KAPITEL EINUNDDREISSIG




Lloyd Smith war zufrieden mit der Welt und positiv gestimmt.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich von einer Frau in seinem Alter angezogen gefühlt, und es schien das Richtige zu sein. Der andere Grund zur Freude hatte mit seiner Position als Erzdiakon zu tun: Er war von einer zuverlässigen Quelle darüber informiert worden, daß die Konferenz der Glaubensführer kurz vor einem erfolgreichen Abschluß stand.

Dann betrat ein gequält aussehender Dave Peters die Jasmine Suite, und Lloyds Herz sank.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Dave. Er machte einen erschöpften, kränklichen Eindruck, eine Folge des Schlafmangels. »Ich brauche Ihre Autorität, um Danny zu helfen.«

Lloyd überdachte rasch die in Frage kommenden Möglichkeiten. Was würde er verlangen? Die besten Ärzte der Welt? Einen barmherzigen Flug in die USA, weil Peters möglicherweise der Meinung war, die Ärzte dort seien besser? Ein Wunder? Dieses eine Mal beschloß Lloyd, gegen seine politische Schulung zu handeln und ein klares Versprechen abzugeben, ohne jede Einschränkung.

»Ich werde tun, was ich kann«, sagte er.

»Ich möchte, daß Sie uns ins Territorium des Erzengels bringen«, sagte Dave bestimmt. »Ich muß hinter die Barrieren.«

Lloyd richtete sich auf. »Der Premierminister persönlich hat angeordnet…«

»Ich weiß, was der verdammte Premierminister angeordnet hat«, schrie Dave. »Ich möchte, daß Sie Ihre Beziehungen spielen lassen und sie dazu bringen, mir grünes Licht zu geben. Was ist der Erzengel? Ein Nationalgeheimnis? Eine potentielle Waffe, die man gegen die Mächte des Bösen richten kann? Was glauben diese Leute, tun zu können? Denken sie wirklich, sie könnten sich seine Kraft nutzbar machen?«

Lloyd nickte. »Etwas in der Art. Sie wissen doch, wie diese Leute sind. Es gibt einige, die betrachten den Erzengel als etwas, das man erfolgreich ausbeuten kann – besonders das Militär.«

»Gott verfluche ihre Augen«, brüllte Dave. »Ich hoffe, sie verrotten. Ich weiß, wer das Böse auf dieser Welt ist. Können Sie es für mich tun oder wenigstens versuchen? Ich möchte Danny in die Kuppel bringen. Es ist seine einzige Chance. Ich möchte ihn dem Erzengel in den Schoß legen und sagen: ›Das ist deine Sache. Mach sie gut.‹«

»Niemand ist je von dort zurückgekommen, Dave.«

Dave nickte. »Ich weiß. Ich gehe mit Petra. Sie wird mich wieder rausbringen. Sie gehört dazu.«

Das hörte sich in Lloyds Ohren recht plausibel an, aber er wußte, wie dickköpfig manche Generäle waren. Wenn das Militär sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer, es davon abzubringen. Danny war mehr als entbehrlich für sie. Sie waren nur an der Kraftquelle und an der Frage interessiert, ob man sie als Waffe verwenden konnte. Sie hatten gesagt: »Eine abschreckende Waffe«, meinten jedoch, eine destruktive Waffe.

»Ich werde ein paar Anrufe machen, Dave, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«

»Das haben Sie aber. Sie haben mir versprochen, alles zu tun.«

»Vielleicht habe ich das, aber ich kann keine Wunder wirken.«

Lloyd führte in den nächsten beiden Stunden mehrere Telefongespräche, wobei er sich die ganze Zeit über bewußt war, daß es mit Danny zu Ende ging. Er wurde von Pontius zu Pilatus verwiesen. Er versuchte mit dem Mann an der Spitze zu sprechen, aber der Premierminister war nicht erreichbar. Und wenn er auf mitfühlende Ohren stieß, gehörten sie stets Menschen, die keinerlei Einfluß besaßen. Am Ende mußte er sich geschlagen geben.

»Nun«, sagte Dave. »Das wär’s dann. Mir ist aufgefallen, daß Sie einen Road Rover fahren. Ein recht robustes Fahrzeug, nicht wahr? Mit einer Crashstange am Kühler, oder?«

»Ja… aber…«

»Leihen Sie ihn mir. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß ich ihn in einem Stück zurückbringen werde, aber er wird vor heiligem Tau nur so tropfen. Sie können ihn nach der Tour an einen Erzbischof verkaufen.«

»Sie wollen durch die Straßensperre rasen«, sagte Lloyd. Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ganz recht. Das will ich.«

Lloyd fragte sich, ob seine Karriere als Kirchenmann auf dem Spiel stand, und stellte fest, daß es ihn kaum kümmerte. Er seufzte. Er hatte sich immer schon mehr für den Finanzmarkt interessiert. Vielleicht würde es ihm guttun, wieder zu den Multi-Millionen-Geschäften zurückzukehren. Bei Geld wußte man immer, woran man war.

»Wir treffen uns vor dem Hotel«, sagte Lloyd. »Sie können den Wagen haben. Sie haben recht, er hat eine Crashstange am Kühler. Damit sollten Sie durch die Straßensperre kommen, aber ich kann es nicht garantieren.«

»Ich werde versuchen, ihn heil zurückzubringen«, sagte Dave.

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, erwiderte Lloyd.

Lloyds Road Rover, den er sich gekauft hatte, nachdem sein silberner Lamborghini beim Erscheinen des Erzengels in Flammen aufgegangen war, wurde vom hoteleigenen Parkplatz geholt. Dave sprang hinters Steuer. Lloyd gab ihm eine kurze Einführung und stieg dann aus, um Petra auf dem Beifahrersitz Platz nehmen zu lassen.

»Vielen Dank«, sagte Dave. »Bis dann.«

Er fädelte sich in den Verkehr ein. Petra murmelte: »Links. Bleiben Sie links.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Ich bin lange genug hier, um das zu wissen.« Aber er mußte sich eingestehen, daß er immer wieder auf die Straßenmitte zusteuerte.

Petra hatte einen London-Führer dabei und dirigierte ihn zu dem Krankenhaus, wo Danny lag.

Er parkte vor dem Haupteingang, spazierte die Treppen hoch und in den Hauptkorridor. Dann nahm er den Aufzug in den zweiten Stock, suchte Dannys Zimmer und trat ein. Ein Krankenpfleger saß bei ihm.

»Verzeihung«, sagte Dave und entfernte die Schläuche und Leitungen von Dannys Körper. »Hey!« schrie der Pfleger, »das können Sie nicht tun.«

Der Pfleger packte Daves Handgelenk. Er schien recht kräftig zu sein. Dave zog die Pistole.

»Zurück, Freundchen«, sagte er. »Ich möchte Ihnen nicht weh tun, aber ich werde es, wenn Sie mich dazu zwingen.«

Er nahm Danny, das Laken und eine Decke. Dann lief er aus dem Zimmer. Danny war leichter als ein Kind. Sein Partner hatte die Augen geschlossen. Er lag im Koma. Dave wußte, daß Schnelligkeit jetzt höchste Priorität hatte. Er hörte den Pfleger schreien. Der Alarm ging los. Aber Krankenhäuser sind für Menschenraub nicht ausgerüstet, da er nur selten vorkommt. Dave wußte, daß es um ihn herum ein heilloses Durcheinander geben würde.

Eine Frau versuchte ihn aufzuhalten, als er auf den Hauptkorridor zulief. Dave schrie sie an: »Ich werde ihn auf den Kopf fallen lassen, und Sie sind dafür verantwortlich.«

Sie trat sofort beiseite.

Dave eilte die Stufen hinunter und legte Danny vorsichtig auf den Rücksitz. Petra saß am Steuer. Dave schloß die hintere Tür des Road Rover. Jemand packte seine Jacke. Dave schüttelte ihn mit einem gezielten Stoß vor die Brust ab. Dann sprang er auf den Beifahrersitz.

»Fahren Sie?« fragte er.

»Ja.«

»Dann geben Sie Gas!«

Sie verließen die Krankenhausauffahrt in einem Schauer aus Kieselsteinen, fuhren auf die Hauptstraße und dem großen Dom aus Licht entgegen. Dave hatte die Sonnenbrillen mitgenommen, die sie von Lloyd bekommen hatten. Sie waren bei Atomwaffentests benutzt worden; das Beste, was augenblicklich auf dem Markt war. Dave hoffte, daß er mit dieser Sonnenbrille innerhalb der Lichtkuppel genug sah, um Danny zu seinem Bestimmungsort zu bringen. Er hatte auch Dannys Brille dabei. Petra sagte, sie brauche keine künstlichen Mittel, um ihre Augen vor der Helligkeit zu schützen.

Als sie den verlassenen Bereich zwischen dem Rand des Lichts und dem besetzten Gebiet erreicht hatten, setzte Dave zuerst sich selbst und dann Danny die Sonnenbrille auf und schnallte ihn an, damit er nicht nach vorn rollte. Petra blieb ungefähr hundert Meter vor der Barriere stehen, die von Polizisten und Soldaten bewacht wurde. Hier brachte sie den Motor auf Touren.

»Fertig?« fragte sie.

»Fertig«, bestätigte Dave und hielt sich am Armaturenbrett fest.

»Dann los.«

Petra fuhr langsam auf die Sperre zu, als wüßte sie nicht, wie es weiterginge. Ein Polizist beobachtete sie und begann auf den Wagen zuzugehen, zweifellos, um ihnen zu sagen, daß sie nicht weiterfahren dürften. Als die Barriere nur noch dreißig Meter weit entfernt war, trat Petra aufs Gaspedal. Der Road Rover raste los. Der Polizist riß die Augen auf und zog seinen Revolver. Ein Armeekorporal nahm seine Maschinenpistole von der Schulter. Aber beide waren wegen des Überraschungseffekts zu langsam.

Der Road Rover prallte gegen die rotweiße, metallene Absperrung und riß sie aus der Verankerung. Er bäumte sich unter der Wucht des Aufpralls auf und schoß zur Seite, wobei er einen kleinen Unterstand zerstörte. Betonblöcke lagen als Hindernisse auf der Straße. Aber es gelang ihnen, sich ohne ernsthaften Schaden krachend einen Weg darum herum zu bahnen. Sie hörten hinter sich Schreie. Ein oder zwei Schüsse wurden abgefeuert. Das Klirren an der hinteren Karosserie verriet Dave, daß sie getroffen waren.

Plötzlich befanden sie sich in einem strahlend hellen, verwirrenden Ort, dessen Licht sie vor ihren Verfolgern verbarg.

»Sie können jetzt langsamer fahren«, sagte Dave.

Der Glanz des Lichtes verlieh dem Ort eine überirdische Atmosphäre, ein surrealistisches Aussehen. Es war, als fahre man durch schimmernden Nebel, als würde der Weg vom Glanz verdunkelt. Doch es tauchten keine dunklen Schatten auf, keine finsteren Umrisse, wie in einem Ort der Dunkelheit. Statt dessen drangen aus dem Inneren des intensiven Glanzes Lichtgebilde mit verschwimmenden Rändern. Eines konnte ein Gebäude, ein anderes ein aufgegebener Lastwagen sein, das dritte eine Straßenlaterne – oder aber es waren die Hüllen all dieser Dinge. Sie glichen massivem Licht innerhalb des Lichts. Der Ort floß über vor schillerndem Glanz. Es war, als sei eine alte, zerstörte Stadt plötzlich aus schimmernden Fluten aufgetaucht; die Ruinen einer uralten Welt, in Bänder aus Licht gehüllt.

Je weiter sie fuhren, desto ehrfürchtiger wurde Dave. Er hatte das Gefühl, nicht mehr auf der Erde zu sein, sondern in einer fremden Welt; auf einem Stern, der seine Hitze verloren, aber seinen Glanz behalten hatte, falls so etwas möglich war. Die Helligkeit nahm zu, als Petra sie näher zum Zentrum brachte, wo sich das für diesen Glanz verantwortliche Wesen aufhielt.

Petra fuhr langsam und vorsichtig, damit Danny nicht zu sehr durchgeschüttelt wurde. Schließlich waren sie an der Stelle angelangt, wo der Erzengel darauf wartete, daß die irdische Welt seinen Feind vernichtete. Er befand sich auf einem Altar, aber seine genaue Position war nicht klar. Dave konnte nur den vagen Umriß eines Altars erkennen und mitten darauf eine verschwommene, menschliche, weißglühende Gestalt, umrahmt mit einem Licht, das Dave nur als heilig beschreiben konnte. Er besaß keine anderen Worte, um die Szene vor ihm zu schildern.

Petra bremste, stieg aus und ging die Altarstufen hoch. Irgendwann zwischen Boden und Decke schien sie mit der strahlenden Gestalt zu verschmelzen und verschwand aus Daves Sicht.

Als Dave aus dem Road Rover stieg, kam er sich schwer und lethargisch vor, eine plumpe Gestalt in dieser Welt des Lichts. Um ihn herum tanzten schimmernde, gewichtslose Bänder, als sei er der Schöpfer dieser monochromen Regenbögen, und wenn er sich bewegte und sie störte, auch ihr Manipulator. Er scheuchte sie auf wie Lametta, das von der Decke hing und zu flattern begann, wenn jemand die Tür öffnete, um ein wenig Durchzug zu machen. Sie waren Geister, und er war ein Sterblicher, der durch ihre zerbrechliche, zarte Welt stolperte.

Dave konnte dem Gefühl der Zeitlosigkeit, gekoppelt mit unendlicher Geduld, nicht entgehen, während er sich langsam durch den See aus Licht bewegte. Er war von seiner Bedeutungslosigkeit angesichts des Geschöpfes überwältigt, das diese Aura produzierte. Ihm wurde bewußt, daß er ein Sterblicher im Einflußbereich eines übernatürlichen Wesens war. Und er spürte diese seine Sterblichkeit, wie man eine schreckliche Last spüren würde; nicht nur auf dem Rücken, sondern auch in seinem Inneren. Seine Seele besaß Masse und Gewicht, sein Geist glich einem toten Albatros, der ihn mit seinem Bleigewicht zum Mittelpunkt der Erde zog. Er fühlte eine unglaubliche Trägheit, und sein Handeln und Denken kamen ihm schwerfällig und unbeholfen vor.

Dave hob langsam Dannys zerbrechlichen Körper vom Rücksitz des Wagens und legte ihn ehrfurchtsvoll auf den Boden. Die arme, geschundene Gestalt seines Freundes, bis zur Unkenntlichkeit verwüstet, glich einer braunen, zwischen den toten Blättern des Herbstes gefundenen, vertrockneten Voodoo-Puppe; einer Vogelscheuche. Der schmale Brustkorb unter der Decke senkte und hob sich langsam in einem unhörbaren Takt. Danny, mit Löchern übersät, von Krankheiten aufgefressen, aus Mangel an Flüssigkeit und Nahrungsmitteln zusammengeschrumpft, lebte kaum noch. Er war nur noch der Schatten eines Schattens, der sich hartnäckig an den Rand des Hier und Jetzt klammerte.

Dave riß die Polster des Rücksitzes heraus, legte sie auf den Boden und bettete Danny darauf, als wolle er ihn einer Gottheit opfern.

Dann hob er das Gesicht dem Glanz entgegen und rief: »Ich bitte dich nicht darum, ihn zum Leben zu erwecken – das besitzt er bereits, und er wird sich daran klammern, solange es ihm erlaubt ist. Ich möchte nur, daß du ihn heilst. Du läßt mich besser nicht im Stich, oder ich werde mich nach meinem Tod Manovitch anschließen und dich niederhetzen, selbst wenn das die ewige Verdammnis bedeutet. Also hilf mir.«

Es war fraglich, ob es klug war, dem Erzengel zu drohen, statt ihn zu bitten, aber Dave Peters bat niemals jemanden um etwas. Nicht, wenn er einfach nur Gerechtigkeit wollte. Er hatte einmal um etwas gebeten, um die Rückkehr seiner Frau ins Reich der Lebenden, aber man hatte seine Bitten ignoriert. Jetzt wollte er das, was er verdient zu haben meinte: das Leben seines Freundes, das noch nicht ganz von ihm genommen und deshalb leichter zu geben war.

Er stieg in den Wagen und wartete.

Nach einer Weile tauchte eine zumindest äußerlich strahlende Petra aus dem Licht auf.

Sie setzte sich neben Dave und fuhr westwärts, auf die wirkliche Welt zu.

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