KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
Als die Fahrzeuge die magische Linie, hinter der die Motoren den Geist aufgegeben hatten, wieder überqueren konnten, fuhr Dave nach London zurück. Auf dem Weg durch die Stadt war er erneut von der Schönheit des Lichtdoms angerührt. Ihm fiel auf, daß hier Schönheit mit Geld in Konflikt geraten war – die Zerstörung hatte im Finanzdistrikt stattgefunden –, und daß der Erzengel damit vielleicht auf etwas hinweisen wollte. Vielleicht wollte er sagen: das hier ist ein falscher Gott. Benutzt Geld als ein Mittel, um das Tauschen zu erleichtern, aber fangt nicht an, es um seiner selbst willen anzubeten.
Geld, das einen bestimmten Betrag überstieg, hatte stets Macht und Reichtum repräsentiert. Menschen mit Geld war oft eine gewisse Arroganz zu eigen; sie fühlten sich denen überlegen, die kein Geld besaßen. Manche hatten nie genug. Sie mußten mehr als genug haben, viel mehr. Und dann verwandelte es sich von einem Tauschmittel in ein Mittel der Kontrolle.
Dave wußte, daß seine Betrachtungen Gemeinplätze waren, aber es schmerzte nicht, daran erinnert zu werden, daß Geld letzten Endes nichts bedeutete; daß spirituelle, durch den Erzengel symbolisierte Dinge weit mächtiger waren.
Als Dave schließlich im Hotel eintraf, fand er Rajeb Patel und Stan Gates in der Lobby in einen hitzigen Streit verwickelt. Er ging zu ihnen.
»Was ist los?« fragte er.
Gates schaute ihn an, als wolle er ihm raten, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Aber dann veränderte sich seine Miene, und er lächelte. »Nicht viel, Dave. Da wir Danny sozusagen verloren haben, dachte ich, ich sollte Sie ab jetzt fahren. Aber mein Constable hier hat etwas dagegen. Ich werde schon damit fertig.«
Dave warf einen Blick auf Rajeb, der aussah, als würde er vor Wut kochen. Sein Gesicht war haßverzerrt. Daves Instinkt sagte ihm, daß es hier um mehr als eine Auseinandersetzung darüber ging, wer wen fuhr. Etwas Anderes, Tieferes, spielte sich zwischen den beiden Männern ab; etwas, das die Operation gefährden konnte. Dazu brauchte es Männer, die einander trauten, einander in einer brenzligen Situation bis zuletzt Rückendeckung geben würden. Dave wurde klar, daß Rajeb Patel seinen Sergeant ins Messer laufen lassen würde, ohne auch nur einen Finger zu rühren.
»Okay«, sagte Dave, »und jetzt erzählen Sie mir, was wirklich los ist.«
»Nichts«, sagte Gates kurzangebunden. »Als der für diese Operation zuständige Sergeant fühle ich mich berechtigt zu bestimmen, wer Sie durch die Stadt fährt. Was Patel angeht, so ist er der Meinung, ich hätte mich an seine Freundin herangemacht. Dabei bin ich nicht einmal in ihre Nähe oder in die Nähe seiner Wohnung gekommen. Er versucht, mir etwas anzuhängen, aber ich weiß nicht, wieso. Wenn Sie mich fragen, ich denke, er ist verdammt verdreht.«
»Du solltest dein dreckiges Maul halten. Das ist eine Sache, die nur uns beide angeht«, platzte Rajeb heraus.
Der junge Mann würde gleich explodieren und möglicherweise um sich schlagen. Dave legte ihm die Hand auf die Schulter. »Beruhigen Sie sich, sprechen Sie leiser und versuchen Sie ein wenig rational zu bleiben. Also, was zum Teufel ist hier los?«
»Ich glaube wirklich nicht, daß es Sie etwas angeht«, sagte Gates mit angespanntem Gesicht.
»Alles, was den Erfolg der Operation gefährden könnte, geht mich etwas an«, erwiderte Dave. »Sie haben etwas vergessen, Sergeant – ich bin für die Operation verantwortlich, nicht Sie. Ich bekomme meine Befehle von Smith und gebe sie an Sie weiter. Verstanden? Also drängen Sie mich nicht, oder Sie können wieder auf der Wache Dienst machen.«
Abermals war es, als zögen dunkle Wolken über Gates’ Gesicht. Dann waren sie fort.
»Ja. Ich habe es vergessen. Tut mir leid, Sergeant. Ich möchte mich entschuldigen. Ich denke, ich bin zu sehr daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Aber ich bin immer noch der Meinung, daß ich Sie fahren sollte.«
»Ich bin sehr zufrieden mit Patel. Und jetzt kein Wort mehr darüber«, sagte Dave.
Rajeb nickte und ging fort, um sich abzukühlen.
»Was ist denn mit Patels Freundin?« fragte Dave.
Gates zuckte mit den Schultern. »Wie ich Ihnen bereits sagte, ich weiß nicht, wovon er spricht. Vielleicht hat sie mich mit jemand anderem verwechselt. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals kennengelernt zu haben. Als ich durch die Tür kam, drehte er durch. Ich… ich bin ein wenig verwirrt.«
»Es wäre besser, wenn Sie in nächster Zeit nicht verwirrt wären«, sagte Dave. »Wenigstens nicht, solange die Operation läuft. Danach können Sie beide sich wegen mir in einer Gasse die Köpfe einschlagen. Doch bis dahin möchte ich nichts mit Ihren Privatangelegenheiten zu tun haben.«
»Ich bin immer noch der Meinung, ich sollte Sie fahren.«
Dave wußte, daß Rajeb es mißverstehen würde, wenn er jetzt dem Tausch zustimmte.
»Mir gefällt es, so wie es ist«, sagte er. »Ich denke, ich bin alt genug, um mir meinen Fahrer selbst auszusuchen.«
Der Sergeant nickte finster und ging in die entgegengesetzte Richtung wie Patel. Dave folgte dem Hoteldiener mit seinem Gepäck zum Aufzug.
Später traf er Lloyd Smith im Coffeeshop. Er sah viel besser aus als bei ihrem letzten Treffen. »Wie geht es Ihnen, Lloyd? Sie wirken irgendwie munterer.«
»Bin ich auch. Ich fühle mich gut, wie man so sagt.«
Die Kellnerin kam mit einer selbstgefälligen Miene an ihren Tisch. Sie zückte Bestellblock und Kuli und fragte Dave: »Hätten Sie gern kolumbianischen Kaffee, Sir?«
Dave schaute sie an. »Sie haben kolumbianischen Kaffee?«
»Extra für Sie bestellt«, sagte sie.
Ein warmes Glühen machte sich in ihm breit. »Gut, jetzt«, sagte er, »wird es hier beinahe zivilisiert. Ja, ich hätte gern kolumbianischen Kaffee…« Er schaute auf das Namensschild an ihrer Brusttasche, »Sylvia. Danke. Ich weiß Ihre Bemühungen sehr zu schätzen.«
»Und was möchten Sie, Sir?« fragte sie Lloyd.
»Ich werde ebenfalls kolumbianischen Kaffee versuchen, da er das Herzblut dieses Lieutenants zu sein scheint.«
»Stimmt.« Sie ging davon.
»Und wie war Ihr Urlaub?« fragte Lloyd.
»Gut, falls man es als Urlaub bezeichnen kann. Es war eher eine kurze Ruhepause.«
»Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Nachricht ist. Es betrifft Ihren Partner.«
»Danny?« Dave schaute hoch. Eine kleine Hoffnungsflamme flackerte in seinem Herzen auf.
»Wir wissen nicht, ob er noch lebt. Aber Petra hat um die Passagierliste der abgestürzten Maschine gebeten, und Dannys Namen war nirgendwo zu finden. Es ist natürlich möglich, daß er einen falschen Namen benutzt hat, aber ich wüßte nicht, weshalb er es getan haben sollte. Sie?«
Dave runzelte die Stirn. »Gates sagte etwas davon, daß Danny nach seiner Ankunft in den Staaten erst einmal für eine Weile untertauchen wollte. Es könnte sein, daß er einen falschen Namen benutzt hat, damit meine Abteilung seine Schritte nicht weiterverfolgen kann. Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Haben Sie die Liste schon durchgearbeitet?«
Lloyd nickte. »Vierhundert Passagiere. Davon gehörten dreihundertundsiebenunddreißig zu heterosexuellen Paaren oder Familien, dreißig zu gleichgeschlechtlichen Paaren, meistens junge Frauen. Dann gab es noch ein Sportteam von sechs Männern. Es waren nur siebenundzwanzig Singles im Flugzeug. Sieben Frauen, ein zwölfjähriges Kind, das seine Verwandten in den USA besuchen wollte, bei dem Rest handelte es sich hauptsächlich um Geschäftsmänner. Tatsächlich können wir alle Namen bis auf drei streichen: Alexander Ross, Werner Heizmann und J. Randolph Baker.«
»Falls Danny unter einem falschen Namen geflogen ist, dann wahrscheinlich unter letzterem. Er wollte schon immer gern einen eindrucksvollen Anfangsbuchstaben haben. Randolph? Klingt nicht nach Danny. Haben Sie die drei auf Alter und Beschreibung hin überprüft?«
»Wir sind noch dabei.«
Als der Kaffee kam, war Dave in der Lage, Sylvia ein strahlendes Lächeln zu schenken. Eine große Last war von ihm genommen worden. Es bestand die Möglichkeit, daß Danny von den Toten auferstanden war. Wunderbar. Plötzlich wirkte die Welt viel heller. Sylvia strahlte zurück. »Ihr Kaffee, Sir.«
»In den Staaten würde man Sie ein Klassemädchen nennen, Sylvia«, sagte Dave.
»Das können Sie hier auch, wenn Sie möchten«, sagte sie und ging lachend davon.
»Kolumbianischer Kaffee«, sagte Lloyd nachdenklich, als er an seinem Getränk nippte. »Was ist das Besondere daran? Ist er mit Kokain versetzt?«
»Nein. Es ist einfach nur reiner, köstlicher Kaffee«, erklärte Dave. »Genießen Sie ihn.«
»Also«, sagte Lloyd, um wieder zum Thema Danny zurückzukehren, »wie sieht es aus?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hat Danny einen anderen Flug genommen, in die Mongolei oder sonstwohin, oder er ist hiergeblieben und versteckt sich in London.«
»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Lloyd.
»Und die wäre?«
»Manovitch wurde nicht vernichtet und hat Danny in seiner Gewalt.«
Diese Möglichkeit hatte Dave bereits in Betracht gezogen. »Das ergibt keinen Sinn«, sagte er. »Es wäre ein unglaublicher Zufall, daß Manovitch gerade in dem Augenblick am Flughafen war, als Gates Danny zu seinem Flug brachte.«
Lloyd nickte. »Das stimmt, aber wir werden jeden, der zu diesem Zeitpunkt auf dem Flughafen etwas Ungewöhnliches bemerkt hat, bitten, sich zu melden. Wir werden das Flughafenpersonal befragen und einen allgemeinen Aufruf im Fernsehen ausstrahlen, um weiterzukommen. Man kann nie wissen.«
»Noch eines. Gates erklärte, er hätte Danny zum Flugzeug gebracht.«
»Er sagte, er hätte ihn am Ticketschalter zurückgelassen.«
Petra kam an ihren Tisch. Sie setzte sich und schenkte Dave ein Lächeln, das die Antarktis hätte schmelzen lassen.
»Die letzten Passagiere wurden gefunden. Keine der Beschreibungen paßt auf Danny.«
Dave boxte sich in die Handfläche. »Phantastisch. Trinken Sie einen Kaffee, Petra. Das ist großartig.«
Er stand auf, fuhr mit dem Aufzug auf sein Zimmer und rief Vanessa an.
»Gute Neuigkeiten«, sagte er. »Danny lebt.«
»Er hat den Absturz überlebt?« fragte sie entzückt.
»Niemand hat den Absturz überlebt. Er war überhaupt nicht im Flugzeug.«
»Aber Stan Gates…«
»Gates ließ ihn am Ticketschalter zurück. Er hat ihn nicht bis zum Flugzeug begleitet. Das ist verboten. Niemand ohne Flugticket darf in die Abflughalle.«
»Das stimmt. Also lebt Danny irgendwo? Wissen wir auch schon, wo?«
»Nein. Aber darüber mache ich mir im Augenblick keine Gedanken. Bruder Tuck kann auftauchen, wann immer es ihm gefällt, der alte Krieger-Priester. Mir geht es gut, Vanessa, sehr gut.«
»Das höre ich«, murmelte sie.
»Nun, ich hoffe, daß wir bald angemessen Wiedersehen feiern können.«
»Ich liebe dich, Dave – oh, wie sehr ich dich liebe. Du wirst nie, nie erfahren…«