32

»Wir heißen dein Schwert willkommen«, sagte Callimachus. Wir standen im Bug der langen Galeere, unterhalb der Vorderaufbauten. Der einzelne Mast war umgelegt worden und lag fest angelascht an Deck zwischen den Ruderbänken.

Wir lagen beigedreht östlich der großen Kette. Wegen des Nebels konnte man kaum etwas sehen. Es war ein kühler Morgen. Das Wasser plätscherte gegen die Planken. Irgendwo gellte der Schrei einer Voskmöwe.

»Du hattest es nicht nötig, zur Flotte zu kommen«, sagte Callimachus.

»Hierher gehöre ich«, sagte ich.

»Du hast bereits viel riskiert.«

»Wir wurden verraten.«

»Ja.«

Ich war voller Bitterkeit. Das Wassertor hatte meine Galeere zerstört, doch ich hatte aus der Gefangenschaft f liehen können. Ich hatte mich nach Victoria durchgeschlagen und war von dort weiter nach Westen gezogen, als ich von dem Aufmarsch der Schiffe an der Kette erfuhr. Gestern abend war ich an Bord der Tina gegangen, die von Callimachus befehligt wurde.

»Wenn der Voskjard die Kette gewaltsam durchbrechen will«, sagte Callimachus, »werden wir ihn nicht aufhalten können.«

»Verraten hat uns die Erdensklavin Peggy, Tasdrons Besitz«, sagte ich.

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher«, antwortete ich. »Oder war es Callisthenes?«

»Callisthenes kann es nicht gewesen sein«, meinte Callimachus. »Ich kannte ihn. Außerdem ist er ein Hauptmann aus Port Cos und gehört meiner Kaste an.«

Ich schaute mich um. Backbords und Steuerbords von der Tina, jeweils etwa fünfzig Meter entfernt, lauerten zwei weitere Galeeren, die Mim aus Victoria und die Teilender aus Fina.

»Und er ist mein Freund«, setzte Callimachus nach. Es war kalt.

»Erscheint es dir denkbar, daß Tasdron oder Glyco der Verräter war?« wollte ich wissen.

»Tasdron kann es ebenfalls nicht gewesen sein«, gab Callimachus zurück. »Seine Interessen stünden zu sehr gegen eine solche Handlungsweise. Er ist ja immerhin der Anführer jener victorianischen Kräfte, die sich der Macht des Policrates widersetzen wollen.«

»Dann ist es vielleicht Glyco.«

»Er gehört meiner Kaste nicht an«, räumte Callimachus ein.

»Tasdron aber auch nicht.«

»Das stimmt.«

»Glyco«, sagte ich, »hat sich um deine Hilfe gegen die Piraten bemüht.«

»Er ist nicht bei der Flotte.«

»Dafür bemüht er sich am östlichen Teil des Flusses, weitere Hilfe herbeizuholen.«

»Vielleicht«, gab Callimachus zurück. »Aber bisher sind keine Schiffe dazugekommen.«

»Ich glaube nicht, daß Glyco etwas erreicht«, meinte ich. »Dazu herrscht zwischen den Städten zuviel Mißtrauen, und man fürchtet die Piraten zu sehr. Außerdem steht die Flotte des Policrates östlich von Victoria, um zu verhindern, daß solche Schiffe zu uns stoßen. Das habe ich dir schon gesagt.«

Callimachus schwieg.

»Warum will es dir nicht logisch erscheinen, daß die Sklavin Peggy uns verraten hat?« fragte ich.

»Sie hätte nichts hören können«, sagte Callimachus unsicher und zornig.

»Sie war im gleichen Raum«, gab ich zu bedenken. »Sie muß etwas gehört haben. Sie ist nicht dumm, obwohl sie eine Sklavin ist. Sie hätte durchaus einiges von unseren Plänen mitbekommen können. Zweifellos gab sie das alles an den Kurier des Ragnar Voskjard weiter oder an einen Piraten in Tasdrons Taverne, vielleicht während sie gerade lustvoll in seinen Armen stöhnte, in der Hoffnung, durch einen solchen Verrat ihre Freiheit zu erringen.«

»Sie käme auf keinen Fall frei«, sagte Callimachus. »Sie müßte damit rechnen, noch weitaus grausamer versklavt zu werden.«

»Das wüßte sie aber nicht«, erwiderte ich. »Sie kommt von der Erde.« Es dauert Jahre, bis ein Mensch von der Erde sich an die Denkungsweise der Goreaner gewöhnt hat. Geduld mit Sklavinnen ist nicht ihre Stärke.

»Vielleicht wurdest du durch einen von Callisthenes’ oder Aemilianus’ Männer verraten«, meinte Callimachus.

»Durch zuverlässige Kämpfer, die ebenfalls kaum Gelegenheit haben konnten, sich mit dem Feind in Verbindung zu setzen?« fragte ich und blickte ihn aufgebracht an. »Warum begreifst du nicht, daß es Peggy war?« Ich begann mich zu fragen, ob ihm etwas an ihr lag.

»Jemand anders kann es nicht gewesen sein«, stimmte mir Callimachus zu, und seine Stimme hatte einen schrecklichen Klang. Diesen Tonfall begriff ich nicht. Es hörte sich beinahe an, als wäre er auf irgendeine mir nicht verständliche Weise persönlich verraten worden.

Ich blickte über den Bug in den Nebel hinaus. Es war beinahe nichts auszumachen.

»Wenn wir das Glück haben, diesen Kampf zu überleben«, fuhr Callimachus fort, »werde ich dafür sorgen, daß die verräterische Sklavin bestraft wird.«

Ich erschauderte.

»Vielleicht gibt es ja keinen Kampf«, fuhr Callimachus fort. »Wir stehen jetzt schon zwei Tage vor der Kette.«

»Die Tamira hat sie passiert, nicht wahr?«

»Die Tamira ist ein Handelsschiff«, sagte Callimachus.

»Sie ist in Wirklichkeit ein Kundschafterschiff Ragnar Voskjards«, gab ich zurück. »Sie kommt von einem Besuch bei Kliomenes in der Festung des Policrates.«

»Ich vermag das kaum zu glauben«, sagte Callimachus.

»Wurde sie an der Kette durchsucht?«

»Nein.«

»Wäre das geschehen«, sagte ich, »hätte man festgestellt, daß sie Beutestücke aus der Blume von Siba an Bord trug. Darüber hinaus hätten sich bestimmt Papiere gefunden, die eine Verbindung zu Policrates herstellen, Dokumente über Losungsworte und Gegenlosungen, mit denen das Vorgehen der vereinten Piratenflotte koordiniert werden kann.«

»Du irrst dich«, sagte Callimachus. »Reginald, der Kapitän, ist ein allseits bekannter Mann.«

»Ich erfuhr diese Dinge am Hofe des Kliomenes.«

»Du mußt dich irren!«

»Ich rechne fest mit einem Kampf.«

»Der hätte längst stattfinden müssen«, meinte Callimachus.

»Durchaus möglich.«

»Vielleicht fürchtet der Voskjard die Kette.«

»Vielleicht.«

Von Zeit zu Zeit war das unruhige Knirschen der mächtigen Kettenglieder zu hören, die an Pfeilern befestigt waren und sich über den Fluß erstreckten. Jedes dieser Glieder war etwa achtzehn Zoll lang und einen Fuß breit; das darin verarbeitete Metall war dick wie ein männlicher Unterarm. An einigen Stellen hing die Kette bis zu einem Fuß unter dem Wasser; an anderen, insbesondere nahe der Pfosten, verlief sie bis zu einem Meter über dem Fluß. Mit massiven Ringen war sie an den Pfosten verankert. An fünf Stellen im Fluß konnte die Kette mit Hilfe gewaltiger Flöße geöffnet werden; hier gab es Wachstationen. Wächter waren auch an den Endpfeilern am Nord- und Südufer des Flusses stationiert.

»Wo ist Callisthenes?« fragte ich.

»In der südlichen Wachstation«, antwortete Callimachus. Diese Station galt als der gefährdetste Punkt der Anlage. Im allgemeinen besitzen die goreanischen Schiffe, Rundschiffe eingeschlossen, nur einen sehr geringen Tiefgang. Wo es keine ausgebauten Hafenanlagen gibt, werden die Boote über Nacht ans Ufer gesetzt. Theoretisch war es daher möglich, daß die Kette an diesen Punkten umgangen wurde. Die flachen Schiffe konnten ans Ufer geholt und auf Rollen um die Endstützen der Kette herumgeschafft werden. Dabei galt die südliche Wachstation als verwundbarer, weil sie entlegener war. Zur nördlichen Station hin war die Versorgung von Port Cos einfacher darzustellen, Entsatz wäre schneller zur Stelle gewesen, ganz abgesehen davon, daß sich dort auch die Kasernen für sämtliche Wachmannschaften an der Kette befanden. So freute es mich zu hören, daß Callisthenes in der südlichen Wachstation Posten bezogen hatte. Gerade dort brauchten wir unsere besten Leute. Trotzdem würde er uns fehlen, sollte es die Flotte des Voskjard doch wagen, die Kette direkt anzugehen.

»Vielleicht müßten wir ebenfalls dort warten«, sagte Callimachus nachdenklich.

»Die Kette scheint ungemein stark zu sein«, sagte ich. Callimachus und ich hatten sie erst vor kurzem zum erstenmal gesehen und waren auf ihre Wirkung nicht vorbereitet gewesen. Sie stellte eine ungeheure technische Leistung dar. Wenngleich wir an unseren theoretischen Vorbehalten hinsichtlich der Wirksamkeit festhielten, waren wir doch angesichts der Kette ein wenig erleichtert. Wir verstanden, warum Männer, die die Kette gesehen hatten, positiver über die Auswirkungen dachten als wir, die wir im fernen Victoria zum erstenmal darüber diskutiert hatten.

»Vielleicht hat der Voskjard ja Angst vor der Kette«, meinte ich.

»Auch westlich der Kette müßte es genug Beute für ihn geben«, sagte Callimachus.

»Das meine ich auch.«

Ich blickte über die Reling auf die mächtige metallverkleidete Holzramme, die ein Stück aus dem Wasser ragte. An der Steuerbordseite sah ich das große, gekrümmte Rammmesser, das an der Flanke unseres Schiffs befestigt war. Auf der Backbordseite lauerte das Gegenstück, fest verankert in den Planken der Wandung vor den Rudern. Es hieß, daß ein Schiffsbauer aus Port Kar namens Tersites diese Klingen erfunden hatte.

»Du hast noch keinen Schiffskampf erlebt, nicht wahr?« fragte Callimachus.

»Nein. Aber es muß schrecklich sein.«

»Ich gehöre der Kriegerkaste an«, sagte Callimachus und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ich erschauderte bei dem Gedanken, was er wohl alles erlebt haben mochte und mir an Wissen voraus hatte. In diesem Augenblick fürchtete ich ihn. Ich glaubte ihn nicht mehr zu kennen, und es kam mir vor, als sei er ein gänzlich anderer Typ als ich.

»Hast du Angst?« fragte Callimachus.

»Ja.«

»Das ist nur natürlich.«

»Um welche Zahlen geht es?«

Callimachus grinste. »Das ist die Frage eines Kriegers«, sagte er.

»Bestimmt haben wir Informationen darüber.«

»Es heißt«, sagte Callimachus, »der Voskjard wäre stärker als Policrates. Angeblich befehligt er etwa fünfzig Schiffe und zweitausendfünfhundert Mann. Unsere Informationen über Policrates sind genauer. Er hat vierzig Schiffe und etwa zweitausend Mann unter seinem Kommando.«

»Sollten sich diese Flotten vereinigen, ergäbe das eine mächtige Streitmacht«, äußerte ic h.

»Und ob – und doch vermag Port Cos etwa fünfzig Schiffe aufzubieten und Ar-Station fünfundvierzig. Dementsprechend wären die Flotten dieser beiden Städte überlegen, wenn sie nur zusammen operieren können.«

»Wie viele Schiffe aus Ar-Station helfen uns an der Kette?«

»Zehn«, antwortete Callimachus. »Mehr wollte man uns nicht zur Verfügung stellen.«

»Und wie viele aus Port Cos?«

»Zehn an der Kette, und zwanzig in der Nähe der südlichen Wachstation.«

»Also dreißig insgesamt.«

»In Port Cos liegen weitere zwanzig Einheiten«, rechnete Callimachus weiter. »Sie sollen allerdings für den Notfall die Verteidigung der Stadt sicherstellen.«

»Wie viele unabhängige Schiffe?«

»Sieben. Zwei aus Victoria, zwei aus Jorts Fähre, zwei aus Kap Alfred, zwei aus Fina. Jorts Fähre und Kap Alfred liegen westlich von Ar-Station und sind im Prinzip auf die Politik Ars eingestimmt.«

»Folglich haben wir siebenundvierzig Schiffe auf dem Fluß«, stellte ich fest.

»Ja.«

»Und man schätzt, daß der Voskjard fünfzig Schiffe mitbringt?«

»Ja.«

»Dann scheinen mir die Chancen etwa gleichmäßig verteilt.«

»Oder mit der Kette ein wenig zu unserem Vorteil?«

»Möglich.«

»Trotzdem bist du skeptisch?« fragte er.

»Unsere Schiffe sind überall verstreut. Sie fahren Streife an der Kette.«

»Und Voskjards Flotte kann nach Belieben an jeder Stelle angreifen.«

»Wenn die Piraten die Kette durchschneiden«, meinte ich, »könnten sie bei einem oder mehreren Kämpfen die Verteidigerschiffe überwältigen.«

»Du denkst wie ein Krieger«, bemerkte Callimachus.

»Wir hoffen natürlich, sie lange genug hinter der Kette festzuhalten, um unsere Streitkräfte massieren zu können.«

»Selbstverständlich.«

»Du hast vorhin gesagt, du glaubst nicht, daß wir einen konzentrierten Angriff auf die Kette zurückwerfen könnten. Wieso?«

»Bedenke eines«, antwortete Callimachus. »Die Kämpfer aus Ar-Station sind im Grunde Landsoldaten, Infanteristen aus Ar, die man an die Ruder von Galeeren gesetzt hat. Sie können nicht auf dem Wasser kämpfen. Und die unabhängigen Schiffe, zum Beispiel die Tina, werden nicht von Kriegern bemannt, sondern von Freiwilligen, mutigen, aber unerfahrenen Männern, zumeist aus niederen Kasten. So beschränkt sich unsere Verteidigungskraft im wesentlichen auf die Flotte aus Port Cos.«

»Das wären dann also dreißig Schiffe aus Port Cos gegen die Flotte des Ragnar Voskjard?« fragte ich besorgt.

»Im wesentlichen, ja.«

»Warum bist du dann hier?«

»Ich gehöre der Kriegerkaste an«, antwortete Callimachus. »Und warum stehst du hier an meiner Seite?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich zurück.

»Du bist hier, weil du ebenfalls ein Krieger bist.«

»Das stimmt nicht.«

»Nicht jeder Krieger gehört sofort der Kriegerkaste an«, bemerkte Callimachus.

»Das verstehe ich nicht.«

»Daß du ein Krieger bist, habe ich in deinen Augen gesehen.«

»Du bist ja verrückt!« sagte ich.

»Bereits vor zehntausend Jahren«, sagte er, »im Vermengen des Bluts, in der Eroberung hilfloser Frauen, fiel die Wahl der Kaste auf dich.«

»Du weißt nicht, was du redest.«

»Wir werden sehen«, sagte er und zog sein Schwert. »Sehr bald schon.«

»Warum ziehst du dein Schwert?«

»Du hörst es sicher auch.«

»Was denn? Was?«

»Ich habe mich geirrt«, sagte er. »Ich dachte, es gebe keinen Kampf.«

»Ich verstehe deine Worte nicht.«

»Und doch ist es eigentlich logisch«, fuhr der Kämpfer fort. »Wenn die Tamira wirklich Ragnar Voskjards Kundschafterschiff war und wenn sie vor vier Tagen in westlicher Richtung die Kette passierte und das Treffen in der Nähe der Festung des Ragnar Voskjards vereinbart wurde, dann sind die Zeiträume nicht unmöglich.«

»Wovon redest du?« fragte ich.

»Hörst du es nicht?«

»Ich höre nichts!« rief ich. »Du bist ja verrückt!« Ich hörte nur das Wasser an der Schiffswand, das Quietschen der Kette, das Knirschen von Rudern in den Dollen, den gelegentlichen Schrei einer Voskmöwe. »Nichts«, flüsterte ich.

Doch plötzlich sträubten sich mir die Nackenhaare.

»Siehst du?« fragte Callimachus, hob das Schwert und deutete in den Nebel hinaus.

»Nein«, sagte ich. Ich vermochte nichts auszumachen. Doch inzwischen hörte ich etwas, sehr deutlich sogar.

Dann tat sich im Nebel eine Lücke auf, und ich entdeckte jenseits der Kette einen unübersehbaren Schwarm von Schiffen.

»Die Flotte Ragnar Voskjards«, sagte Callimachus. In seiner Stimme schwang eine Begeisterung, die mir unverständlich war.

Ich stand erstarrt auf dem Deck und konnte mich sekundenlang nicht rühren.

»Du hältst das Schwert in der Hand«, sagte Callimachus lächelnd.

Ich erinnerte mich nicht, es gezogen zu haben.

»Blast die Kampfhörner!« rief Callimachus den Männern auf unserem Schiff zu. »Blast die Kampfhörner!«

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