KAPITEL NEUNUNDZWANZIG




»Gott sei Dank sind diese schrecklichen Beulen endlich fort«, sagte Petra, während sie sich über den Nacken fuhr. Sie waren verschwunden, wie sie gekommen waren – in einer einzigen Nacht. Sie hatte diese großen, eitergefüllten Beulen gehaßt. »Ich hoffe, ich werde nie wieder so etwas bekommen.« Sie saß in der Hotellounge und trank die erste Tasse Kaffee des Tages.

Auch die Schlagzeilen der Zeitungen verkündeten ihre Erleichterung über das Verschwinden der letzten Plage, doch nicht, ohne vor der nächsten zu warnen. Die Leser wurden gebeten, in ihren Häusern zu bleiben, oder, falls sie schon hinausgehen mußten, sich wenigstens in unmittelbarer Reichweite eines Daches aufzuhalten, da man als nächstes eine Hagelplage erwartete.

»Hier steht«, bemerkte Petra zu Dave, der aus dem Fenster starrte, »daß die Plage im alten Ägypten jeden Sklaven tötete, der sich im Freien aufhielt. Meine Vorfahren waren Sklaven. Vielleicht sollte ich im Hotel bleiben.«

Das sollte ein Witz sein. Aber Dave hatte stets Probleme damit, einen an ihn gerichteten Scherz zu verstehen, besonders, wenn er derart in Gedanken vertieft war wie an diesem Morgen.

»Sklave – wer ist ein Sklave?«

»Vergessen Sie’s.« Petra seufzte.

»Und was machen Sie heute?« fragte Dave.

»Falls der Hagel früh kommt und geht, ist der Tower an der Reihe. Der Erzengel hat mich gebeten, dort nachzuschauen.«

Dave runzelte die Stirn. »Weshalb?«

»Diese Frage stelle ich nie«, erwiderte Petra.

»Ich dachte, der Tower sei wegen Reparaturarbeiten geschlossen?«

»Das stimmt. Er ist wegen Feuchtigkeit oder etwas Ähnlichem gesperrt. Aber Lloyd hat mir einen Ausweis besorgt, mit dem ich hineinkomme und einen Mann, der mich herumführt. Schließlich ist er ein Erzdiakon.«

»Glauben Sie, daß es dort sicher ist?«

»Weshalb fragen Sie?«

»Der Tower wird doch nicht während der Sightseeing-Tour über ihrem Kopf zerfallen, oder?«

Petra lachte. »Ich glaube nicht, daß es so schlimm ist. Putz und Mauerwerk bröckeln zwar ab, aber ich denke nicht, daß er gerade jetzt zusammenbrechen wird.«

»Passen Sie auf sich auf.«

»Nein, Lieutenant Peters«, sagte sie in ernstem Ton. »Passen Sie auf sich auf. Manovitch ist immer noch dort draußen. Wahrscheinlich wartet er nur darauf, daß Sie Dannys Spur aufnehmen. Dann kann er Sie beide mit einem Schlag erwischen.«

Lloyd Smith gesellte sich zu ihnen. Seine schmalen Hände zitterten sichtlich.

»Was ist los?« fragte Petra beunruhigt.

»Manovitch hat Constable Patels Freundin getötet«, sagte er leise. »Der arme Junge ist völlig am Boden zerstört.«

»O Gott«, rief Petra.

»Er ist jetzt bei ihren Verwandten. Sie versuchen einander zu trösten, aber Sie wissen ja, wie das ist; der Kummer kommt immer wieder. Als ich ging, weinten alle.« Tränen stiegen in Lloyds Augen. Er wischte sie rasch mit einem Taschentuch fort.

»Wie ist es geschehen?« fragte Dave. »Sind Sie sicher, daß es Manovitch war?«

»Nicht vollkommen sicher natürlich, aber es gibt kein einleuchtendes Motiv – keinen Diebstahl, nichts in der Art. Mit Daphne starb noch eine zweite Frau. Sie wurden beide in einer schmalen Passage zwischen zwei mehrstöckigen Gebäuden gefunden. Daphne wies Kampf spuren auf, das zweite Opfer war vor dem Sturz erwürgt worden. Die Frau war wahrscheinlich bereits vorher tot. Sie war eine sehr große Lady. Es braucht einen ungewöhnlich starken Mann, um neunzig Kilogramm über eine ein Meter zwanzig hohe Mauer zu hieven.«

»Gibt es sonst noch was?« fragte Dave. »Irgendwelche anderen Spuren?«

»Dem zweiten Opfer, einer Mrs. Lydia Storkey, gehörte ein Mini. Es gibt Anzeichen dafür, daß der Wagen erst aufs Dach und dann wieder auf die Räder gestellt wurde.«

»Wollen Sie damit sagen, daß der Wagen ins Schleudern geriet und umschlug?«

»Ich weiß nicht«, sagte Lloyd ratlos. »Ich gebe nur die Fakten weiter.«

Dave starrte aus dem Fenster. Heute morgen war nur wenig Verkehr auf der Straße. Die Menschen nahmen die Plagen jetzt ernster, und die siebte davon stand unmittelbar bevor. Doch die Suche nach Danny besaß Priorität. Wenn er ihn gefunden hatte, konnten sie gemeinsam Manovitch fertigmachen. Es war nicht zu übersehen, daß er immer näher kam. Daphne hatte zur Peripherie der Gruppe gehört, sie war nur eine unschuldige Verbindung gewesen. Doch wenn Manovitch von dieser Verbindung wußte, stand er kurz davor, sich Bruder Tuck und Mutter Teresa zu schnappen. Dave sorgte sich auch um Petra.

»Müssen Sie heute den Tower besuchen?«

»Weshalb fragen Sie? Nur weil es gefährlich werden könnte? Sie machen wohl Witze, Dave Peters. Wann hören Sie auf, Frauen zu beschützen und lassen sie an Ihren Unternehmungen teilnehmen?« fragte Petra.

»Ich schütze die Öffentlichkeit. Sie sind keine Polizistin.«

»Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Vielen Dank.«

Dave seufzte, als ihm klarwurde, daß er einen aussichtslosen Kampf focht. Er wandte sich an Lloyd. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Stan Gates wird Sie fahren.«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Dave. »Ich traue ihm nicht ganz über den Weg.«

»Sie könnten allein fahren, Lieutenant, wenn Sie keine Rückendeckung brauchten. London ist kein Ort, an dem sie jetzt, wo Manovitch immer näher kommt, allein draußen herumstreichen sollten.«

»Lloyd hat recht. Sie brauchen Gates«, sagte Petra.

»Okay«, brummte Dave. »Wo ist er?«

»Er wartet draußen im Wagen auf Sie.«

»Dann gehe ich jetzt.«

Dave überließ es Petra, Lloyd zu beruhigen, dem der Tod von Patels Freundin wirklich nahegegangen zu sein schien. Dave vermutete, daß Lloyd noch immer an den Folgen seines Zusammenstoßes mit Manovitch litt. Eine derart schreckliche Erfahrung, wie eine Vergewaltigung, hatte stets seelisches Leid im Gefolge. Jedesmal, wenn Manovitchs Name fiel, begann Lloyd zu zittern.

Dave konnte dem alten Mann keinen Vorwurf machen. Der große Cop krümmte sich innerlich, wenn er daran dachte, was Lloyd durchgemacht hatte. Es mußte die absolute Hölle gewesen sein. Dave bewunderte Lloyd sehr, der stärker zu sein schien, als er aussah. Die meisten Menschen hätten nach einer solchen Erfahrung die Arbeit niedergelegt.

Er dachte an Vanessa, die als Kind mehrmals von ihrem Vater vergewaltigt worden war. Was für eine schreckliche Welt. Wie bringen diese Menschen es fertig, geistig gesund zu bleiben?

Als Dave die Lobby betrat, sah er Stan Gates, der auf ihn wartete.

»Sieht so aus, als hätten Sie bekommen, was Sie wollten«, begrüßte er ihn.

Stan wirkte verwirrt. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie dürfen mich jetzt in London herumfahren. Ich würde wahrscheinlich auch allein klarkommen, wenn es in dieser Stadt nicht so viele Einbahnstraßen gäbe. Ich vermute, ich muß mit Ihnen vorliebnehmen.«

Stan sah beleidigt aus. »Hören Sie, ich habe nichts dagegen, Sie herumzukutschieren, aber es ist nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Weshalb glauben Sie, ich sei so wild auf den Job?«

»Sie haben es mir selbst gesagt.«

Stan schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht daran erinnern. Egal. Wohin möchten Sie heute?«

»Heathrow Airport.«

Die ersten Hagelkörner fielen, als sie zum Wagen gingen. Offensichtlich handelte es sich um Warnschüsse, die den Menschen zu verstehen gaben, daß sie Schutz suchen sollten. Dave starrte auf den Lichtdom des Erzengels und fragte sich, was dieses Wesen wohl denken mochte – falls es überhaupt dachte. Vielleicht besaß es kein Gehirn und auch nichts Entsprechendes. Vielleicht war es aus gänzlich anderen Materialien geschaffen als die gewöhnlichen Sterblichen.

Stan und Dave ignorierten die ersten Hagelschauer. Stan fädelte sich in den Verkehr ein und fuhr in südwestlicher Richtung zum Flughafen. Als dann der Sturm aufkam und die richtigen Hagelkörner wie Felsbrocken auf das Autodach einhämmerten, sah Stan sich gezwungen, an den Straßenrand zu fahren. Andere Fahrer machten es ihm nach. Sie standen wartend mitten auf der Brücke, während Hagelkörner das Dach einbeulten und große Eisbrocken von den Kotflügeln abprallten.

Es war ein furchtbares Geräusch. Die beiden Männer mußten sich die Lunge aus dem Leib schreien, um sich zu verständigen. Sie sahen, wie ein Fahrer sein eingedelltes Kabriolett verließ, das ihm wenigstens teilweise Schutz geboten hatte. Er schwankte ein paar Schritte vorwärts, nur um vom weißen Sturm niedergeschlagen zu werden. Hilflos mußten sie zuschauen, wie er in die Knie ging. Sein Gesicht war ausdruckslos. Der Mund stand offen. Die Augen starrten vor sich hin. Der Hagel ließ blaue Flecken auf seiner Haut erscheinen und begann, die Haut von seinen Backenknochen zu schälen. Schließlich fiel er flach auf den Boden. Hagelkörner prallten von seinem schlaffen Körper ab. Er war vor ihren Augen zu Tode gesteinigt worden.

Die Sicht war gleich Null. Die Insassen der Wagen waren vom Eis eingeschlossen, praktisch isoliert. Jeder Wagen war von weißen Eiswällen umgeben.

Doch nach einer halben Stunde ließen Stärke und Dichte des Sturmes nach, und Dave konnte den vor ihnen stehenden Wagen sehen, dessen Farbe vollkommen abgeschmirgelt worden war. Nur noch schimmerndes Metall war zu sehen. Soweit sie erkennen konnten, befand sich ihr Fahrzeug in einem ähnlichen Zustand.

Um sie herum und über die Straße verstreut lagen zerbrochene Wagenfenster. Glücklicherweise hatten die verstärkten, kugelsicheren Scheiben ihres Wagens dem Sturm standgehalten. Aber andere Autofahrer waren nicht so glücklich gewesen. Sie saßen bis zu den Knien in Hagelkörnern. Weiße Hügel: bewegungslose Körper, unter Hagelkörnern begraben. Passanten, die es nicht geschafft hatten, dem Sturm zu entkommen, lagen, vom Hagel erschlagen, auf den Bürgersteigen. Andere schwankten umher, eine undefinierbare Masse aus blauen Flecken, Schnittwunden und Beulen. Ein schlimmer Anblick.

»Jesus, schauen Sie sich das an!« sagte Dave.

Stan verspürte kein Verlangen, ihm zu antworten.

Der Hagel fiel noch eine gute Stunde lang, wenn auch nicht mehr so dicht. In dieser Zeit füllten sich die Straßen mit Eisklumpen, so groß wie altmodische Mottenkugeln. Dann wurde der Blizzard schwächer, um schließlich ganz aufzuhören. Als der Verkehr wieder floß, ließen sie sich mit ihm treiben.

Die Stadt sah aus, als hätte sie jemand in Polystyrol gepackt, um sie mit der Post zu verschicken.

Die Straßen hatten sich in gefährliche Rutschbahnen verwandelt. Wagen schleuderten und schlitterten über den Asphalt. Die Hagelkörner schmolzen rasch und verursachten kleinere Überschwemmungen in den Rinnsteinen und auf der Fahrbahn. Krankenwagen sammelten die Toten und Verletzten ein. Der Verkehr floß nur langsam.

»Als nächstes sollen die Wanderheuschrecken kommen«, sagte Dave mehr zu sich selbst als zu Stan Gates. »Aber ich glaube nicht daran.«

»Vielleicht Grashüpfer?« sagte Stan.

»Nein. Die Heuschrecken- und Grashüpferplagen werden mit dem Land assoziiert. Auf dem Land gibt es Wälder und Felder; Heuschrecken und Grashüpfer fallen über das Korn her. Aber wie viele Felder gibt es mitten in London? Vielleicht ein paar Parks. Aber wen kümmerte es, wenn sie kahlgefressen würden? Nein, es wird etwas Ähnliches sein wie damals, als die Motoren streikten. Sie werden sehen.«

»Vielleicht fliegende Metallfresser, die die Wagen bis auf das Fahrgestell auffressen«, schlug Stan in einem für ihn untypischen Anflug von Humor vor.

»Wer weiß?« sagte Dave, und dann: »Hey, wohin zum Teufel fahren Sie? Wir steuern auf den Erzengel zu.«

Stan schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wir nehmen die Strecke über die Tower Bridge und biegen dann nach Süden ab.«

Dave versuchte, sich die Karten in Erinnerung zu rufen, die er studiert hatte. Er wurde das Gefühl nicht los, daß sie in die verkehrte Richtung fuhren. Sie mußten zwar irgendwann den Fluß überqueren, aber nicht so früh. »Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was Sie tun?« fragte er.

Stan Gates funkelte ihn an. »Ich bin in London geboren, Lieutenant. Ich weiß genau, was ich tue.«

»Nun, ich weiß nicht…« Dave war immer noch nicht überzeugt.

»Okay«, schnappte Stan Gates. »Wollen Sie fahren? Gut. Hier, nehmen Sie das Lenkrad.«

Er fuhr an den Straßenrand.

»Kein Grund sich aufzuregen«, sagte Dave.

Gates hatte sich, während er sprach, in Daves Richtung gedreht. Plötzlich schoß seine Faust vor und traf Dave an der Schläfe. Dave wußte nicht, was er gesagt hatte, um den Sergeant derart aufzuregen. Gates hatte ihn ohne Grund geschlagen. Er fiel nach vorn und landete mit dem Kinn auf dem Armaturenbrett. Der Schlag hatte ihn betäubt. Er hob protestierend die Hand, verwirrt von dem Geschehen. War Gates verrückt geworden? Was zum Teufel war hier los?

Ein zweiter schwerer Schlag traf ihn. Dave verlor das Bewußtsein.

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