KAPITEL DREISSIG
Dave kam wieder zu sich, als er durch einen steinernen Gang getragen wurde. Er sah graue Steinwände, die wie ein Fluß an ihm vorüberglitten. Nach ein paar Minuten wurde ihm klar, daß es keine Wände, sondern der Fußboden war. Gates hatte ihn, wie er richtig vermutete, an Händen und Füßen gefesselt und ihn sich über die Schulter geworfen.
Außerdem war er naß, genau wie Gates.
»Wo bin ich?« stöhnte er.
»Im Tower – ist das nicht schön? Du wirst hier sterben. Kannst dich geehrt fühlen, Cop. Hier ließen Lords und Ladys ihr Leben. Sogar Könige und Königinnen. Mein guter Freund Stan Gates weiß alles darüber. Hier rollten früher Köpfe. Prinzen wurden erdrosselt. Königliche Hoheiten verspritzen ihre Innereien über das Gras draußen. Ich wette, das gefällt dir gut, hm? Sogar ausgezeichnet, nicht wahr? Dein rotes amerikanisches Blut wird die gleichen Steine besudeln wie das blaue Blut britischer Aristokraten. Da kommst du ins Grübeln, oder? Ein ganz gewöhnlicher Kerl wie du stirbt, wo sonst der Adel starb. Deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen.«
»Was zum Teufel ist hier los?« murmelte Dave.
»Was hier los ist?« antwortete sein Kidnapper gutgelaunt.
»Dein alter Freund Manny ist los. Du erinnerst dich doch an mich, oder? Ich verrate dir, wie es weitergehen wird, Peters. Zuerst werde ich dich vergewaltigen, wie deinen Kumpel Lloyd. Ich erniedrige dich, demütige dich und lasse deinen stinkenden Geist schrumpfen. Dann wirst du sterben, sehr langsam und so schmerzhaft wie möglich. Und gerade wenn du glaubst, du hättest mich zum letzten Mal gesehen, treffen wir uns auf den Schlachtfeldern von Armageddon wieder, wo ich deine Seele vernichten werde. Wie gefällt dir das? Klingt gut, was?«
»Du kranker Bastard.« Dave spie aus.
Manovitch lachte. »Krank? Ich bin nicht krank, ich bin tot. Übrigens, Danny Spitz, ein alter Kumpel von uns beiden, hängt auch hier. Scheiße, du solltest stolz auf ihn sein. Er ist nicht leicht zu töten. Ich habe ihn ausgehungert, an den Händen aufgehängt, ihn gefoltert – aber der kleine Bastard lebt immer noch…« Manovitch gluckste. »Bringt dich ins Grübeln, nicht wahr. So ein dummer kleiner Bastard wie er? Wollen hoffen, daß du genausoviel Mumm in den Knochen hast.«
»O Gott, der arme Danny«, stöhnte Dave.
»Genau…«, spottete Manovitch, als sie die Zelle am Ende des Ganges betraten.
Plötzlich blieb Manovitch stehen. Dave spürte, daß etwas nicht stimmte. Manovitch ließ ihn auf den schmutzigen Boden fallen. Er landete auf dem Rücken. Dave rang nach Luft, während Manovitch zur gegenüberliegenden Wand rannte. Als er sich herumwälzte, sah er, wie Manovitch mit den Händen über die Wand fuhr. »Wo ist er? Wo ist der kleine Scheißer?«
Dave lachte hysterisch. »Er ist abgehauen, stimmt’s, du Idiot? Danny ist geflohen.«
»Er konnte nicht fliehen«, schrie Manovitch. »Ich habe ihn an den Löchern in seinen Händen aufgehängt. Ich habe den Bastard gekreuzigt. Er war hinüber, verfault – es war nichts mehr von ihm übrig. Er war nur noch Haut und Knochen. Der Kerl war so gut wie tot.«
Dave zuckte bei Manovitchs Beschreibung zusammen, aber er würde Manovitch nicht zeigen, was er fühlte. »Du kannst Menschen wie Danny nicht töten. Sein Glaube ist zu stark. Seine Überzeugungen schützen ihn. Und genau das hat gottlose Bastarde wie dich durch die Jahrhunderte hindurch stets besiegt.«
»Ich sage dir, er war fertig«, brüllte Manovitch wütend. »Ich habe ihn gebrochen. Ich habe ihn vernichtet.«
»Du bist ein verdammter Lügner, und das weißt du. Du kannst Danny in einer Million Jahren nicht zerbrechen. Ich wette, er hat gesungen?«
Danny summte oder sang immer, wenn er im Streß war, und Dave vermutet, daß er auch an diesem Ort gesungen hatte, um sich zu trösten.
»Er hat um Gnade gewinselt«, kreischte Manovitch, während er wild um sich schaute.
»Lügner!« schrie Dave.
Manovitch kam zu ihm und trat ihn mit voller Wucht in die Nieren. »Halt dein Maul!« Dann packte er Dave am Kragen und zerrte ihn den Gang hinunter. Dave rang nach Luft. »Ich werde für dich einen anderen Platz finden«, knurrte Manovitch. »Und dann suche ich deinen Kumpel. Vielleicht haben die Ratten ihn gefressen.«
Die harten Steine hinterließen bei Dave blaue Flecken. Doch er sah jetzt einen schwachen Hoffnungsschimmer. Danny hatte fliehen können. Aber wie? Und konnte man von ihm Hilfe erwarten?
Manovitch zerrte Dave weiter durch einen kurzen Tunnel, über den Toweranger, wo so viele ihren Kopf verloren hatten, und dann zum Fluß. Kurz vor dem Traitor’s Gates hörte Dave hinter sich jemanden schreien. Es gelang ihm, den Kopf zu drehen. Es war Petra und ein Mann, den er nicht kannte.
Manovitch ließ ihn los und fluchte laut. Dann schwang er sich empor und flog auf die Wand zu. Dave sah, wie Petra in die Hocke ging und zielte. Er hörte einen Schuß. Das Geschoß traf etwa zwei Meter von Manovitch entfernt auf die Mauer, die in Flammen aufging. Aber Manovitch hatte unverletzt entkommen können.
Petra lief mit blassem Gesicht auf Dave zu und ließ ihre Waffe fallen, um seine Fesseln zu lösen.
»Sind Sie verletzt?« fragte sie.
Sie schaffte es allein nicht, die engen Knoten zu lösen. Aber zusammen mit dem Towerführer gelang es ihr, ihn zu befreien. Der Mann ging fort, um Smith anzurufen, während Petra sich um Dave kümmerte.
»Sie haben ihn nicht erwischt«, sagte Dave niedergeschlagen.
»Ich habe ihn verfehlt«, bestätigte Petra. »Ich habe versucht…«
Etwas verwirrte Dave. »Manovitch hat zwei Pistolen – Stan Gates’ und meine. Weshalb benutzte er sie nicht?«
»Wahrscheinlich weiß er nicht, wie sie funktionieren. Gates weiß es, aber so wie es aussieht, kann Manovitch ihn nicht zwingen, seine Freunde zu töten.«
Dave stand auf und rieb sich die Handknöchel. »Er hat Stans Körper übernommen?«
Petra nickte. »Wie ich Petras Körper übernahm.«
Dave starrte sie an und fragte sich, was sie damit sagen wollte. »Was ist los? Wo ist Danny?«
»Ich weiß nicht.« Petra starrte die Mauer an, über die Manovitch entkommen war. »Diesmal hätten wir ihn erwischen sollen – ich wünschte, wir hätten ihn erwischt. Meine Zeit wird knapp.«
»Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben«, sagte Dave bitter.
»Nicht ganz«, erwiderte Petra. »Manovitch hat Stan nicht vernichtet, als er in dessen Körper eindrang. Als er Xavier übernahm, hat er dessen Seele in Stücke gerissen und gegessen und sie damit auf ewig vernichtet. Aber Manovitch brauchte Stans Seele als Schild, um sich dahinter zu verstecken, wenn ich in der Nähe war. Ich konnte Manovitchs Gegenwart nicht spüren, solange er von Stans Seele umgeben war. Und er brauchte Stan, weil er sich hier auskennt. Er brauchte Stans Wissen.
Aber er ist mit Stan Gates’ Geist vernetzt und kann sich nicht mehr von ihm trennen. Er ist eine tote Seele, die mit einer lebendigen Seele verbunden ist. Manovitch besitzt zwar die Kontrolle, aber er kann sich nicht von Stan Gates lösen – er kann dessen Körper nicht verlassen und in einen anderen überwechseln, wie es bei Xavier der Fall gewesen war. Er sitzt in der Falle. Wenn wir Stan Gates finden, haben wir Manovitch gefunden. Und dann können wir ihn vernichten…«
»Aber um ihn zu vernichten, müssen wir Stan Gates töten«, sagte Dave.
Petra schaute ihn an und sagte: »Gates war schon verloren, als Manovitch von ihm Besitz ergriff, von seinem Körper und seiner Seele. Wenn Stans ewiger Geist stark ist, wird ihn die tote Seele, die ihn besitzt, nicht verderben. Aber sein Erdenleben ist zu Ende. Selbst wenn wir Manovitch nicht erwischen sollten, wird Stan sterben, sobald die tote Seele ihn verläßt.«
Dave boxte sich in die Handfläche. »Jetzt wissen wir endlich, wen wir jagen müssen! Jetzt können wir Rundschreiben mit seiner Beschreibung verschicken. Wir werden den Bastard fertigmachen und in die Hölle zurückschicken, wo er hingehört.«
»Wir – das heißt, der Erzengel – möchte Manovitch nicht wieder in der Hölle haben. Er möchte ihn hier haben, wo er vernichtet werden kann«, sagte Petra.
»Der Erzengel kann mögen, was er will«, sagte Dave mit zusammengekniffenen Augen. »Ich sehe die Sache so: Wenn wir Manovitch los sind, sind wir auch den Erzengel los. Das hier ist nicht Armageddon, sondern das Land der Lebenden. Ihr könnt eure Kämpfe zu eurer Zeit, an eurem Platz austragen.«
»Eines Tages werden auch Sie darin verwickelt sein.«
»Aber bis dahin pfeife ich drauf«, erwiderte Dave.
Der Towerführer kam über die Wiese gerannt. »Jesus«, stieß er hervor, »Sie müssen sofort kommen. Ich habe jemanden gefunden. Er ist in einem bedauernswerten Zustand. Sie werden es nicht glauben. Er hat sich in einer Ecke versteckt.«
»Danny«, sagte Dave, und dann: »Kommen Sie.«
Er folgte dem besorgten Mann, der ihm erklärte: »Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Aber ich weiß nicht…«
Sie fanden ein Geschöpf, leichter als ein Kind, eine dreckige, nackte Kreatur, die in der schmutzigen Ecke einer anderen Zelle hockte, wohin sie wahrscheinlich gekrochen war. Der ›bedauernswerte Zustand‹, von dem der Towerführer gesprochen hatte, erwies sich als maßlose Untertreibung. Der Mann stand an der Schwelle des Todes. Er war ausgemergelt und krank und in einer fürchterlichen Verfassung.
Dave schaute auf ihn und sah ein Opfer des Holocaust. Er sah einen Mann, der in eine Welt hinübergegangen war, die von geistig Gesunden nicht betreten werden konnte. Er sah ein zerbrechliches, abgemagertes Wesen, von Entzündungen übersät, dessen hervorstehende Knochen die durchsichtige Haut zu sprengen drohten, dessen wild starrende Augen aus dem totenschädelgleichen Kopf traten, dessen Gesicht von offenen Wunden und Hautkrankheiten entstellt war. Die Kreatur dort auf dem Boden stank nach faulendem Fleisch und nach Schmutz. Sie war ein übelriechender Sack voller Angst und Tod. Dave kämpfte, um ein Würgen zu unterdrücken, aber vergebens. Das konnte unmöglich Danny sein.
»Das ist nicht Danny«, sagte er mit schriller Stimme. »Ich sage Ihnen, das hier ist nicht Danny.«
»Würden Sie bitte draußen warten?« sagte Petra zu Dave.
»Das kann nicht sein«, sagte Dave. »Ich glaube nicht, daß das Danny ist – Danny ist nicht…«
Die Kreatur auf dem Boden krächzte: »Dave? Bist du’s, Dave? O Gott, ich bin blind, Dave, ich bin blind.«
Dave lief es kalt den Rücken herunter. Er zitterte vor Angst. »Ist er es wirklich?« flüsterte er.
Wie konnte diese Kreatur Danny Spitz sein – der lustige Bruder Tuck? Wie war das möglich? Dort auf dem Boden lag nichts außer Knochen und Haaren, die darauf warteten, eingesammelt und in ein Grab geworfen zu werden. Dave konnte immer noch nicht glauben, daß es Danny war.
Die krächzende Stimme meldete sich ein zweites Mal. »Ich habe ihn hereingelegt, Dave, ich bin abgehauen. Ich habe mich durch meine Hände gegessen.«
Danny zeigte ihnen seine Handflächen, wie ein kleiner Junge, der etwas enthüllt, das er sich ohne Einwilligung genommen hatte. Danny hatte sich wie ein wildes, in einer Schlingenfalle gefangenes Tier durch seine Hand genagt, hatte so lange an seinem Fleisch gekaut, bis er seine Hände von den Ketten befreien konnte, die ihn festhielten. Dann war er fortgekrochen, um an einem anderen Ort in Frieden zu sterben.
Dave fühlte sich schwach und krank. Was war das für ein Geist, der einen Mann in diesem Zustand am Leben hielt? Dave schwindelte bei dem Gedanken an das, was er gehört hatte, an das, was er hier und jetzt sah.
Kurze Zeit später traf Lloyd Smith ein, zusammen mit der Polizei und einem Krankenwagen. Danny wurde ins Krankenhaus gefahren. Lloyd überbrachte Dave die schlechte Nachricht.
»Sie können nichts mehr für ihn tun«, sagte er. »Es ist schon zu weit fortgeschritten. Wahrscheinlich wird er an Nierenversagen sterben, falls sein Herz die Nacht durchhält. Tut mir leid, Dave.« Er legte die Hand auf Daves Schulter.
»Er wird an einen Ort kommen, wo es ihm gutgeht…« sagte Petra.
Daves Kopf schoß hoch. Er schnappte: »Ich möchte nicht, daß er an einen Ort kommt, wo es ihm gutgeht; ich will, daß er hier bleibt. Er ist noch jung. Er hat noch viele Jahre vor sich.«
»Er ist sein ganzes Leben lang unglücklich gewesen«, sagte Petra leise.
»Lieber unglücklich und lebendig als tot und glücklich. Ich brauche ihn«, sagte Dave.
Petra zuckte mit den Schultern. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, alles, um ihn hier zu halten.« Dann ging sie.
Dave wußte nicht, was sie damit sagen wollte, aber es war das Hoffnungsvollste, was er bis jetzt gehört hatte.
»Was, was können wir tun?« fragte er.