KAPITEL EINUNDZWANZIG




Der siebenjährige Tommy Jenkins weckte seine Mutter mitten in der Nacht, indem er an ihren Schultern rüttelte.

»Ich glaube, Gott kommt.«

Sandra wohnte im obersten Stockwerk eines Hauses in Bayswater. Sie war eine aufgeweckte, intelligente Frau von dreiunddreißig Jahren, die nie das Bedürfnis gespürt hatte zu heiraten und ihr Kind allein aufzog. Sie hatte ein paar Jahre lang einen festen Freund gehabt, der, wie sie zugab, ein gutes männliches Vorbild für ihren Sohn gewesen war; es gab Menschen, die sagten, daß sie größeren Erfolg bei der Kindererziehung hatte als viele Paare. Und ihr Sohn hatte ihre Intelligenz geerbt.

»Was ist, Liebling?« murmelte sie im Halbschlaf.

»Hör mal!« drängte Tommy. »Ist das nicht Gott?«

Sandra setzte sich im Bett auf und war schließlich wach genug, um das entfernte Summen zu hören. Sie hatte nach Abschluß ihres Studiums für Hilfsorganisationen in Übersee gearbeitet, unter anderem in einem afrikanischen Land, das mit seinem Nachbarn Krieg führte. Sie wußte, wie sich ein Bombergeschwader anhörte, und dieses Summen ähnelte ihm. Ihre Nerven vibrierten vor Angst.

Sandra sprang aus dem Bett. »Schnell, unter den Küchentisch, Tommy, beeil dich, beeil dich.«

Die Angst seiner Mutter übertrug sich auf Tommy.

»Was ist los, Mummy?«

Sandra erkannte, daß sie ihren Sohn mit ihrer Angst angesteckt hatte und versuchte, Ruhe zu bewahren. Das Geräusch draußen wurde lauter. Ihre Panik nahm zu. Sie rang um Fassung.

»Es ist nichts, Tommy, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir uns unter den Küchentisch setzen. Etwas könnte das Gebäude zum Schwanken bringen, und dann wird der Putz herunterkommen. Du willst doch nicht, daß er auf dich fällt, oder?«

»Nein«, erwiderte Tommy unsicher.

Sie liefen in die Küche, krochen unter den kleinen Tisch und hielten sich bei den Händen. Sandra war sich nicht sicher, ob der Tisch das Gewicht der Decke aushalten würde, aber einen anderen Schutz besaßen sie nicht. In Afrika hatte sie sich immer unter die Treppe gestellt, wie ihre Großeltern im Zweiten Weltkrieg, aber in der Wohnung gab es keine Treppe, unter der sie sich hätten verstecken können.

Das Geräusch wurde lauter und lauter, bis es nicht mehr wie ein Bombergeschwader klang; dafür war die Tonhöhe zu niedrig. Was immer es auch war, es befand sich jetzt in Bodennähe. Was konnte es sein? Eine Maschine? Viele Maschinen?

Vorsichtig, mit klopfendem Herzen, kroch Sandra unter dem Tisch hervor, während sie immer noch Tommys Hand umklammert hielt. Sie gingen zum Fenster und starrten in die Dunkelheit des frühmorgendlichen London hinaus. Zuerst war nichts zu sehen, aber als Sandra zum bleichen Mond emporschaute, wurde dieser plötzlich von einer dunklen Wolke verfinstert. In der Ferne erloschen Straßenlaternen und Neonreklamen. Eine Welle der Dunkelheit schien auf Bayswater zuzurollen.

»Was ist das?« fragte sie, jetzt weniger ängstlich, da sie keine schweren Todesschwadronen am Himmel entdecken konnte.

Die Dunkelheit und das Geräusch hielten miteinander Schritt und erreichten und verschlangen schließlich die Wohnungen: Jedes Fenster auf der Südseite klirrte unter dem Ansturm der schwarzen Wolke, die mit der Kraft einer Gezeitenwelle gegen sie schlug. Die Gebäude vibrierten in ihren Grundfesten. In dem Licht, das aus ihren Fenstern drang, sah Sandra, daß die Wolke aus Unmassen kleiner Punkte bestand, Millionen und Millionen, und nicht, wie sie anfangs angenommen hatte, von einer rauchartigen Dichte war. Die Punkte, die für die Schwärze verantwortlich waren, sahen wie weiche Hagelkörner aus; nicht stark genug, um die Scheiben zu zerschlagen, aber zahllos genug, um das Haus erzittern zu lassen.

Das Geräusch dort draußen war entsetzlich.

»Was ist das, Mummy?« schrie Tommy, der seine frühere Ruhe verloren hatte.

»Nichts, wovor man Angst haben müßte«, sagte Sandra und strich ihm übers Haar; doch sie glaubte ihren eigenen Worten nicht.

Die Punkte drangen in die Wohnung ein. Sie kamen durch die Ventilatoren und die winzigen Risse zwischen Fenster und Fensterbank.

Und als sie durch Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und Küche surrten, erkannte Sandra, was die Punkte tatsächlich waren.

Fliegen!

Wäre Sandra Entomologin gewesen, hätte sie gesehen, daß es sich bei den Eindringlingen hauptsächlich um die Spezies St. Marks handelte, doch dieses Geschöpf wurde bei seinem Überfall auf London von Schwadronen anderer Fliegen begleitet, zum Beispiel von riesigen Schmeißfliegen.

Doch zu der summenden Masse gehörten auch Kriebelmücken, Rinderbremsen, Dasselfliegen, Gallwespen, gelbfüßige Dickkopffliegen, gemeine Waffenfliegen, riesige Pferdebremsen, Stubenfliegen, Fruchtfliegen und gestielte Raubfliegen sowie Moskitos, Zuckmücken und Bachmücken.

»O Gott«, stieß Sandra angeekelt hervor.

Dann begab sie sich schnurstracks zum Spülschrank, um die Dose Fliegenspray zu holen, doch eine innere Stimme sagte ihr, daß ein derart großes Problem nicht mit einer einzigen Dose SWAT gelöst werden konnte. Also suchte Sandra, vernünftig wie sie war, ein paar Lappen zusammen, machte sie naß, lief zu den Fenstern und begann, die Belüftung und die Lücken zwischen Fensterrahmen und Sims zu schließen. Als keine Fliege mehr eindringen konnte, versiegelte sie die Wohnungstür, über die die Eindringlinge als nächstes herfallen würden, da war sie sicher.

Tommy hatte sich mit einer zusammengerollten Zeitung bewaffnet und schickte sich an, die Armee der Eindringlinge zu vernichten.

»Hol dir auch eine, Mum«, brüllte er, während er mit der Zeitung in gefährlicher Nähe einer teuren Vase gegen die Wand schlug. Hellrote Flecken mit schwarzen Mittelpunkten begannen die Küchenwand zu zieren.

Sandra bewehrte sich mit einem feuchten Tischtuch und folgte in Tommys Kielwasser, wobei sie abwechselnd die Flecken von der Wand wischte oder mit dem Tuch zuschlug, das sich als wirksame Waffe entpuppte. Sie wollte die SWAT-Dose nicht benutzen, weil die Schwaden ohne Lüftung bald die ganze Wohnung erfüllen würden.

Diesen beiden tapferen Goliaths gelang es, die Horden von Davids in Zaum zu halten, die sie zu überwältigen drohten. Anderen Menschen in dieser Stadt war es nicht vergönnt. Sie hatten keinen aufmerksamen Tommy, der sie weckte und vor der Invasion warnte. Sie wurden in ihren Betten überrascht, schluckten Fliegen, würgten an den Wolken schwarzer Insekten, die ihnen in Ohren und Nase und durch die Kehle krabbelten. Einige brachten ihnen böse Bisse bei, während andere einfach nur lästig waren. Aber sie schwirrten zu Billionen herum und ließen ihre kleinen schwarzen Exkremente auf alles fallen, beschmutzten offen herumstehendes Geschirr und Tonwaren und taten sich an allen Nahrungsmitteln gütlich, die nicht verschlossen waren. Sie liebten und starben im eigenen Schmutz und begannen, gleich den Fröschen, alles zu verstopfen – von den Uhren bis zu den Zügen.

Und obgleich die Plage sich nicht weiter als bis Heathrow und Gatwick erstreckte, mußte in jener Nacht jedes Flugzeug über London rasch wieder in die Höhe steigen, um zu vermeiden, daß seine Motoren die Fliegen und Mücken einsaugten und sie über der Stadt abstürzten.

Es war die widerwärtigste Plage bisher.


Dave hatte sich noch nicht vom Schock über Dannys Tod erholt, als die Fliegen London angriffen. Er entschloß sich, ihnen ein paar Tage lang zu entfliehen und aufs Land zu fahren, nach Suffolk. Es war eine andere Welt: friedlich und ruhig und mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Hier draußen gab es auch Fliegen, aber in normaler Anzahl. Während der Fahrt schüttelte sich Dave, als er daran dachte, welchen Schmutz die Insekten mit sich bringen würden; Schmutz, der weitere Krankheiten im Gefolge haben würde.

Das Leben würde für eine Weile wieder einmal unerträglich, wie zu Zeiten der Frösche und Läuse.

Bei der Ankunft der Fliegen war Dave zum Glück in seinem Hotel gewesen, wo dickes Glas ihn schützte. Das Personal hatte rasch alles versiegelt. Aber draußen auf den Straßen starben die Menschen. Durch die Doppelglasscheibe hindurch beobachtete Dave, wie ein alter Mann in einer Wolke verschwand, die durch die Straßen schwebte, und würgend zu Boden ging, die Kehle verstopft, die Augen blind und tränend, Ohren und Nase voller Kriebelmücken. Er kam wieder auf die Füße, versuchte fortzulaufen und fiel drei oder vier Schritte weiter ein letztes Mal hin. Nachdem er von der schieren Masse ihrer toten Kameraden erstickt worden war, taten sich die lebenden Fliegen an seinen Körpersäften gütlich, die ihm aus allen Öffnungen sickerten.

Die Fliegen schwärmten weiter durch die Straßen, wobei sie sich fast wie ein einziger Körper bewegten. Ihr Gesumme war ohrenbetäubend. Es war, als flögen ganze Flugzeuggeschwader zwischen den Hochhäusern hindurch. Es war eine schwarze Masse geflügelten Unrats, die die Menschen binnen Sekunden in die Knie zwang, falls sie sich nicht schnell genug ein Taschentuch oder einen Schal um den Mund banden. Später sollten die Menschen Gasmasken tragen, aber anfangs war niemand auf eine solche Insektendichte vorbereitet. Die Londoner starben zu Dutzenden, schluckten massenweise Fliegen, füllten ungewollt ihre Mägen mit ihnen, als würden sie händeweise Kaviar in sich hineinstopfen.

Dave, dem es gelungen war, eine Gasmaske aufzutreiben, nahm die stadtauswärtsführende A12. Während der Fahrt sah er, wie die städtischen Müllmänner mit Masken, die seiner ähnelten, Leichen einsammelten und sie in die Müllwagen warfen. Für Feinheiten war jetzt keine Zeit. Dave sah Menschen mit eiternden, von der Läuseplage verursachten Wunden; Wunden, schwarz vor Fliegen, die sich am Eiter labten. Er sah Tote, die sich bewegten, als lebten sie noch, unter einer Decke aus Fliegen begraben. Es war eine unangenehme Reise.

Da seine Sicht behindert war, dauerte es eine Weile, bis er den Stadtrand von London erreichte. In dieser Zeit füllte sich der Wagen mit Fliegen. Doch einmal auf dem Lande, konnte er die Türen öffnen und die meisten von ihnen verscheuchen.

Er gehörte zu den Nachzüglern. Alle Hotels und Pensionen rund um London waren bereits ausgebucht, also fuhr er weiter bis zu einem kleinen Fischerdorf namens Walberswick.

Seemöwen und Meerschwalben schwebten über den rastlosen Wellen der grünen Nordsee. Im Süden machte er ein riesiges Gebäude aus, zweifellos ein Kraftwerk, und der Westen wurde von Sanddünen begrenzt. Der Rückzug der Flut hatte sumpfige Lachen hinterlassen, und Dave wäre beinahe auf ein Nest mit Vogeleiern getreten, das sich in einer kleinen Mulde aus Sand und Kies befand. Als er aufschaute, entdeckte er am Strand noch weitere Gelege.

»Paßt auf, Vogeleier«, sagte er.

Ein starker Wind blies, peitschte die Wellen empor. Dave spürte die Erregung des späten Frühlings in der Luft. Stelzvögel suchten dort, wo Meer und Land ineinander übergingen, nach Krusten- und Weichtieren. Im oberen Strandbereich wuchs Strandkohl. Gischtumspültes Treibholz, trockenes Seegras und käferförmige Eierschoten lagen in einer ordentlichen Wellenlinie an der Flutmarkierung und folgten der gewundenen Küste nach Süden.

Was für eine Müllhalde, dachte Dave. Wer kann hier leben? Hier gibt es nicht einmal richtige Wellen. Verglichen mit den Pazifikbrechern waren diese hier kaum der Rede wert. Und die einzigen Vögel, die er kannte, waren die guten, alten Möwen.

Er seufzte, als er an Danny dachte.

Was, vermisse ich den kleinen Kerl etwa? Er war ihm die meiste Zeit doch nur auf die Nüsse gegangen. Klar, er war ein guter Cop gewesen, aber er hatte diese seltsamen Angewohnheiten. Beispielsweise das Pulver vom Rand des Plastikkaffeebechers abzulecken. Hat mich immer wahnsinnig gemacht. Und dann die Huren und die Priester danach. Der Knabe war ein Ausbund an Komplexen.

Natürlich vermisse ich ihn, gestand er sich ein, oder ich würde ihn vermissen, wenn ich glauben könnte, daß er nicht mehr lebt. Dieser kleine Scheißer.

Daves Augen füllten sich im beißenden Wind der Nordsee mit Tränen, die er mit dem Handrücken fortwischte.

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