesprochen, als ganz London innehielt. Genauer gesagt, alle motorbetriebenen Fahrzeuge, die in diesem Augenblick an Whitehall Gardens vorbeifuhren, kamen nach und nach zum Stillstand. Ein über die Hungerford Bridge fahrender Zug blieb unter viel Getöse stehen. Aber das Phänomen war nicht nur auf die Fahrzeuge beschränkt, die sie sehen konnten. Alle Privatwagen, Taxen, Lastwagen, Busse, Bahnen – kurz gesagt, alle Fahrzeuge in London – hatten ihre Energie verloren.

Fußgänger schauten sich verwundert um. Fahrer kletterten aus ihren Autos, kratzten sich verwirrt am Kopf und gestikulierten herum. Die Stadt war unheimlich still. Zum ersten Mal hatte das mächtige Herz der Stadt tatsächlich aufgehört zu schlagen. Lloyd, der Londoner, hatte sich noch nie so eigenartig gefühlt.

»Es hat angefangen«, sagte er, während er über die Straße lief.

»Ja«, erwiderte Petra.

Er drehte sich um und schaute sie an. »Sie wissen, wovon ich spreche?«

»Die fünfte Plage.«

»Das muß sie sein. Der Tod des Londoner Viehbestands würde kaum bemerkt, nicht wahr? In diesen Tagen hängen die Menschen natürlich von ihren Vehikeln ab. Vom Straßenverkehr, ihren Fahrzeugen. Aber was…?«

In diesem Augenblick ertönte über ihnen ein Kreischen. Lloyd sah, daß Petra blaß wurde. Dieses Geräusch, das aus dem Himmel drang, hatte nichts Menschliches an sich. Es war zu laut, zu schrill, in einer Tonhöhe, die gerade eben noch für das menschliche Ohr hörbar war. Das Kreischen verwandelte sich nach und nach in ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Lloyd starrte wild um sich, aber seine Sicht war auf einer Seite vom Themseufer behindert. Wurden sie von einem Engelgeschwader angegriffen? Oder von Dämonen, die sich walkürengleich aus den Wolken stürzten? Das ist das Ende der Welt, der Tag der Erlösung, dachte er, als das Gebrüll immer mächtiger wurde.

Aber es gab keinen Wind, kein Erdbeben, weder Feuer noch Flut; nur dieses furchtbare Geräusch.

Lloyd sprang die Stufen hoch, begierig zu sehen, wie der Herr die Welt durch seine Engel zerstört, ganz nach den Vorhersagen des Apostels Johannes. War das Geräusch der Trompetenschall der sieben Engel? Würde ein Drittel der Erde zerstört, ein Drittel der Wasser durch Wermut vergiftet, ein Drittel der Weltbevölkerung ausgerottet werden?

Das wollte er sehen: Gog und Magog, zweihunderttausend Reiter mit Brustpanzern aus Feuer, Hyazinth und Schwefel, mit Löwenköpfen und Feueratem. Er hätte gern einen Blick auf einen der rächenden Engel geworfen, in eine Wolke gekleidet, einen Regenbogen um den Kopf und die Sonne als Gesicht. Zweifellos waren die sieben Siegel zerbrochen.

Doch wo war der bodenlose Abgrund, wo waren die Wanderheuschrecken mit ihren Skorpionsstacheln, den Gesichtern von Männern, den Haaren von Frauen und den Löwenzähnen? Wo waren die Stimmen der Erde, Donner und Blitz? Wo war das große Tier mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern, der Reiter auf dem weißen Pferd, wo waren die blutigen Wasser? Er wollte sehen, er wollte Zeugnis ablegen.

Er sah nichts von alledem. Nur einen Stern, der zur Erde stürzte, einen großen Stern, der brennend vom Himmel fiel, als sei er eine Lampe im glühenden Sonnenschein. Aber sein Name war nicht Wermut, sondern Jumbo.

Lloyd konnte gerade noch seinen Kopf hinter der Dammbrüstung verbergen, bevor ein großes Flugzeug auf die Erde schlug, durch den St. James’s Park pflügte und mit einem fürchterlichen Getöse auf das Whitehall-Gebäude prallte. Die Explosion war so laut, daß Lloyd glaubte, sein Kopf würde zerspringen. Eine riesige Flammensäule schoß in den Himmel, höher als das höchste Londoner Hochhaus, und der Boden bewegte sich, als würde die Erde tatsächlich beben. Eine Welle aus Wasser und heißem Wind jagte den Fluß hinab. Boote wurden knarrend gegen die Kaimauer gedrängt. Brennende Metallteile wirbelten über Lloyds Kopf hinweg und landeten zischend in der Themse. Um ihn herum regnete es Trümmer auf das Wasser. Bei einigen handelte es sich um Stücke der Menschen, die entweder im Flugzeug gesessen oder im Whitehall-Gebäude gearbeitet hatten, bei anderen um Steine und Mörtel, Parkbänke, Abfallkörbe und zahllose weitere brennende Gegenstände.

Flammenzungen schossen über die Dammbrüstung und versengten Lloyds Haare. Petra, die ein wenig weiter unten kauerte, versuchte, den herumfliegenden Trümmern auszuweichen, die in der Luft pfiffen und sangen. Mehrere Autos waren über die Brüstung ins Wasser geschleudert worden und versanken nun im Fluß. Lloyd konnte die entsetzten Gesichter der Insassen sehen, die vergeblich versuchten, sich zu befreien.

Einer der riesigen Flugzeugmotoren schoß geradewegs über den Fluß wie ein Springstein und zerstörte auf der gegenüberliegenden Seite eine Reihe von Häusern. Er fuhr durch sie hindurch, als seien es Kegel, um dann weiterzuwirbeln und bei seinem Tanz einen Benzintank mitzunehmen, der sich in einer weiteren Explosion aus Flammen und Rauch auflöste.

Das südliche Ufer blieb nicht verschont.

Ein Stück des Flugzeugrumpfes raste über die Straße in Richtung Temple, ein außer Kontrolle geratener, zackenrandiger Schlitten. Er glitt durch Menschen, Laternenpfähle, Telegrafenmasten und ließ auf dem Bürgersteig die zuckenden Überreste von Tieren und Menschen hinter sich. Er schnitt Fahrzeuge durch, als seien sie weiche Früchte. Einen Doppeldeckerbus verwandelte er in zwei Busse. Im unteren Teil des ursprünglichen Busses hinterließ er die blutspritzenden Körper der enthaupteten Fahrgäste. Schließlich kam er an einer Bronzestatue zur Ruhe, die sich vornüberbeugte, als verbeuge sie sich höflich vor dem Urheber des Blutbades.

Man hörte Sirenen und Hörner und eine Kakophonie von Geräuschen. Menschen schrien; einige waren verletzt, andere standen unter Schock. Die Toten schwiegen.

Lloyd spähte vorsichtig über die Brüstung.

Ihm fehlten die Worte, um den Holocaust vor seinen Augen zu beschreiben. Ihm bot sich ein Bild totaler Zerstörung. Petra stellte sich neben ihn. Sie hörten zwei weitere, dicht aufeinanderfolgende Explosionen. Noch mehr Flugzeuge waren nach dem Eintritt in den Luftraum über der Hauptstadt abgestürzt, in der alle Maschinen ihre Energie verloren hatten. Ein Helikopter wirbelte über der Tower Bridge wie ein Platanensamen, krachte gegen die Brücke und verhedderte sich in den Trägern. Aus dem Cockpit stürzten kleine schwarze Gestalten ins Wasser.

»Warum wurden Heathrow und Gatwick nicht gewarnt?« schrie Lloyd. »Warum haben sie dem nicht Einhalt geboten?«

»Sie können es noch nicht wissen – es braucht Zeit.«

»Aber Sie wußten es doch«, sagte er in anklagendem Ton.

Sie starrte ihn an. »Ich wußte, daß etwas geschehen würde, aber ich wußte nicht, was. Ich hätte nie an ein Flugzeug gedacht. Sie?«

Lloyd schüttelte frustriert den Kopf. »Vermutlich nicht.

Oh, weshalb können wir nicht weiter sehen als bis zu unseren Nasen? Wir sind so beschränkt.«

Das Feuer vor ihnen wütete und brüllte. Im Herzen der Flammen fanden immer wieder kleinere Explosionen statt. Die Feuersbrunst drohte, sie zu versengen. Sie mußten sich in Richtung Big Ben zurückziehen, wo es nicht ganz so heiß war.

»Ich wußte erst, daß es die Motoren sein würden, als es soweit war«, sagte Petra. »Der Tod des Londoner Verkehrs…«

Lloyd seufzte. »Nun, das wird uns alle ein bißchen langsamer werden lassen, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob es sich als positiv oder negativ erweisen wird. Ich nehme an, es ist für Manovitch ein Vorteil – er ist in den Straßen um einiges schneller als wir.«

Ein Autofahrer stieg aus seinem Wagen, ging zur Themse und starrte ins Wasser, als würde er dort die Antwort auf die Frage finden, weshalb der Motor seinen Geist aufgegeben hatte. Seine Mitfahrer blieben, wo sie waren, zweifellos in der Hoffnung, daß, was immer auch mit der Welt nicht stimmen mochte, es sich wieder einrenken würde.

»Der Erzengel arbeitet doch durch Sie«, sagte Lloyd. »Sie sind doch seine Augen und Ohren, oder?«

Petras hatte die Lippen zusammengepreßt. »Ja. Aber er ist nicht allwissend. Er weiß ebensowenig wie wir, was Manovitch von einer Minute auf die andere unternimmt.«

»Und was ist mit Ihnen?« fragte Lloyd. »Haben Sie Ihren freien Willen verloren?«

»Wenn ich etwas sehe, sieht es der Erzengel auch. Das ist das Übernatürliche.«

Lloyd dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß es keinen Grund zu übertriebener Sorge gab. Wenn Petra beim Zusammentreffen mit Manovitch bei ihnen war, brauchten sie ihn vielleicht nicht selbst zu töten. Vielleicht würde der Erzengel es aus der Entfernung erledigen, von seiner stationären Position im Herzen Londons aus.

Eine Welle der Zärtlichkeit für Petra überschwemmte Lloyd. Er war ein Mann, der seine Unabhängigkeit stets verbissen verteidigt hatte. Er haßte den Gedanken, daß sich ein Sterblicher in der Gewalt eines übernatürlichen Wesens befand, selbst wenn dieses Wesen auf Gottes Seite stand. Die Liebe zum Geld steckte ihm in den Knochen, was, wie er wußte, manchen Menschen unangenehm aufstieß, aber abgesehen davon gab es wenig, was aufrichtig gesinnte Menschen an ihm kritisieren konnten. Im Grunde war er ein freundlicher, nachdenklicher Mensch. Er ertappte sich dabei, wie er die Hand ausstreckte und Petra spontan über die Haare strich, ohne daß es einem von beiden peinlich gewesen wäre.

»Wird der Erzengel Sie aus Ihrer Abhängigkeit befreien, wenn er wieder auf die Schlachtfelder von Armageddon zurückkehrt, meine Liebe?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, sagte Petra. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Hinter ihnen brannte es immer noch, züngelten weitere Flammen empor, aber das Feuer wütete nicht mehr so stark wie noch vor wenigen Minuten. Ein ausgebranntes Taxi, das von der ersten Explosion durch die Luft gewirbelt worden war, erinnerte an einen Schädel – den Schädel eines Gog oder Magog, mit leeren Augenhöhlen und verkohlten Zähnen.

Von dem in seinem Inneren gefangenen Fahrer war nichts zu sehen.

»Typisch. Sieht so aus, als wäre der Zähler das einzige, was noch intakt ist. Ich frage mich, ob er noch läuft?« sagte Lloyd in einem Anflug von schwarzem Humor.

Petra bedachte ihn mit einem Seitenblick.

Lloyd zuckte mit den Schultern. »Ja, ich weiß; ist ein wenig krank, aber die ganze Welt ist ein wenig krank, oder?«

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