KAPITEL ZWANZIG
Am späten Nachmittag informierte Stan Gates Dave darüber, daß Danny den Flug Nummer VA765 nach San Francisco genommen habe, und fügte hinzu: »Ich weiß nicht, ob er sich nach der Landung melden wird. Er sprach von einer Reise nach Hawaii, sagte, er habe genug von der Polizei und wolle kündigen.«
Diese Nachricht verwirrte und ärgerte Dave. »Hawaii?« fragte er. »Weshalb sollte er nach Hawaii wollen?«
Gates zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Aber nach seiner Miene zu schließen, hätte es genausogut Mexiko oder Alaska sein können. Ich kenne diese Miene. Er möchte sich für eine Weile verkriechen. Ich glaube, er ist wütend und durcheinander.«
Dave grinste schief. »Nun, wenn er schmollen will, soll er schmollen. Ich denke, daß mir keine andere Wahl blieb, als ihn zurückzuschicken.«
Gates lächelte. »Falls Sie meine Meinung interessiert, so möchte ich sagen, daß Sie das Richtige getan haben – das einzige, was man unter diesen Umständen tun konnte. Wenn die Arbeit eines Polizisten von seinen Gefühlen beeinträchtigt wird, muß man ihn so lange vom Dienst suspendieren, bis er wieder zur Besinnung gekommen ist. Ich habe nie viel davon gehalten, Privatleben und Beruf zu vermischen.«
»Danke, Gates, mir geht es genauso.« Doch noch während er so sprach, fühlte Dave sich schuldig. Er kam sich wie ein Heuchler vor, wußte er doch genau, daß er sich ‘96, während der Verfolgung des gefallenen Engels, in Vanessa verliebt hatte. Das war etwas anderes, sagte er sich. Es war reiner Zufall, und ich wußte erst hinterher, was ablief. Dann fügte er voller Genugtuung und zur Beruhigung seines Gewissens hinzu, daß Vanessa als Theologie-Professorin für die Lösung des Problems mit dem Engel unabdingbar gewesen war.
Wäre er sich selbst gegenüber ehrlich gewesen, hätte er erkannt, daß die beiden Fälle einander ähnelten. Danny war nicht vorsätzlich in die Affäre hineingeschlittert, und Petra war als Sprachrohr des Erzengels überaus wichtig.
Nachdem er mit Gates gesprochen hatte, ging Dave auf sein Zimmer. Er blieb einen Moment lang auf dem Bettrand sitzen. Dann zog er sich aus, nahm eine Dusche und kroch zwischen die Laken, wobei ihm auffiel, daß sie nicht gewechselt worden waren. Die Läuseplage hatte wahrscheinlich alles durcheinandergebracht. Selbst jetzt versuchten sich die kleinen Quälgeister einen Weg in ihn zu bahnen. Er widerstand dem Impuls sich zu kratzen, und knackte mit großer Befriedigung ein paar Läuse zwischen den Nägeln.
Das Klingeln des Telefons weckte ihn. Er schaute auf die Digitaluhr: 3:30.
»Hallo?« krächzte er in den Hörer.
»Dave? Hier ist Lloyd. Können Sie sofort zur Jasmine Suite kommen? Es… es ist etwas passiert.«
Etwas in Lloyds Stimme ließ die Alarmglocken in Daves Hirn schrillen. Er war augenblicklich wach und griff nach seiner Trainingshose. Dann ging er zum Fenster und starrte hinaus.
Der Dom aus Licht war noch sichtbar, der Erzengel immer noch da. Darüber wollte Lloyd also nicht mit ihm sprechen. Er hatte ihn Dave genannt. Es war das erste Mal, daß er seinen Vornamen benutzt hatte. War das von Bedeutung? Dave hörte sich aus Smith’ Mund, der normalerweise sehr korrekt und englisch war und zur förmlichen Anrede neigte, unbeholfen, unpassend an.
Ein Submanager des Hotels kam gerade aus der Suite, als Dave eintraf. »Kaffee?« fragte er leise. »Ich habe gerade welchen gekocht. Er steht auf dem Tisch.«
»Danke«, sagte Dave und fragte sich, ob er welchen brauchen würde.
Was er schließlich brauchte, war ein guter Schluck Bourbon.
Lloyd trug ein Pokergesicht zur Schau. Er ging im Zimmer auf und ab. Als er Dave sah, deutete er auf einen Stuhl.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich habe sehr ernste Neuigkeiten.«
Der Erzdiakon war blaß und offensichtlich erschüttert. Daves Herz sank. Verdammt noch mal, was war hier los? Schickte man ihn nach Hause? Wurde er ersetzt?
»Es tut mir schrecklich leid, Dave…«, wieder dieser ungewöhnliche Gebrauch des Vornamens,»… aber Flug Nummer VA765 stürzte vor knapp einer Stunde in den Atlantik.«
Zuerst wußte Dave nicht, was er mit dieser Information anfangen sollte. Dann erinnerte er sich, daß Stan Gates ihm gesagt hatte, Danny habe den Flug Nummer VA765 genommen. Danny. Danny war in diesem Flugzeug. Danny war ins Meer gestürzt!
»Jesus!« sagte Dave. Sein Kopf war plötzlich leer.
»Es tut mir sehr, sehr leid«, sagte Lloyd.
»Keine Überlebenden?« fragte Dave. »Sind Suchtrupps unterwegs?«
»Tut mir leid – es gibt nicht die Spur eines Wracks. Sie sendeten ein Funk-Notsignal, als der Backbordmotor Feuer fing, ein Feuer, das sich über den ganzen linken Flügel ausbreitete. Bei der letzten Meldung erklärte der Pilot, daß sie abstürzen würden.«
Dave vergrub das Gesicht in beide Hände. »O Gott«, stöhnte er. »Es ist alles meine Schuld. Ich habe Danny nach Hause geschickt. Ich habe ihn getötet.«
Lloyds Stimme klang jetzt fester. »Es ist dumm, so etwas zu sagen, Lieutenant, und Sie wissen es. Ich bin überrascht, es von einem Pragmatiker wie Ihnen zu hören. Sie wissen doch genau, daß Sie unmöglich vorhersehen können, welche Aeroplanes abstürzen…«
Dave schaute auf, von blindem Zorn überwältigt. »Warum müßt ihr Oberklassen-Cremeschnittchen immer übertreiben? Aer-o-planes! Was stimmt denn mit dem richtigen Wort nicht? Es heißt Airplanes, verdammt noch mal.«
»Nun, wir Briten nennen sie Aeroplanes. Nur die Amerikaner sagen Air-Plane.«
Beiden war bewußt, daß Daves Ausbruch von seiner Unfähigkeit herrührte, mit dem Kummer fertig zu werden, der plötzlich über ihn hereingebrochen war, dennoch entstand eine lange, peinliche Stille, bevor er eine Entschuldigung zustande brachte. »Tut mir leid, Lloyd. Ich wollte nur jemandem weh tun.«
»Sie waren nicht Sie selbst, das ist alles. Ich bin schon Schlimmeres genannt worden, und nicht immer hat man es mir ins Gesicht gesagt. Ein seltsames Wort, nicht wahr? Cremeschnittchen! Es verwirrt mich immer wieder. Ich sehe dabei immer ein Konditoreiteilchen vor mir. Weshalb man es als Slangwort für einen Homosexuellen gebraucht, ist mir schleierhaft. Falls Sie es jemals herausfinden sollten, wäre es schön, wenn Sie es mich wissen ließen.«
Dave nickte, immer noch verlegen, in einem Gewirr von Gefühlen gefangen, das von Kummer bis Wut reichte.
Sie tranken viel Kaffee, sprachen von der entfernten Möglichkeit, daß alles ein Irrtum gewesen war; daß Danny einen anderen Flug genommen hatte; daß die Nummer des abgestürzten Flugzeugs falsch durchgegeben worden war; daß Überlebende gefunden worden wären. Sie unterhielten sich darüber, aber sie wußten, daß es keine Hoffnung gab, daß Danny zusammen mit fünfhundert anderen Passagieren den Tod gefunden hatte.
Schließlich ging Dave auf sein Zimmer, um Vanessa anzurufen. Sie war genauso verzweifelt, wie er sich vorgestellt hatte. Wie gern wäre er jetzt mit ihr zusammengewesen. Sie hätten sich umarmt, gestreichelt, und einander körperlichen Trost und Halt gegeben.
»Ich weiß, ein Cop sollte damit rechnen, daß es ihn während des Dienstes erwischt«, sagte Dave. »Ich weiß es. Aber wenn dann so etwas passiert, trifft es einen trotzdem schwer.«
»Natürlich«, sagte Vanessa.
»Ich kann es einfach nicht glauben. Ich weiß nicht, was ich machen soll – ich komme mir so hilflos vor.«
Sie schluchzte. Dann sagte sie: »Du kannst nichts tun, außer weitermachen und zu Ende bringen, was du angefangen hast. Danny würde es verstehen.«
»Vermutlich«, sagte Dave matt. »Ich denke, er würde es verstehen.«
Manovitch stand auf dem Dach eines Hochhauses und schaute in Richtung Norden. In seiner Nähe stand ein niedergeschlagen aussehender Mann. Bevor er Manovitch in die Hände gefallen war, war er ein Gentleman, ein guter Mensch gewesen. Aber er hatte sich für Geld verkauft. Er fühlte sich schmutzig und verderbt, weil er an einer Handlung teilgenommen hatte, die ihn gestern noch wütend und krank gemacht hätte. Zugegeben – es war eine Menge Geld, doch jetzt, nachdem es vorbei war, wollte er am liebsten sterben.
»Geh mir aus den Augen, bevor ich dich töte«, sagte Manovitch.
Der Mann stolperte zum Rand des Gebäudes, warf Manovitch einen traurigen Blick zu und trat ins Leere. Er schrie nicht einmal, während er siebzehn Stockwerke tief fiel. Manovitch zuckte mit den Schultern. Er hatte wieder neue Kraft getankt, und nur das interessierte ihn.
Manovitch starrte auf die Stadt. Er hatte seine Dämonen fallengelassen, weil sie für ihn nicht mehr von Nutzen waren. Sie hatten sich wieder in ihre Löcher verkrochen. Sie waren für kurze Zeit nützlich gewesen, aber jetzt wollte er allein weiterarbeiten, ohne von ihrer eitlen Beschränktheit behindert zu werden.
Zugegeben, die Konferenzteilnehmer tagten immer noch. Aber er hatte, schon bevor er die Aufgabe übernahm, gewußt, daß es nicht leicht sein würde. Es war sinnlos, einen oder zwei von ihnen zu töten. Das würde nur die Entschlossenheit der anderen stärken. Er mußte das Leben in London unerträglich machen, den Widerstand der Teilnehmer zermürben, sie dazu bringen, daß sie entmutigt aufgaben. Auf jeden Fall würden einige von ihnen sterben, wenn die letzte Plage sie heimsuchte: der Tod aller Erstgeborenen.
Seit er sich wieder auf der Erde aufhielt, hatte er noch nichts von Satan gehört. Aber er hatte das Gefühl, als würde sein verderbter Herr zufrieden mit dem sein, was hier geschah. Manovitch hielt die Plagen für einen genialen Schachzug, der in der Hölle geschätzt würde. Auch die Passivität des Erzengels war ermutigend. Er würde erst eingreifen, wenn die Sterblichen gescheitert waren, und dann könnte es bereits zu spät sein. Die Zerstörung, die ein einziger Kampf zwischen Manovitch und dem Erzengel verursachen würde, war das Risiko wert, auf immer vernichtet zu werden – nun, beinahe, denn so selbstlos war Manovitch nicht.
Manovitch war zu Macht gekommen, als Satan begonnen hatte, seine Heere auf den Schlachtfeldern von Armageddon mit toten Seelen aufzustocken, wo die Dämonen immer wieder zurückgeschlagen worden waren. Und obgleich tote Seelen traditionellerweise neutral in diesem Kampf zwischen Engeln und gefallenen Engeln waren, hatte Satan alle Skrupel verdrängt, die Seelen der toten Sterblichen weiter zu verderben. Manovitch war zu einem seiner größten Generäle geworden, von den Engeln gefürchtet, von den Dämonen bewundert.
Manovitch blickte um sich.
Sekunden später krabbelte etwas aus seinem Mundwinkel, zwischen seinen Lippen hindurch. Eine Fliege. Sie summte davon, ließ sich vom Wind tragen. Er öffnete den Mund ein wenig, und zwei weitere Fliegen tauchten auf. Er riß den Mund auf. Drei, vier, ein Dutzend, hundert Fliegen strömten aus seinem Mund, bis der dunkle Strom, der beständig aus seinem Mund floß, so dick wie ein Männerarm war. Manovitch breitete die Arme aus, Triumph in den Augen, als die Fliegen sich zu Tausenden, Millionen, Trillionen von ihm lösten.