KAPITEL DREIUNDDREISSIG




Rajeb legte weiße Blumen auf das Grab, wo Daphnes Asche in einem Zedernholzkästchen ruhte. Rajeb war weder Christ noch Anhänger einer bestimmten Religion, aber er erkannte die Gegenwart eines höheren Wesens an. Seiner Meinung nach war das Universum für gewöhnliche Sterbliche viel zu kompliziert, und da er glaubte, daß nichts, was existierte, jenseits allen Begreifens war, mußte es ein Wesen, eine Wesenheit geben, das die Komplexität begriff. Er wußte nicht, wie diese Wesenheit aussah, aber er war bereit, aufzustehen und zu jenen gezählt zu werden, die glaubten, das Leben habe einen Sinn.

»Ich werde ihn erwischen«, flüsterte Rajeb. »Ich werde dafür sorgen, daß er für das zahlt, was er dir angetan hat, Darling.«

Kakerlaken krochen über die Gräber. Rajeb war froh, daß Daphne verbrannt worden war. Die Vorstellung, daß sie sich an Daphnes sterblichen Überresten gütlich tun könnten, hätte ihn umgeworfen.

Es war ein windiger, grauer Tag. Die Wolken eilten wie Flüchtlinge über den Himmel. Die Baumwipfel schwankten, die Äste peitschten. Ein schwarzweißes Blatt Papier wurde über den Friedhof geweht, um schließlich an den Eisengittern hängenzubleiben. Rajebs lange, kohlrabenschwarze Haare legten sich um seinen Hals und spielten mit seinem Hemdkragen. Es war einer dieser Tage, der einen Abschied noch trauriger machte. Dunkle Niedergeschlagenheit war aus einer sonnenlosen Region hinabgesunken, schwebte über der Erde und machte die Atmosphäre stumpf, schwer und so trübe wie den Rauch einer Dampflok.

Rajeb schwelgte nicht in wilden Rachegedanken. Seine Vorfahren hatten einem unzivilisierten Stamm angehört, der Blutfehden als ehrenhaft und angemessen betrachtete. Sie wären bereit gewesen, einen Mann zu töten, nur weil er in ihren Schatten getreten war oder ihre Frauen zu lange angestarrt hatte. Die hitzige Natur seiner beiden Großväter war auch nach zwei Generationen noch nicht ganz aus seinem Körper herausgefiltert worden. Selbst als Junge auf dem Pausenhof einer Londoner Schule hatte sein Temperament ihm Respekt verschafft und die Schläger und Rassisten gelehrt, sich von ihm fernzuhalten.

Er hatte weiße Rosen auf Daphnes Grab gelegt. Sie standen für Unschuld und Reinheit. Rajeb schmerzte es, daß sie sich in einem Netz verfangen hatte, das durch seine Arbeit entstanden war. Wäre sie nicht seine Freundin gewesen, würde sie noch leben. Jetzt durchschaute er Manovitchs Plan, ihn aus dem Weg zu räumen, indem er ihn durch Kummer betäubte und unbeweglich machte. Nun, der Plan hatte funktioniert – wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Doch jetzt war die Zeit des Weinens vorbei und die Zeit des Handelns gekommen. Rajeb wollte nur eins: daß Manovitch vernichtet, und daß er persönlich daran beteiligt sein würde.

Rajeb schaute auf, weil er auf der anderen Seite des Friedhofes eine Bewegung wahrgenommen hatte. Er sah eine dunkle Gestalt. Es war jemand, den er kannte. Die Gestalt kam auf ihn zu, schlängelte sich zwischen den Grabsteinen hindurch, stets darauf bedacht, nicht auf die Hügel zu treten.

»Erzdiakon?« sagte Rajeb.

»Ich bin nur gekommen, um Daphne meine Wertschätzung zu bezeugen«, sagte Lloyd ernst. Er schwieg kurz und starrte auf die frisch aufgeworfene Erde. »Seltsam, diese Ausdrücke. Wertschätzung. Ich habe sie kaum gekannt, warum also soll ich sie als Tote wertschätzen? Vielleicht…«, er schaute Rajeb an, »vielleicht halte ich Daphne für einen integren und ehrenhaften Menschen, weil ich Sie wertschätze. Ich erkenne diese Wesenszüge in Ihnen, Rajeb, und nehme deshalb an, daß auch Daphne sie besessen hat. Habe ich recht?«

Rajeb hob den Blick nicht von Daphnes Grab. »Ich weiß nicht.«

»Nun, ich denke, ich habe recht«, sagte Lloyd. »Diese Eigenschaften sind gut, besonders wenn ein Polizist sie besitzt. In Ihrem Beruf ist es, wie in meinem, leicht, korrumpiert zu werden. Nicht unbedingt durch Geldgier, sondern durch die Arbeit selbst. Polizisten haben derart häufig mit der unerquicklichen Seite des Lebens zu tun, daß sie leicht dem Irrtum erliegen können, die ganze Welt sei schlecht – es gebe keine anständigen Menschen mehr, und es sei besser, auf jeden Fall ein Geständnis zu bekommen, selbst wenn das bedeutet, daß jemand für das Verbrechen eines anderen bezahlen muß. Der gewohnheitsmäßige Kontakt mit schlechten Menschen mag für die Vorstellung verantwortlich sein, daß es, wenn alle Mensch schlecht sind, gleichgültig ist, wer für ein Verbrechen verurteilt wird. Aber das ist meiner Meinung nach ein Irrtum.«

»Was versuchen Sie mir zu sagen, Mr. Smith?«

Lloyd seufzte. »Ich denke, ich sehe in Ihnen einen guten Polizisten, einen rechtschaffenen Detective. Und diese Rechtschaffenheit muß beschützt werden. Lassen Sie sich von diesem Unglück nicht verbittern. Sie sind zu jung, um von verderbten Kreaturen wie Manovitch besudelt zu werden.«

Rajeb krümmte sich in seiner Jacke. »Ich will, daß er vernichtet wird, Mr. Smith. Ich würde ihn auch gern leiden sehen, obwohl ich nicht denke, daß er uns dieses Vergnügen machen wird. Aber ich möchte ihn brennen sehen.«

»Das ist ganz natürlich. Aber belassen Sie es dabei. Lösen Sie sich von ihm, sobald er vernichtet worden ist. Fahren Sie nicht fort, ihn in anderen zu suchen.«

Der junge Polizist nickte. »Ich will es versuchen.«

Lloyd lächelte und legte die Hand auf Rajebs Schulter. »Kommen Sie. Auf uns wartet noch Arbeit. Wir können doch nicht zulassen, daß die Yankees allen Ruhm einheimsen. Wir haben auch eine Rolle zu spielen.«

»Das hatte ich auch vor«, sagte Rajeb, während er eine Kakerlake zertrat. »Mir ist noch eine Idee gekommen.«

Lloyd bedachte ihn mit einem Seitenblick. »Eine Idee?«

»Ja. Eine Idee, wie wir Manovitch erwischen könnten.« Lloyd nickte. »Nun, es ist zwar schon ein wenig spät, aber lassen Sie hören.«

Dann gingen sie über den windigen Friedhof zu den schmiedeeisernen Toren.


Dave Peters stand unter den Augen vorsichtiger Wachposten vor der Barriere und starrte auf die Lichtkuppel. Man hatte ihm den Anschlag noch nicht verziehen, und viele Militärs hätten liebend gern gesehen, wenn man ihn aus Großbritannien ausgewiesen hätte. Es war nur Lloyd Smith’ Einfluß zu verdanken, daß er noch hier war. Dave hatte ohne Erlaubnis vom Militär okkupierten Boden betreten, und er war ein Fremder. Beides reichte für die Generäle in ihren Whitehall-Pubs aus, Versprechen und Drohungen in ihren Gin-Tonic zu speien.

Dave verbrachte die letzten Minuten vor dem Aufbruch zum Krematorium vor der Lichtkuppel, in der Hoffnung, daß Danny herauskommen würde. Dave wollte wissen, daß sein Freund lebendig und gesund war, falls etwas geschehen und er ihn nie wiedersehen sollte.

Ein Polizist rief ihm von seinem Fahrzeug aus zu: »Constable Patel und Erzdiakon Smith haben soeben den Friedhof verlassen. Manovitch wurde bereits zweimal gesichtet.«

Dave rückte die Sonnenbrille zurecht, warf einen letzten, langen Blick auf das Licht, drehte sich um und ging zum Wagen. »Wo?«

»Südlich des Flusses«, sagte der Polizist. »Er ist zu Fuß und geht in Richtung Battersea. Sie haben in den Straßen verlauten lassen, daß Sie bereit sind, Manovitch im Krematorium zu treffen.«

»Stimmt«, sagte Dave und sprang in den Wagen.

Der junge Polizist fuhr ihn zum Fluß und über die Chelsea Bridge.

Am Ufer der Themse und auf dem Fluß selbst war es ruhig. Man hatte das ganze Gebiet evakuiert und die flußabwärts und flußaufwärts fahrenden Schiffe angehalten, damit sie Battersea nicht passierten. Zwischen der Albert und der Vauxhall Bridge waren Straßensperren errichtet worden, und die Grosvenor Bridge war für den Zugverkehr gesperrt. Nur ein alter, von zwei Polizeibooten flankierter Lastkahn befand sich noch dort.

Entlang der Strecke waren in regelmäßigen Abständen Soldaten stationiert, und die Polizei wartete neben ihren Fahrzeugen. Nur der Wagen, in dem Dave saß, bewegte sich. Gespannte Erwartung machte sich breit. Männer und Frauen waren auf der Hut. Gelegentlich schauten sie in Richtung des Erzengels.

Diejenigen unter ihnen, die einen guten Platz ergattert hatten, waren glücklich und ängstlich zugleich.

Während sie langsam über die Brücke fuhren, betrachtete Dave den Himmel und staunte über das britische Wetter. Gestern noch war es warm und wolkenlos gewesen, und heute morgen hatte es geregnet. Jetzt war es stürmisch, mit einer kalten Unterströmung. Verrücktes Wetter, dachte er, es ändert sich von Minute zu Minute. »Der Fluß sieht heute seltsam aus«, sagte er, als er auf die Themse hinabschaute, die heute so ruhig wie sonst nie war.

»Das liegt an den Schiffen«, sagte der Fahrer. »Es gibt keinen Flußverkehr, der das Wasser aufwühlt.«

»Genau«, sagte Dave. »Das muß es sein.«

Als sie auf der Brückenmitte angelangt waren, kam Lloyd Smith’ Road Rover aus der entgegengesetzten Richtung auf sie zu. Die beiden Fahrzeuge trafen sich auf halbem Weg. Lloyd stieg aus, flankiert von vier stämmigen Polizisten.

Dave kletterte ebenfalls aus dem Wagen und ging zu ihm. »Was ist los?« fragte er.

»Der Plan hat sich geändert«, sagte Lloyd gutgelaunt.

»Sie hätten sich mit mir beraten sollen.« Dave war frustriert und gekränkt. »Und wie sieht der neue Plan aus?«

Lloyd legte den Arm um Daves Schulter und führte ihn zum Brückenrand.

»Wir werden Sie zu dem Lastkahn in der Mitte des Flusses bringen. Wissen Sie, unser erster Plan, Manovitch in einem Verbrennungsofen einzuäschern, würde nicht funktionieren. Er ist sehr gefahrvoll und zu kompliziert; zu riskant. Der neue Plan ist um einiges sicherer.«

»Schießen Sie los.«

»Nun, wie ich bereits sagte, man bringt Sie an Bord eines Lastkahns. Und wenn Manovitch versucht, zu Ihnen zu gelangen, werden wir ihn mit einem Netz einfangen.«

»Mit einem Netz?«

»Ja, ein Hubschrauber steht in Bereitschaft – nun, eigentlich zwei. Wenn es soweit ist, werden wir herabstoßen und ihn schnappen. Danach können wir mit ihm tun, was immer wir wollen. Wir errichten einen Scheiterhaufen und lassen ihn hineinfallen. Oder wir übergeben ihn dem Erzengel. Egal. Diesmal wird er uns nicht entgehen.«

Dave war nicht sicher, ob der neue Plan funktionieren würde. Er klang genauso kompliziert wie der Versuch, Manovitch in einen der Verbrennungsöfen zu locken.

»Und was geschieht, wenn er das Netz zerreißt?«

»Das ist unmöglich«, sagte Lloyd. »Es besteht aus Stahl und besitzt eine extrem hohe Zugfestigkeit. Er kann es nicht zerreißen.«

Dave schüttelte langsam den Kopf und starrte auf die Themse hinab, auf der gerade ein Lastkahn zur Flußmitte geschleppt wurde, vermutlich, um dort vor Anker zu gehen. »So etwas habe ich in Variationen bereits ein dutzendmal gehört. Und jedesmal hat es sich als falsch erwiesen. Was geschieht, wenn ich mich weigere und am Originalplan festhalte?«

»Tut mir leid. Ihnen bleibt keine andere Wahl«, sagte Lloyd. »Sie sind unser Köder, und ich bin bereit, nötigenfalls Gewalt anzuwenden. Aber ich hoffe, es ist nicht nötig. Es wäre mir lieber, Sie würden freiwillig mitmachen.«

Dave betrachtete die vier Polizisten und kam zu dem Schluß, daß er zwei von ihnen ausschalten könnte, bevor die beiden übrigen ihn überwältigten.

»Okay«, sagte er. »Sie haben mich.«

»Sehr klug, Dave. Ich bin froh über Ihre Bereitschaft, zu kooperieren. Bei diesem Plan kann kaum etwas schiefgehen.«

»Auch das habe ich schon einmal gehört.«

Dave und Lloyd stiegen in Lloyds Wagen. Man brachte Dave zu einer Anlegestelle und von dort zum Lastkahn, der jetzt in der Flußmitte verankert war.

»Haben Sie Ihren Revolver dabei?« fragte Lloyd.

»Ja. Aber ich möchte von Ihnen die Versicherung, daß ich ihn nicht brauchen werde.«

»Keine Angst. Sie werden ihn nicht brauchen. Wir schnappen ihn uns, bevor er Sie erreicht hat. Sehen Sie das Stroh dort?«

Dave bemerkte, daß ein großer Bereich in der Mitte des Kahns mit Stroh bedeckt war. Es wirkte ganz natürlich, mit den Sackleinenstücken und dem lose herumliegenden Seil; so, als hätte man auf dem Kahn Vieh transportiert. Dave kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Gut.«

»Sie müssen Manovitch dorthin locken, ohne den Bereich zu betreten. Unter dem Stroh sind Fußangeln versteckt.«

»Okay.«

»Es sollte keine große Mühe machen«, sagte Lloyd.

»Weshalb klingt das in meinen Ohren so wenig überzeugend?« fragte Dave.

Lloyd zuckte die Achseln. »Viel Glück.«

»Ja.«

Das Polizeiboot gab ein kehliges Röhren von sich, dann fuhr es davon. Dave blieb zurück; eine einsame Gestalt, die auf ihren Widersacher wartete. Wirbelndes Grau umgab ihn. In den am Themseufer gelegenen Gebäuden richteten Pressefotografen ihre Kameras auf ihn, waren Zoomlinsen bereit, den letzten Kampf einzufangen. Im Osten brannte das stete Licht, dessen Urheber ebenfalls wartete. Zu seinen Füßen lag ein Mann, der bereit war, aufzuerstehen.

Auf der Albert Bridge ein wenig weiter flußabwärts stand eine weitere einsame Gestalt: Rajeb Patel. Auch er wartete. Rachegedanken erfüllten sein Herz.

Загрузка...