21

»Zurück, sonst geschieht dir etwas!« rief ein Mann.

Zwei Bürger der Stadt packten mich und zerrten mich in die Menschenmenge. Ich blutete. Meine Tunika war zerschnitten. Das Schwert eines Piraten, trunken im Kreis geführt, hatte mich an der Brust gestreift. Andere Bürger bemühten sich, die Menschenmenge mit Schiffshaken, wie sie beim An- und Ablegen goreanischer Galeeren verwendet werden, zurückzuhalten. Ich spürte das Holz der Stange vor meinem Bauch. Von allen Seiten bedrängten mich Victorianer. Lachend wandte sich der Pirat ab.

»Wo sind die Wächter von Port Cos?« fragte ich. »Wo die Wächter der Ar-Station?« In Victoria hielten sich Soldaten beider Städte auf.

Rauch wallte durch die Luft. Fünf Lagerhäuser und benachbarte Gebäude standen in Flammen.

»Sie bleiben auf ihren Posten«, sagte ein Mann grimmig. »Sie schützen das eigene Hauptquartier.«

»Victoria kümmert sie nicht«, bemerkte ein anderer verbittert.

Ich beobachtete die etwa sechzig Piraten, die sich unangefochten zwischen den Lagerhäusern und Piers bewegten, an denen zwei Piratengaleeren festgemacht hatten. Von Schwertern bedroht, waren einige Stadtbewohner dabei, Ballen auf die Galeeren zu laden. Mehrere Piraten trugen Fackeln.

»Bis morgen ist der Tribut bezahlt«, sagte ein Mann in meiner Nähe.

Etliche Piraten hielten Pagaflaschen in den Händen, aus denen sie sich freizügig bedienten, während sie herumstolzierten und zuweilen innehielten, um mit dem Schwert in einen Ballen zu stechen oder ein Faß umzustoßen, dessen Inhalt sich über die Bretter der Piers ergoß.

Der Mann an der Alarmsäule setzte sein sinnloses Tun fort. Die Piraten gaben sich keine Mühe, dem verzweifelten Treiben Einhalt zu gebieten.

»Wir sind mit fünfzig zu eins in der Überzahl«, sagte ich. »Wir müssen uns auf sie stürzen, sie aufhalten!«

»Sie sind die Herren über Victoria«, sagte der Mann. »Tu nichts Unüberlegtes.«

Ich hörte eine Frau schreien; über den Schultern eines lachenden, kräftigen Piraten liegend, wurde sie an Bord einer Galeere geschleppt.

»Was wird aus ihr?« fragte eine Frau in meiner Nähe entsetzt.

»Wenn sie schön ist«, antwortete ein Mann, »darf sie vielleicht den Männern in der Festung des Policrates dienen. Wenn nicht, wird sie womöglich umgebracht.«

Angstvoll hob die Frau eine Hand an ihren Schleier.

»Ich an deiner Stelle«, fuhr der Mann fort, »würde in der Menge verschwinden und mich verstecken oder fliehen.«

»Aber ich bin frei«, sagte sie.

»Das waren die anderen auch«, sagte der Mann zornig und deutete auf die an der Reling der Piratengaleere festgebundenen Frauen.

Erschrocken wich die Frau zurück.

Ein Stück entfernt entdeckte ich Kliomenes, der seine Männer und die Zwangsarbeiter herumkommandierte.

»Du da, Frau!« rief ein Pirat plötzlich und deutete auf die Verschleierte neben mir. »Tritt vor!«

Die Männer, die die Schiffshaken hielten, senkten erschrocken die Hölzer.

»Tritt vor!«

Die Frau schüttelte den Kopf und versuchte in der Menge zu verschwinden.

»Schleier ab!« befahl der Pirat.

Die Frau wurde aus der Menge gezerrt und endete ebenfalls auf dem Schiff.

»Bestimmt hat sie sich den Kragen insgeheim ersehnt«, äußerte ein Mann.

»Das tun sie doch alle«, bemerkte ein anderer.

Diese Männer kannten natürlich eine Frau wie Miß Beverly Henderson nicht. Sie konnte niemals Sklavin sein.

»Wir werden morgen früh den Tribut zahlen«, sagte ein Victorianer.

»Wir haben keine andere Wahl«, bestätigte jemand.

»Wir hätten uns niemals auflehnen sollen.«

»Stimmt.«

Der Rauch ließ meine Augen tränen. Der Mann an der Alarmsäule hatte aufgegeben. Die Menge blieb stumm. Das Knistern der Flammen war deutlich zu vernehmen.

»Wir haben unsere Lektion begriffen«, sagte einer der Männer.

Ich wandte mich ab und verließ die Menge. Langsamen Schritts verließ ich das Hafengebiet und kehrte zur Taverne des Tasdron zurück.

Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf.

Ich hatte gesehen, wie eine freie Frau Victorias entkleidet wurde, als wäre sie eine Sklavin. Nackt hatte sie vor dem Piraten gekniet, vor Hunderten von Mitbürgern, ehe sie auf das Schiff gebracht wurde.

Entgangen war mir nicht die mangelnde Organisation der Victorianer, ihre Angst, ihre geringe Moral. Ich hatte den Hochmut der Piraten beobachtet, ihre Brandschatzung, ihre Plünderungen.

Und obwohl die Männer Victorias entscheidend in der Überzahl gewesen waren, hatten sie nicht gegen die Piraten gekämpft.

Morgen würde man den Tribut bezahlen.

Ich war mir außerdem darüber klar geworden, daß ich Miß Beverly Henderson doch begehrte, und zwar stärker als jede andere Frau. Ich wollte sie besitzen.


»Nicht!« rief ich. Ich packte die Gestalt, die sich über das Schwert duckte, die Spitze in den Bauch gedrückt, den Griff in eine Fuge des Pflasters geschoben. »Nein!« Es gab einen kurzen Kampf, dann hatte ich das Schwert zur Seite getreten, das durch die Tunika schnitt und zu Boden fiel. Der Mann fiel auf Hände und Knie nieder, erbrach sich und versuchte das Schwert zu packen. Zornig und frustriert schrie er auf, die Klinge in der Hand. Torkelnd richtete er sich auf. »Wer bist du, daß du dich einfach so einmischst?« fauchte er. Die Klinge hebend, stürzte er sich auf mich. Ich sah den Stahl zittern. Er versuchte sic h zu beherrschen und legte am Waffengriff eine Hand über die andere. Ich rührte mich nicht vom Fleck, obwohl die Waffe erneut angehoben wurde. Ich nahm nicht an, daß er wirklich zuschlagen würde. Dann wurde die Waffe wieder gesenkt, und schluchzend sank der Mann gegen eine Wand und sackte daran hinab in eine sitzende Position, das Schwert neben sich auf dem Pflaster. Den Kopf in den Händen bergend, beugte er sich vor. »Wer bist du, daß du dich einmischst!« schluchzte er.

»Sicher gibt es andere, gegen die es sich eher lohnen würde, das Schwert zu erheben, als gegen dich selbst!« tadelte ich zornig.

»Gib mir etwas zu trinken«, forderte er.

»Ist es denn schon soweit gekommen – der Ruhm, die Kriegerehre, der Stahl?«

»Ich möchte etwas zu trinken.«

»Ich komme eben von den Piers«, sagte ich. »Sicher hast du den Alarm gehört – wie die anderen Gäste?«

»An den Piers habe ich nichts zu schaffen«, sagte er.

»Trotzdem hattest du die Taverne verlassen. Willst du mir einreden, daß dein Ziel nicht der Flußhafen war?«

»Ich kann nichts tun«, antwortete er. »Ich konnte nichts dagegen tun.«

»Trotzdem verließest du das Lokal, bedrückt, in der Wirrnis deiner Sinne. Diese Straße führt zum Fluß.«

»Ich bin gestürzt. Ich konnte nicht einmal gehen.«

»Möchtest du hören, was sich auf den Piers abgespielt hat?« fragte ich zornig.

»Ich bin ein nutzloser alter Mann«, sagte er. »Ich könnte doch nichts tun! Mich braucht man nicht mehr.«

»Piraten sind über die Hafenanlagen hergefallen, kaum mehr als ein halbes Hundert Männer, unter dem Kommando von Kliomenes, Leutnant des Policrates.«

»Ich möchte nichts davon hören!«

»Im Angesicht von vielen hundert Victorianischen Männern haben die wenigen Piraten gebrandschatzt und geplündert und lachend freie Frauen dieser Stadt versklavt.«

Wieder senkte er den Kopf in die Hände.

»Ich hätte geglaubt«, fuhr ich fort, »Männer wie du wären geeignet, die Piraten mit Entsetzen zu erfüllen.«

»Gib mir etwas zu trinken«, forderte er.

»Du bist also Kliomenes und Policrates so sehr zugetan, daß du gern bereit bist, ihnen die Frauen und andere Schätze dieser Stadt zu überlassen.«

»Ich bin nicht aus Victoria.«

»Anscheinend sind nur wenige aus Victoria«, stellte ich fest. »Und doch wohnen viele Menschen hier. Wenn nicht Männer wie wir – wer ist dann wirklich aus Victoria?«

»Ich bin krank«, sagte er.

»An den Piers gab es keinen Anführer. Diese Stadt wurde frech beleidigt. Ich sah Hunderte von Männern, die angstvoll durcheinanderliefen und die keinen Anführer hatten. Sie wurden eingeschüchtert von einer Handvoll organisierter und rücksichtsloser Burschen, die eitel wie Vulos herumstolzierten. Ich sah, wie freie Männer gezwungen wurden, Beute auf den Diebesgaleeren zu verstauen. Ohne Gegenwehr, voller Furcht sahen Männer zu, wie ihr Besitz fortgeschleppt oder in Brand gesteckt wurde. Noch immer sind die Feuersbrünste an den Piers nicht gelöscht. Der Rauch hängt in der Luft.«

Er schwieg.

»Du hast uns gefehlt am Hafen«, sagte ich.

»Warum hast du dich in meine Angelegenheiten eingemischt?« fragt er.

»Du hast mir einmal in der Taverne des Tasdron das Leben gerettet«, antwortete ich. »Ist es also nicht mein Recht, dich zu retten?«

»Dann wären wir ja quitt«, sagte er verbittert. »Wir schulden dann einander nic hts mehr. Geh, laß mich allein.«

»Ich habe in den letzten Tagen beobachtet, wie sich ein Kaufmann, ein bedeutender Kaufmann aus Port Cos namens Glyco, eingehend mit dir unterhielt. Ich bin sicher, er wollte dich aus Sorge vor einer Vereinigung der Piraten aus Ost und West dazu bewegen, einer Widerstandsbewegung beizutreten.«

»Du bist klug«, sagte der Mann.

»Aber wie ich sehe, haben seine Bitten nichts gefruchtet.«

»Ich kann ihm nicht helfen«, sagte der Mann.

»Daß er aber zu dir kam, scheint doch anzudeuten, daß dein Mut, deine hervorragenden Fähigkeiten in solchen Dingen noch unvergessen sind.«

»Ich bin längst nicht mehr, was ich einmal war.«

»Soweit ich weiß, nahmst du bei den Wächtern von Port Cos einen hohen Rang ein.«

»Ich war früher Hauptmann in Port Cos«, antwortete er. »Ja, ich war es, der die Bande des Policrates aus der Umgebung von Port Cos vertrieb.« Er blickte zu mir auf. »Aber das ist lange her. Ich erinnere mich heute nicht mehr an diesen Hauptmann. Ich glaube, er ist untergegangen.«

»Was wurde aus ihm?«

»Er entwickelte eine größere Zuneigung zum Paga als zu den Ehrenvorschriften seiner Kaste. In Ungnade gefallen, wurde er entlassen. So kam er am Fluß nach Westen, nach Victoria.«

»Wie hieß er?«

»Ich habe den Namen vergessen.«

»Wärst du unten am Hafen gewesen, hätten die Dinge vielleicht eine andere Wendung genommen.«

»Warum hast du die Bürger nicht angeführt?« fragte er zornig.

»Ich bin nur ein Schwächling und Dummkopf«, antwortete ich. »Und mir fehlt die Ausbildung.«

Er antwortete nicht.

»Ein Mann deines Kalibers hätte sicher etwas ausgemacht.«

Er streckte mir die rechte Hand hin. Sie war groß, zitterte aber sichtlich.

»Es gab einmal eine Zeit«, sagte er, »da konnte ich tausendmal zuschlagen und dabei immer dieselbe Stelle treffen. Ich vermochte tausendmal zuzustoßen und einen Kreis von einer halben Hort zu treffen – heute aber, schau nur, was aus mir geworden ist!« Seine zitternde Hand fiel herab. Er schloß die Faust und preßte sie gegen die Steine der dunklen Straße. Er begann zu weinen. »Policrates hätte mich in der Taverne töten können«, fuhr er fort. »Er kannte meine Schwäche. Er tat es aber nicht. Um der alten Zeiten willen, so vermute ich, in der Erinnerung an verflossene Realitäten, verschonte er mich. Wir verbrachten unsere Jugend zusammen auf den Piers von Port Cos«, fuhr er fort und blickte mich an. »Beide wandten wir uns dem Beruf des Schwertkämpfers zu – ich als Offizier, er als Pirat.«

»Was wollte Glyco von dir?«

»Er wollte einen Plan, eine Keimzelle für den Widerstand, einen Anführer, einen Angriff auf die Festung des Policrates.«

»Und was hast du ihm geantwortet?«

»Daß man dazu hundert Belagerungsschiffe und zehntausend Männer brauchte.«

Ich nickte. Ich nahm nicht an, daß seine Einschätzung falsch war. In Anbetracht der Streitkräfte, die man realistischerweise am Fluß zusammentrommeln konnte, war Policrates’ Position so gut wie unangreifbar. Ähnliche Einschätzungen hatte ich schon von anderen vernommen. Miß Beverly Henderson, das ging mir in diesem Moment durch den Kopf, war nun hinter diesen hohen schwarzen Mauern eingesperrt.

»Dann ist die Lage also hoffnungslos?« fragte ich.

»Ja, hoffnungslos.«

er

»Morgen«, fuhr ich fort, »soll d Tribut an Policrates gezahlt werden.«

Der Mann zuckte die Achseln.

»Es heißt, die Piraten verfügen über Victoria«, bemerkte ich.

»Das stimmt«, sagte er.

»Und gibt es niemanden, der ihnen das streitig macht?«

»Niemanden.«

»Was kann ich für dich tun?«

»Gib mir etwas zu trinken.«

Ich wandte mich von ihm ab und wanderte die Straße entlang zur Taverne des Tasdron, die noch immer geöffnet war, auch wenn dort das Lärmen und Treiben nachgelassen hatte. Ich sprach mit niemandem, auch begegnete niemand meinem Blick. Ich erstand eine Flasche Paga, die ich anschließend zu der Gestalt brachte, die zusammengesunken an der Hausmauer lehnte. Ich blieb vor dem Mann stehen, und er hob den Kopf von den Knien und blickte mich benommen an. Ich reichte ihm die Flasche, nach der er hastig griff. Mit den Zähnen zog er den Korken aus der Flasche. Mit beiden Händen umklammerte er das Glas. Vor mir sitzend, blickte er auf.

»Es tut mir leid«, sagte ich, »daß ich dich mit so grausamen Worten bedacht habe. Das war nicht recht von mir. Ich war wütend und frustriert. Es tut mir ehrlich leid.«

»Bemitleidest du mich?« fragte er.

»Ja.«

Von einem eiskalten Willen getrieben, voller Zorn, stemmte er sich langsam und unsicher hoch. In seinen Augen loderte eine schreckliche Wut. »Du bemitleidest mich? Mich?«

»Ich weiß, daß du in Ungnade gefallen bist«, sagte ich, »daß dir das Rot genommen wurde. Es ist nicht deine Schuld. Ich werfe dir nichts vor.«

»Das Rot kann mir von niemandem genommen werden, wenn es erst einmal verliehen ist«, sagte er gepreßt. »Es sei denn, durch das Schwert.«

Er riß die Tunika auf, die er trug, und enthüllte darunter das scharlachrote Gewand, das in der Dunkelheit schwärzlich wirkte.

»Dies«, sagte er, »kann man mir nur mit dem Schwert entreißen. Wer das will, muß dazu erst einmal den Mut aufbringen.«

»Du bist am Ende«, sagte ich. »Trink.«

Bestürzt und ärgerlich blickte er auf die Flasche, die er in der rechten Hand hielt.

»Du hast den Namen des Kriegers vergessen«, fuhr ich fort, »der in Port Cos geboren wurde. Ihn gibt es nicht mehr. Trink!«

Nun nahm der Mann die Flasche in beide Hände und hob sie hoch. Lange Zeit starrte er sie an. Plötzlich wölbten sich seine Schultern vor, und er stöhnte schmerzvoll auf. Langsam und voller Pein richtete er seinen Körper auf. Er hob seinen Kopf den goreanischen Monden entgegen und äußerte einen verquälten, wilden Schrei, der durch die dunkle Gasse hallte. Was als Schmerzensschrei begann endete in einem Aufheulen des Zorns. Er drehte sich um und zerschmetterte mit abrupter Bewegung die Flasche an der Mauer hinter sich. Glassplitter trafen und verletzten ihn, der herumspritzende Paga benetzte sein Gewand.

»Ich erinnere mich an ihn«, sagte er.

»Wie hieß er?«

»Callimachus. Er hieß Callimachus und stammte aus Port Cos.«

»Ist er fort?« wollt ich wissen.

Mit abrupter Bewegung schmetterte der Mann beide Fäuste gegen die Mauer. »Nein«, sagte er mit schrecklichem Nachdruck. Blut lief über seine Hände, dunkle Ströme zwischen seinen Fingern.

»Wo ist er?«

Langsam drehte sich der Mann zu mir um. »Er ist hier«, antwortete er. »Ich bin dieser Mann.«

»Das freut mich zu hören.« Ich bückte mich, nahm die zu Boden gefallene Klinge auf und reichte sie ihm. »Dies«, sagte ich, »gehört dir.«

Er steckte das Schwert in die Scheide. Dann musterte er mich lange Zeit. »Du hast mir einen Dienst erwiesen«, sagte er. »Wie kann ich dir das vergelten?«

»Ich habe einen Plan«, sagte ich. »Lehre mich den Umgang mit dem Schwert.«

Загрузка...