KAPITEL DREIZEHN




Dave hatte sich angewöhnt, nachts aus dem Bett zu schlüpfen und durch die Straßen zu streifen. Er nahm an, daß Manovitch sich während der Nacht sicherer fühlte und sich deshalb zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang draußen herumtrieb. Also war es nur logisch aufzustehen und den Feind während der Stunden zu suchen, in denen dieser, gleichfalls auf der Suche, durch die Straßen strich.

In den letzten Tagen war London von Krankheiten heimgesucht worden, verursacht von jenem stinkenden Blut, das immer noch überall war. Die Krankenhäuser waren überfüllt. Viele der Eingelieferten waren bereits gestorben, weitere würden sterben. Es war eine abstoßende und heimtückische Art, eine Stadt zu terrorisieren.

Die heiligen Männer und Frauen hielten die Stellung, trugen immer noch ihre Differenzen am Konferenztisch aus, obwohl die Situation angespannt war und es jeden Augenblick zum Eklat kommen konnte.

Dave war froh, daß Vanessa nicht bei ihm war. Sie hatte schon vor langer Zeit eingesehen, daß er seine eigenen Arbeitsmethoden hatte und eine Einmischung in seinen Job als Polizist weder wünschte noch tolerierte. Obwohl sie sich schon seit Jahren kannten, gestanden sie einander Unabhängigkeit zu. Doch er wußte, daß Vanessa im Bett liegen und sich bis zu seiner Rückkehr Sorgen machen würde, sobald er sich aufmachte, um durch die Straßen zu streifen.

Zwei Nächte nachdem der letzte Tropfen Blut vom Fluß ins Meer geströmt war, nahm Dave die Suche wieder auf und spazierte um zwei Uhr morgens eine Straße in Kensington entlang. In London wurde es nie richtig dunkel, da das Licht des Erzengels wie eine riesige Lampe wirkte. Dave hatte festgestellt, daß man nachts schneller vorankam als tagsüber, weil um diese Zeit die Straßen und Bürgersteige menschenleer waren. Kensington schlief. Dave hörte nur seine eigenen Schritte auf dem Pflaster.

Schatten jagten einander in den schmalen Gassen, wo Obdachlose auf ihren Kartonmatratzen lagen, die mit Zeitungen und zerschlissenen Decken bezogen waren. Katzen und ein oder zwei streunende Hunde bewegten sich, als seien sie Teil der Dunkelheit und zogen auf der Suche nach weggeworfenen Essensresten von einem Mülleimer zum anderen. Gelegentlich kam ein Mann oder eine Frau oder ein Paar die Straße entlang; Menschen, die auf dem Weg zu einer Party oder auf dem Nachhauseweg waren. Polizeiwagen fuhren mit hoher Geschwindigkeit vorüber, um über die Stadt zu wachen.

Da er nicht wußte, wo er suchen sollte, suchte er überall, in der Hoffnung, etwas Ungewöhnliches zu sehen. Um zwei Uhr dreißig kam Wind auf, spielte mit dem Abfall und ließ ihn wie zum Leben erwachte Geschöpfe über das Pflaster tanzen. Bäume raschelten mit ihren Blättern, Äste knarrten. Hinter einer Wolke tauchte die Mondsichel auf, vom Licht des Erzengels zu blassem Silber gebleicht. Alles war überaus normal, überaus gewöhnlich.

Dave seufzte und ließ für ein paar Minuten seine Gedanken schweifen. Er sann über die Absurdität der Aufgabe nach, die man ihnen zugewiesen hatte. Da war er, hing abends in einem Hotel herum und fuhr tagsüber durch die Straßen, um nach jemandem Ausschau zu halten, den keiner von ihnen kannte. Da war Danny, der – betört von einer seltsamen Frau – glaubte, schließlich doch noch die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Und was war mit diesem Lloyd los, der von Tag zu Tag ängstlicher und nörgeliger wurde? Es war ein einziges Durcheinander, und es gab keine Möglichkeit, es zu sortieren.

Ein Kieselstein traf Daves Rücken.

Woher stammte er? Hatte ein Vogel ihn verloren? Normalerweise fliegen nachts keine Vögel.

Dave schaute hoch und musterte die Fenster und Simse über ihm. Alles wirkte friedlich. Plötzlich kam es ihm so vor, als hätte er etwas gesehen; eine dunkle Gestalt, die über die Dachfirste kroch. Ein Mensch? Dave verbarg sich in einem Ladeneingang und starrte auf die gegenüberliegenden Dächer. Ja! Da war die Gestalt wieder. Sie glitt lautlos über die Dachziegel und sprang über eine Brüstung. Jetzt war sie auf dem Flachdach eines Geschäfts.

Dave überlegte, ob er sie verfolgen sollte, entschied sich aber dagegen. Nicht, weil er sich um seine persönliche Sicherheit sorgte, obwohl er auch daran dachte, sondern weil die Möglichkeit bestand, daß er seine Beute aus den Augen verlor. Er brauchte Rückendeckung. Es war wichtig, das Wild zu verfolgen und in die Enge zu treiben, um es zu verbrennen. Er schauderte ein wenig bei dem Gedanken.

Dave zog sein Handy aus der Tasche. Er wählte Dannys Nummer und lauschte ungeduldig. Er war sich jedoch sicher, daß sich niemand melden würde. Als nächstes wählte er die Nummer des Netzwerks, von dem aus nacheinander alle Nummern angewählt wurden: Danny, Lloyd Smith, Stan Gates, Petra und Rajeb Patel. Ein willkommenes Klicken zeigte ihm, daß jemand den Hörer abgenommen hatte.

»Patel«, meldete sich eine verschlafene Stimme.

»Rajeb, hier ist Dave Peters. Ich habe gerade bei einem Streifzug etwas Verdächtiges gesehen. Kommen Sie, so schnell Sie können, in die… « Dave schaute sich um und sah knapp hundert Meter weiter ein Schild. »Holland Park Road«, fuhr er fort.

»Das ist W 8, oder? Keine Sorge, ich werd’s schon finden. Bin in ungefähr zehn Minuten da.«


Rajeb wohnte in einem kleinen Apartment am Gunnerbury Park. Er schaltete die Nachttischlampe an und sprang nackt aus dem Bett. Als er sich die Unterhosen anzog, wachte Daphne auf.

»Was zum Teufel tust du da?« fragte sie.

»Hab einen Anruf gekriegt«, sagte Rajeb, während er mit seinem Pullover kämpfte. »Hör zu, wähl 702 3658 für mich, schnell, Frau.«

»Nenn mich nicht Frau«, sagte sie und setzte sich auf. »Ich bin nicht dein Dienstmädchen.«

Er lächelte sie an, und sie schmolz dahin.

Sie nahm sein Handy, wählte die angegebene Nummer und gab ihm den Apparat. Rajeb bellte Anweisungen in den Hörer. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Botschaft verstanden worden war, klappte er den Apparat zusammen und steckte ihn in seine Gesäßtasche.

Daphnes blonde Haare lagen wie ein Vorhang vor ihren weißen, mit Sommersprossen gesprenkelten Brüsten. Er mußte sie einfach anschauen, obwohl er es eilig hatte, und wie immer bemerkte sie es.

»Schlechter Zeitpunkt, oder? Du hättest gestern abend daran denken sollen.«

»Da war ich müde«, sagte er. »War den ganzen Tag unterwegs.«

»Du solltest den Gören in Brixton das Addieren beibringen«, sagte sie, »dann wüßtest du, was müde sein ist.«

Daphne war Lehrerin. Sie hatten sich in Indien während eines Rucksack-Urlaubs kennengelernt. Daphne hatte ihm erst vor kurzem gestanden, daß sie sich ihm nur angeschlossen hatte, weil sie dachte, er sei ein Einheimischer, der ihr beim Übersetzen helfen könnte.

Aber Rajeb, der wie seine Eltern in Stepney das Licht der Welt erblickt hatte, sprach nichts außer seinem eigenen englischen Slang.

»Kein Hindi?« hatte sie gefragt. »Kein Urdu?«

»Nein«, hatte er lächelnd geantwortet. »Auch kein Tamil – eine Schande, nich?«

»Das heißt: Nicht wahr! Verdammt, du kannst ja noch nicht einmal Englisch sprechen!«

»Doch, kann ich verdammt noch mal.«

»Aber nicht korrekt.«

Rajeb war ein aufgeweckter junger Mann, der diese Diskussion nicht zum ersten Mal führte. »Englisch ist eine dynamische Sprache«, erklärte er ihr. »Sie verändert sich mit dem Gebrauch. Man benutzt sie, um miteinander zu kommunizieren. Wenn jemand ›nich‹ sagt, dann ist ›nich‹ korrekt. Und alle, die ich kenne, sagen ›nich‹.«

»Dann kennst du eben nur die Plebs.«

»Plebs?« hatte er in gespieltem Entsetzen gefragt. »Was für ein Wort ist das? Das is nich Englisch, oder?«

Sie merkte, daß er sie ertappt hatte. »Es… es ist ein lateinisches Wort, nun, wenigstens, zur Hälfte. Kommt von Plebejer.

So nannte man die römische Unterklasse. Die Oberklasse hieß Patrizier.«

»Ah, nun, genau da hast du mich falsch verstanden«, sagte er und überraschte sie aufs neue, »denn ich bin Patrizier. Mein Großvater war ein Radscha.«

»Wirklich?«

»Nein, aber du bist leicht zu beeindrucken, nich? Du solltest dich schämen. Du bist ein verdammter Snob.«

Als er ihr später erklärte, er arbeite in London als Polizist, war sie noch tiefer gekränkt, aber zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich bereits in ihn verliebt und konnte nicht viel dagegen unternehmen. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, ihn nicht anzurufen, wenn sie wieder in England war, aber schon bald ertappte sie sich dabei, wie sie von seinem schlanken, sonnengebräunten Körper träumte, seinen dichten schwarzen Haaren und seinem Lächeln. Sie sehnte sich nach dem Klang seiner Stimme in ihrem Ohr und nach seinem Lachen. Rajeb besaß ein freundliches, unbekümmertes Wesen, das überaus beruhigend wirkte.

Also hatte sie ihn am Arbeitsplatz angerufen.

»Du weißt, weshalb ich anrufe, oder?« sagte sie, ängstlich darauf bedacht, die wenigen Überbleibsel ihres Stolzes zu bewahren.

»Ja, weil ich so ein netter Kerl bin«, erwiderte er.

»Nein, nicht deswegen, sondern weil ich noch etwas von dir habe – das Buch, das du mir geliehen hast.«

»Ich habe dir ein Buch geliehen?«

»Ja, und ich möchte es dir zurückgeben.«

Rajeb lachte ins Telefon. »Das ist ein guter Trick, meine Liebe, den muß ich mir merken. Behalt etwas, damit du später anrufen und so tun kannst, als wolltest du es zurückgeben. Komm schon, gib zu, daß du hinter meinem Körper her bist.«

»Bestimmt nicht«, schrie sie in den Hörer. »Tatsächlich würde es mir nicht das geringste ausmachen, wenn ich dich nie wiedersehen würde.«

»Einen Augenblick«, sagte er. Sie rauchte eine Zigarette, während sie am anderen Ende der Leitung leise Stimmen hörte, dann war er wieder am Apparat.

»Was hast du gesagt?«

»Ich sagte«, erwiderte sie, »ich hoffe, daß du tot umfällst. Ich dachte, das Buch sei wichtig für dich und habe mir extra die Zeit genommen, dich anzurufen, und dann muß ich mir diesen Blödsinn anhören.«

»Du bist nicht in mich verliebt?«

»Bestimmt nicht.«

»Das ist schade, denn ich bin sehr in dich verliebt – ich habe versucht, dich zu finden, seit ich wieder in London bin. Du hast mir die falsche Nummer gegeben.«

Das Geständnis brachte sie aus dem Konzept, aber ihr schrecklicher Stolz ließ nicht zu, daß sie ihm ihre Gefühle gestand. Sie sagte, sie hätte ihm absichtlich die falsche Nummer gegeben, um ihn aus ihrem Leben herauszuhalten. Dann warf sie den Hörer auf die Gabel und brach in Tränen aus.

Zehn Minuten später klingelte es an ihrer Tür.

Sie öffnete und sah einen grinsenden Rajeb.

»Wie… wie hast du…?« stotterte sie, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte.

»Habe den Anruf zurückverfolgen lassen«, sagte er, und sein Grinsen wurde breiter. »Cleveres Kerlchen, oder? Bin nicht umsonst Polizist. Hey«, fuhr er fort, »du hast wegen mir geweint.«

»Ich habe Zwiebeln geschält«, gab sie zurück.

»Klar«, erwiderte er und trat ein. Zehn Minuten später hatten sie sich in ihrem Bett geliebt, vierzehn Tage später war sie in sein Apartment gezogen. Das war vor einem Jahr gewesen, und sie hatte es nicht bedauert – wenigstens bis jetzt.

Rajeb ließ sie im Bett sitzen und lief die Treppe hinab, wobei er drei Stufen auf einmal nahm. Sein Wagen stand hinter dem Haus. Es dauerte nicht lange, und er raste in Richtung Holland Park Road.

Dave stand an der Ecke.

»Wo ist er?« fragte Rajeb, während er aus dem Wagen sprang.

»Irgendwo auf den Dächern«, erwiderte Dave. »Haben Sie weitere Verstärkung gerufen?«

»Ist auf dem Weg«, antwortete Rajeb. »Aber wahrscheinlich dauert es noch eine Weile. Sollen wir ihn verfolgen?«

»Ich denke, ja – ich möchte ihn nicht verlieren.«

Da es keine Feuerleitern gab, gingen sie zum nächsten Hauseingang und traten die Tür aus den Angeln. Dann liefen sie durch den Flur und eine Treppe hinauf, von der sie nicht wußten, wo sie endete; sie waren schon zufrieden, daß sie nach oben führte. Auf einem Treppenabsatz stellte sich ihnen ein ängstlich aussehender Mann in den Weg.

»Was wollen Sie?«

»Polizei«, sagte Rajeb. »Wie kommen wir aufs Dach?«

»Von hier aus auf keinen Fall. Ich glaube, am besten durchs Schlafzimmerfenster.«

Er führte sie zum Schlafzimmer. Dave sprang auf das Bett einer erschreckt aussehenden Frau mittleren Alters, um an das gegenüberliegende Fenster zu gelangen. Die mit Lockenwicklern bewehrte Frau verschränkte die Arme vor der Brust, als Dave über sie hinwegschritt. »Bert?«

»Alles in Ordnung, Liebes, es sind Polizisten«, beruhigte Bert sie.

Dave öffnete das Fenster und schaute hinab. Das Zimmer lag im dritten Stock. Er kletterte auf die Fensterbank und hielt sich mit beiden Händen an der Dachrinne fest. Dann zog er sich hoch und hoffte, daß sich die Rinne nicht vom Dach lösen würde. Sie hielt. Kurz darauf schob er sich bereits über die moosbewachsenen Dachziegel. Rajeb folgte ihm, jünger, wendiger und um einiges schneller. Sie krochen im Angriffsstil zum Dachfirst.

Unterhalb des Daches, auf dem sie sich befanden, lag eine Reihe von Flachdächern. Auf dem dritten von ihnen hatte Dave die Gestalt ausgemacht.

»Da drüben«, flüsterte er Rajeb zu.

Die beiden Männer zogen ihre Waffen und lösten die Sicherungen. Dann ließen sie sich über die andere Seite des Daches gleiten, um auf der Teerpappe des ersten Flachdachs zu landen.

»Ich gehe vor«, flüsterte Dave. »Sie bleiben hinter mir – ungefähr zwanzig Meter – falls ich ihn verfehle, müssen Sie ihn festnageln. Lassen Sie ihn nicht zu nahe an sich herankommen. Er kann Ihnen innerhalb von Sekunden das Genick brechen. Wenn er ein Dämon ist, besitzt er die Stärke von zwanzig Männern.«

»Alles klar«, sagte Rajeb mit heiserer Stimme. »Verstanden.«

Dave bewegte sich langsam vorwärts, die Pistole im Anschlag. Auf dem dritten Dach rührte sich nichts, aber Dave hatte es nicht aus den Augen gelassen, seit er die schwarze Gestalt zum ersten Mal gesehen hatte, und er war sicher, daß sie – wer oder was auch immer sie sein mochte – nicht verschwunden war; wenigstens nicht über die Dächer. Es gab vier große Luftschächte, von denen jeder mit einem Lattenverschlag ummantelt war, in dem sich zwei bis drei Männer verstecken konnten.

Je näher Dave kam, desto vorsichtiger wurde er. Er hatte die erwürgten, verstümmelten Opfer von Manovitchs Kreuzzug gesehen und verspürte nicht das geringste Verlangen, sich zu ihnen zu gesellen. Er wollte nicht, daß seine Arme und Beine in alle vier Himmelsrichtungen verstreut und sein Kopf auf eine Wetterfahne gespießt würde.

Er warf einen Blick hinter sich und stellte zufrieden fest, daß Rajeb an seinem Platz stand. Dann ging er langsam auf den dritten Verschlag zu.

Plötzlich wurde eine der Latten beiseite geschoben und ein Mann kletterte auf den Dachfirst.

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