KAPITEL ZWÖLF




Ein Mann stand auf der Westminster Bridge und starrte auf die Themse hinab. Er fiel nicht besonders auf: ein grau aussehender Mann in einem grauen Anzug. Der Anzug war zerknittert, ebenso wie der Kragen seines krawattenlosen Hemdes. Seine ganze Gestalt strahlte Verzweiflung aus: eine chronische Depression hatte ihn an den Rand eines wäßrigen Todes geführt, und er war dabei, diesen Rand zu überschreiten. Ein kalter, grauer Morgen ist für einen verbitterten, grauen Mann genau die richtige Zeit, um Selbstmord zu begehen: er schenkt ihm den Mut, den er braucht, um sein elendes Leben zu beenden.

Seiner Meinung nach hatte ihn die Stadt nicht sehr fair behandelt. Londons Majestät bewegte ihn nicht, seine schlafenden Häuser rührten ihn nicht. Das großes Herz der Stadt ruhte, und Walters fühllose Seele konnte an ihm vorübergehen, ohne es eines zweiten Blickes zu würdigen. Nur der süßwillige, träge dahingleitende Fluß interessierte ihn.

Walter Rainforth seufzte und dachte an sein Geschäft; wie es anfangs floriert hatte, und wie der Umsatz in den Neunzigern zurückgegangen war, bis es tief, sehr tief in die roten Zahlen geraten und reif für die Konkursverwalter war, und er, Walter, am Ende ein Bankrotteur. Walter war ein stolzer Mann. Sein Vater hatte ihm einst gesagt, daß er es zu nichts bringen würde, und jetzt war der Fluch wahr geworden. Walter haßte seinen Vater dafür, daß er recht behalten hatte, war aber froh, daß der alte Mann tot und nicht Zeuge der letzten Demütigung seines Sohnes war. Walter fragte sich, ob der alte Bastard ihn auf der anderen Seite lachend erwartete. Eine wirklich deprimierende Vorstellung.

Er kletterte auf das Brückengeländer und setzte sich auf den Rand. Walters Frau würde, da es sich um Selbstmord handelte, kein Geld von der Lebensversicherung bekommen. Aber das war ihm egal, denn er liebte seine Frau nicht sehr. Sie hatte ihn vor fünf Jahren wegen eines Metzgers verlassen. Als sie ihn verließ, hatte er zwar geweint, aber sein Testament nicht geändert. Sie war seine einzige Hinterbliebene. Sonst gab es niemanden, dem er seine Schulden hinterlassen konnte, abgesehen von einem Tierheim. Aber Walter haßte Tiere noch mehr als seine Frau. Walter haßte eigentlich alle Geschöpfe, die über diese egoistische und grausame Erde wandelten – einschließlich seiner selbst.

»Hallo, Sie da!«

Walter drehte sich um und sah einen Polizeiwagen auf der anderen Straßenseite, der langsam an ihm vorbeifuhr. Ein Constable beugte sich aus dem Fenster und winkte ihm zu. »Vorsicht, Kumpel«, rief er. »Oder wollen Sie ins Wasser fallen?«

»Ja«, antwortete Walter.

Der Polizeiwagen stoppte.

»Lebensmüde, oder was?« schrie der Polizist. »Seien Sie vernünftig. So schlimm kann es doch nicht sein.«

»Doch«, sagte Walter. »Schlimmer.«

Der Polizist stieg aus dem Wagen und überquerte die Straße.

»Wenn Sie näher kommen, springe ich«, drohte Walter.

Der Constable blieb stehen, ging wieder zum Wagen zurück und sagte etwas zum Fahrer, der ein Mikrofon nahm und hineinsprach. Walter wüßte, daß er Unterstützung anforderte. Er rutschte nach vorn und glitt langsam auf die Lücke zwischen der Brücke und dem Strom zu.

Er wäre gesprungen, wenn sich in diesem Augenblick nicht gerade die Sonne gezeigt hätte; doch der Sonnenaufgang war so schön, daß Walter auf seinem Weg nach unten innehielt. Er klammerte sich an die Betonbrüstung und starrte die Sonne an. Es war schon lange her, seit er das letztemal gesehen hatte, wie die riesige rote Scheibe am Horizont auftauchte und ihre Strahlen über die erwachende Welt schickte. Ihr Licht strich über Wolken und Dächer. Selbst die Kuppel des Erzengels sah rosig aus.

»Roter Himmel am Morgen, keine Sorgen«, murmelte Walter. »Nun, die werde ich auch nicht haben«, fügte er mit einer gewissen bitteren Befriedigung hinzu.

Er starrte auf den Fluß hinab, der jetzt scharlachrot leuchtete.

»Alles in Ordnung?« fragte der Polizist. »Stellen Sie nichts Verrücktes an.«

Unter Walter bewegte sich ein Lastkahn voller Gasflaschen flußaufwärts. Walter zuckte zurück. Wenn er jetzt gesprungen wäre, hätte er sich an diesen Metallflaschen den Rücken gebrochen und damit seine bereits schlimme Lage noch verschlimmert. Er wollte sterben, nicht mit einem gebrochenen Rückgrat im Krankenhaus liegen.

Der Kahnführer schaute mit einem verwunderten Blick aufs Wasser. Trotz seiner Lage war Walter neugierig. Der Fluß war sein Ziel, und wenn er jemanden verwirrte, wollte er wissen, weshalb.

»Was ist los?« rief Walter.

Der Kahnführer schaute hoch und schrie: »Der ganze Fluß ist rot.«

»Das ist die Sonne«, erklärte Walter.

»Nein«, erwiderte der Kahnführer, »es ist das Wasser – es ist dick und klebrig. Riecht so süß, daß einem schlecht werden kann. Es ist Blut. Ich schwöre, es ist Blut. Was machen Sie eigentlich da oben? Passen Sie auf, Kumpel, sonst fallen Sie noch runter.«

Blut? Walter klammerte sich an die Brückenbrüstung. Jetzt konnte er das Blut ebenfalls riechen. Jemand muß in der Nähe von Marlow oder weiter auf dem Land Vieh oder etwas anderes geschlachtet haben. Ekelhaft.

»Helfen Sie mir«, rief er dem Polizisten zu. »Helfen Sie mir, ich rutsche.«

Der Polizist, der bereits auf dem Weg zu ihm gewesen war, rannte über die Straße. Er erwischte Walters Jacke gerade in dem Augenblick, als sein Hintern von der Brücke rutschte. Walter schrie. Der Polizist hielt den Saum seiner Jacke umklammert.

Walter hing über der trägen, blutigen Themse, die Arme über den Kopf gestreckt. Der Polizist stand über das Brückengeländer gebeugt und hielt Walters Jacke fest. Walter glitt langsam aus der Jacke, wobei die Ärmel nach innen gekehrt wurden.

»Helfen Sie mir!« kreischte Walter. »Ich will nicht so sterben!«

Der Kahnführer stand am Heck und starrte interessiert hoch, dann verschwand er unter der Brücke.

Der Polizist versuchte, Walter hochzuziehen, aber dessen Arme glitten immer weiter aus den Ärmeln, bis er fast draußen war; seine Finger klammerten sich verzweifelt an den letzten, ihm verbliebenen Stoffrest. Er versuchte, sich mit den Schuhen an der Brückenmauer abzustützen; doch gerade, als seine Füßen einen Vorsprung gefunden hatten, hörte er, wie die Ärmelnähte rissen, und ihm fiel ein, daß er dazu übergegangen war, sich an den Marktständen billige Sachen zu kaufen, nachdem das Geschäft nicht mehr so gut lief.

»Scheißjacke«, schimpfte er, als er fiel.

Das waren seine letzten Worte, bevor er im klebrigen, blutigen Strom versank und dicke Blutklumpen schluckte. Er trat um sich und kam wieder an die Oberfläche, wo er feststellte, daß das warme Wasser ihn trug. Es war schrecklich. Er hoffte, daß es sich tatsächlich um Tierblut handelte, was schon schlimm genug war, aber sich in menschlichem Blut zu suhlen – das wäre undenkbar. Dennoch dachte er daran.

»O Gott!« schrie er. »Holt mich hier raus.«

Er schluckte erneut Blut, als er auf den Bauch rollte. Er trieb auf dem Strom. Dann fühlte er etwas Hartes und Scharfes an seinem Hemdkragen. Er wäre fast erstickt, als er über den Rand eines Bootes gezerrt wurde. Hände griffen nach ihm und packten seinen schlüpfrigen Körper, um ihn an Bord des Flußpolizeibootes zu hieven.

»In Ordnung, wir haben Sie«, sagte ein Mann. »Sind Sie okay? Irgendwelche Verletzungen?«

Walter setzte sich hustend auf und schaute an sich hinunter: er war von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt.

»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« fragte er.


»Ich nehme an, sie alle kennen die Geschichte von Moses und dem Auszug aus Ägypten«, sagte Petra. »Wir haben es hier mit einem Nachahmer zu tun. Manovitch zeigt uns seine Macht.«

»Die zehn Plagen aus dem alten Ägypten!« sagte Mutter Teresa.

»Von denen uns noch neun bevorstehen«, fuhr Bruder Tuck fort.

Von Oxford bis zu The Nore war die Themse dick und rot. An ihrer Quelle in den Cotswold Hills, nahe Cirencester, führte sie noch kristallklares Wasser, aber irgendwo in der Gegend von Oxford veränderte sich ihre Farbe und Konsistenz, und sie verwandelte sich in eine Flüssigkeit, die nicht nur an Blut erinnerte, sondern auch sämtliche chemischen Bestandteile von Blut aufwies.

In London waren all die kleinen Nebenflüsse, von denen die meisten unterirdisch verliefen, voller Blut. Die Serpentine, alle Springbrunnen, nicht nur die auf dem Trafalgar Square, sämtliche Teiche, Seen, Bäche, Kanäle und Rinnsteine waren voller Blut; die Flüssigkeit, die aus Hähnen und Toiletten strömte, alles, alles war Blut, überall war Blut. Es verklebte die Leitungen, verstopfte die Kanalisation, tötete die Karpfen in den Marmorbecken der Reichen. Es füllte die Swimmingpools und die Wasserbehälter auf den Dächern und wurde von den Bewässerungsgeräten in Parks und Gärten verspritzt. London ertrank in Blut. Die einzigen, die der Plage entkamen, weil sie über eine gesonderte Wasserquelle verfügten, waren die Mitglieder der Konferenz.

»In der amtlichen Verlautbarung heißt es, daß eine ungewöhnlich rasch strömende Themse einen bislang unbekannten, aus roter Erde bestehenden Wall mitgerissen habe, der sich mit ihr vermischte.«

»Haben die Berater des Pharao nicht anfangs das gleiche gesagt?« fragte Dave sauer.

»Es ist nur eine amtliche Verlautbarung«, sagte Lloyd. »Keiner glaubt daran. Die Leute brauchen etwas, worüber sie reden können, während sie an den Tankwagen vor der Stadt Schlange stehen, um Wasser zu bekommen.«

»Kann man wirklich ganz London mit Wasser versorgen?«

»Wir benutzen Los Angeles als Modell. Wissen Sie noch, wie Terroristen dort vor drei Jahren die Wasserreservoirs vergiftet haben? Wenn Los Angeles Wasser von außerhalb heranschaffen konnte, weshalb nicht auch London? Wir glauben übrigens auch nicht, daß es lange dauert.«

»Und woher stammt das Blut?« fragte Dave.

Der Erzdiakon fuhr zusammen. »In Oxford ist die Themse voller Menschen… menschlicher Überreste. Das Blut ist menschlichen Ursprungs. Auch in den Reservoirs treiben Menschen. Das Blut sieht echt aus, aber…«

»Aber was?« fragte Danny, dem übel wurde, als ihm einfiel, daß er mitten in der Nacht Wasser getrunken hatte, ohne das Licht anzuknipsen.

»Außer daß niemand vermißt wird. Bei einer solchen Unmenge von Toten hätte es ein Massaker, ein schreckliches Gemetzel, ein Blutbad geben müssen. Doch die Polizei erklärt, im Laufe der Nacht seien nur die üblichen zwei oder drei Morde zu verzeichnen gewesen, und diese Leichen sind identifiziert worden.«

»Es handelt sich um Nekromantie«, bemerkte Petra. »Manovitch ist es irgendwie gelungen, genügend Kraft zu erzeugen, um diese Leichen aus dem Nirgendwo erscheinen zu lassen. Satan hat ihn mit seinem Blut versorgt.«

»Dann sind sie nicht real«, sagte Danny erleichtert.

»Natürlich sind sie real«, erwiderte Petra. »Sie sind hier, oder etwa nicht? Es ist immer noch Blut in deinem Glas.«

»Es wird Tote geben«, murmelte Lloyd. »Krankheiten…«


Menschen hatten Lloyd durchs Telefon angeschrien – sehr wichtige Personen –, und ihm erklärt, daß er bald Resultate liefern sollte, ansonsten… Er wußte nicht genau, was dieses ›ansonsten‹ bedeutete, aber ihm mißfiel der Klang des Wortes.

»Wir scheinen auf der Stelle zu treten«, sagte er gereizt. »Hat jemand eine Idee? Weshalb schluckt Manovitch den Köder nicht, Petra? Hat er Angst vor uns? Was glauben Sie?«

Petra schüttelte den Kopf. »Er hat keine Angst vor uns, sondern vor dem Erzengel. Er wird versuchen, im verborgenen zu bleiben und hofft auf eine Gelegenheit, Dave und Danny zu erwischen. Rache ist für ihn zweitrangig. Wir können nur hoffen, daß er eine Chance erblickt und sie wahrnimmt.«

»Aber«, wandte der frustrierte Lloyd ein, »wir haben überall bekanntgemacht, daß die beiden hier sind, sogar im Fernsehen.«

»Vielleicht lebt er in einem Loch, irgendwo in der Gosse, ohne Fernseher, ohne Radio. Er ist ein Teufel, eine tote Seele, an die abscheulichen Zustände in der Hölle, an unbeschreiblichen Schmutz und Elend gewöhnt, und jedes Loch, in dem er jetzt lebt, muß ihm wie das Paradies vorkommen. Er hält sich bestimmt nicht in einem luxuriösen Hotel mit Fernseher in jedem Zimmer auf.«

»Und was ist mit den Zeitungen? Die findet man sogar in Mülleimern.«

»Haben Sie schon einmal daran gedacht, daß er vielleicht nicht lesen kann? In der Hölle schrumpft nicht nur der Geist, sondern auch der Intellekt. Sein Geist hat sich in ein wildes, verdrehtes Ding verwandelt, den Geist einer Bestie der Dunkelheit, die all ihr früheres Wissen verloren hat. Seine Verschlagenheit mag sich verzehnfacht haben – er ist ein Krieger und ein Jäger –, aber was die Bildung anbelangt, ist er wahrscheinlich ein Schwachkopf.«

»Falls er ungebildet ist, kann man ihn kaum noch als Gegner bezeichnen«, erklärte Lloyd, der in bezug auf Bildung ein wenig snobistisch war, hatte er doch in Harrow studiert.

»Sagen Sie das mal Attila, dem Hunnen«, brummte Dave.

Lloyd verstand den Hinweis.

»Wenn er in dunklen Ecken lauert, werden wir ihn nur zufällig antreffen. Es wäre schön, wenn er ungeduldig würde und wieder dahin verschwände, wo er hergekommen ist.«

Petra wirkte schockiert. »Das wäre katastrophal«, sagte sie. »Er mag zwar hier unten dumm sein, aber auf dem spirituellen Schlachtfeld stellt Manovitch eine schreckliche Macht dar. Wenn die Engel auf den Schlachtfeldern von Armageddon bezwungen werden, wird Gott verlieren und das Böse die Welt regieren.«

»Ich dachte, das könne nicht passieren«, sagte Danny, »wenigstens nicht auf Dauer. Ich dachte, am Ende muß das Böse verlieren.«

»Das stimmt, am Ende wird Gott triumphieren. Aber möchtest du die nächsten zehn Millionen Jahre unter der Herrschaft Satans und seiner Scharen leben? Du mußt an die unzähligen Generationen von Menschen denken, die nach dir kommen, nicht nur an dich. Wir müssen Manovitch hier unten festhalten, hier, wo er verletzlich ist, so weh es auch tun mag.«

»Im Augenblick gibt es viel Böses auf der Welt – Kriege, ungesetzliche Verhaftungen, Folter; jeden Tag hören wir von neuen, schrecklichen Dingen«, sagte Lloyd.

»Das ist nichts, nichts im Vergleich zu dem, wie es sein würde, wenn die Engel den Kampf verlören. Es wird keine Macht mehr geben, die Dämonen aufzuhalten. Sie werden zu Zehntausenden auf uns herabkommen. Wir alle wissen, daß einige von ihnen bereits auf der Erde sind. Sie machen kaum Schwierigkeiten; aber das liegt nur daran, daß es sich bei ihnen um Deserteure handelt, die sich sowohl vor Satan als auch vor seinen Feinden verstecken. Doch siegreiche Truppen sind anders. Nicht einmal das Wetter werden sie in Ruhe lassen. In einigen Gegenden wird es unerträglich heiß, in anderen bitter kalt werden. Es wird keine gemäßigten Klimazonen mehr geben. Sie werden die Erde vergewaltigen und Berge von Toten in der Hitze verwesen lassen. Sie werden alles zerstören und die Menschheit um eine Million Jahre zurückwerfen. Wir werden einander auffressen…«

»Ich glaube, wir haben verstanden.« Lloyd seufzte. »Ich wünschte, wir würden nicht in diesen jenseitigen Krieg hineingezogen, aber ich denke, Petra hat recht. Wir müssen es weiter versuchen. Hat jemand noch eine Idee?«

Offenkundig nicht.

»Eines sollten wir nicht vergessen«, sagte Petra.

»Und das wäre?« fragte Lloyd.

»Die letzte Plage ist die schrecklichste. Wir müssen Manovitch unbedingt vorher finden.«

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