»Hör auf, uns etwas vorzumachen!« rief der Pirat. »Leg dich ins Zeug!«
»Ja, Kapitän!« antwortete ich, obwohl er das ganz bestimmt nicht war.
Die Peitsche klatschte mir auf den Rücken.
Schwitzend, Ketten tragend, stemmte ich die nackten Füße gegen die flachen Holzstege, die auf der großen Holzscheibe festgenagelt waren, auf der Tretplattform, die etwa fünf Fuß über dem eigentlichen Flußboden lag und um die Winde herumführte. Ich hörte, wie sich unterhalb der Plattform die Kette auf die Achse drehte. Das Tor wird mit Muskelkraft hochgezogen, unterstützt durch zwei schwere trommelähnliche Gewichte, die die Last zu einem Teil ausgleichen. Die Muskelkraft wird über Metallstangen oder Stempel auf die Winde übertragen, die wir, im Kreis gehend, in Betrieb hielten. Das Metalltor, schwerer als die faßähnlichen Gewichte, wird mit Schwerkraft heruntergelassen. Wenn es zu schließen ist, dient die Winde, gehalten von den Arbeitern, vorwiegend als Bremse und regelt das Tempo des Abstiegs. In Aufbau und Wirkung glich die Winde in etwa einem Gangspill.
Ich drückte gegen die schwere Metallstange, die beinahe fünf Zoll Durchmesser hatte und die wie eine Radspeiche im Schaft der Winde befestigt war. Über eine Kette, die an meinem Metallkragen endete, war ich an diesem Stempel festgemacht. So wurde ich an Ort und Stelle festgehalten. Auch an Armen und Beinen trug ich Ketten, die mir für die Füße etwa zwanzig Zoll Bewegungsfreiheit ließen und fünfundzwanzig für die Hände. Dieses Arrangement gilt als theoretisch guter Kompromiß zwischen der Sicherung eines Gefangenen und der Bewegungsfreiheit, die für eine wirkungsvolle Bedienung der Winde erforderlic h ist.
»Stemmen!« brüllte der Pirat.
Wieder wurde ich von der Peitsche getroffen. Ich warf mich förmlich gegen den Stempel. Nun suchte sich die Peitsche ein anderes Ziel, gefolgt von einem Schmerzensschrei und dem Rasseln von Ketten, ausgelöst durch heftige Bewegungen. In die Nabe der Winde waren fünf große Stempel gesteckt. An jedem mühten sich fünf Männer, die wie ich angekettet waren. Die Stangen waren mittels eines Sicherungsnagels an der Winde festgemacht; sie ließen sich auch lösen und von den daran herumgeketteten Männern herumtragen.
»Schiebt, schiebt! Tempo!« rief der Pirat.
Wieder knallte die Peitsche.
Während sich die Winde langsam und knackend drehte, hörten wir seitlich über uns die schwingende Bewegung der mächtigen tonnenähnlichen Gegengewichte an ihren Ketten. Ohne diese Gegenlast hätten wir das Wassertor nicht heben können.
Und wieder spürte ich die Peitsche, ebenso wie meine Nachbarn. Der Pirat ging um uns herum.
Es ist dämmrig und ungelüftet in der Windenkammer. Während des Tages kann es hier sehr heiß werden. Meine Hände glitten über die Stange, dann fand ich wieder Halt. Nachts wird es manchmal sehr kalt. Es roch nach Ausscheidungen. Vielleicht wäre das alles weniger unangenehm gewesen, wenn die Wärter uns Kleidung zugestanden hätten.
»Arbeitet! Arbeitet!« rief der Pirat. Aber er schlug nicht mehr zu. Die Gewichte waren in Bewegung.
Es gibt wenig angenehme Abwechslung in der Windenkammer, einmal abgesehen vom Essen, Trinken und Träumen. An einer Wand – dort, wo man uns in den Arbeitspausen ruhen läßt –, befindet sich eine schmale Wasserrinne, die zweimal täglich aufgefüllt wird. Dort bekommen wir auch unsere Brotbrocken und Fleischfetzen und Früchte, normalerweise Abfall von den Piratenfesten. Wenn wir dann nachts trotz der Kälte endlich einschliefen, kamen die Träume. Sie betrafen in der Regel die eine oder andere zarte, warme Sklavin, die uns Gesellschaft leistete – aber eben nur im Traum. Beim Erwachen lagen wir allein im kalten Stroh oder auf den Steinen und spürten das feuchte, kalte schwere Eisen unserer Ketten. In meinen Träumen erschien vor allem ein Mädchen, die ehemalige Miß Henderson.
»Nicht nachlassen, ihr Sleen!« brüllte der Pirat und ließ die Peitsche knallen. »Arbeitet, arbeitet!«
In den letzten Tagen hatten wir das Wassertor oft geöffnet und geschlossen. Ich vermutete, daß diese Arbeit im wesentlichen auf das Kommen und Gehen von Kundschafterschiffen und Versorgungs- und Ausrüstungsbooten zurückging. Bis dann gestern das Tor etwas vier Ahn lang offen gestanden hatte. Ich ging davon aus, daß die Flotte des Policrates aufgebrochen war. Im Festsaal hatte ich, kurz bevor ich hinausgeschafft wurde, seine Bemerkung zu Kliomenes gehört, er wolle die Flotte nach Osten führen. Vermutlich hatte er das jetzt getan. Bestimmt wollte er die Städte des Ostens davon abhalten, ein Bündnis zu bilden und Schiffe zur Kette westlich von Port Cos zu entsenden, mit dem Ziel, Ragnar Voskjard aufzuhalten.
»Weiter!« brüllte der Pirat.
Während ich mühselig um die Winde trottete und mich kraftvoll gegen den Windenstempel stemmte, sah ich seitlich an der Wand zwei weitere Gefangenengruppen lagern; sie waren hinter der Wasserrinne kaum auszumachen. Es waren die Reservemannschaften. Niemand war hier unentbehrlich. Diese Erkenntnis spielte zweifellos eine große Rolle bei der Durchsetzung der Ordnung in diesem Raum. Wir wußten, daß jeder von uns auf eine Laune des Wächters von der Kette genommen werden konnte.
»Halt!« rief der Pirat. Das Tor war offen, und wir hielten inne. Er brachte den Bremskeil an, der verhinderte, daß das Tor zurückglitt. Schräg über uns pendelten die Gegengewichte an ihren Ketten. Wir kehrten unsere Position an den Stangen um, indem wir uns darunter hindurchduckten und die Ösen, an denen die Ketten befestigt waren, mit herumdrehten. Nun standen wir bereit, das Tor wieder hinabzulassen. Ich folgte dem Beispiel etlicher Leidensgenossen und legte den Kopf auf die Windenstange. Es ist anstrengend, das Tor zu heben. Draußen erreichten oder verließen vermutlich ein oder mehrere Schiffe, Flußgaleeren, das seeähnliche Innenbecken der Festung des Policrates. Das Signal zum Bewegen des Tors wird von einem Wächter des westlichen Torturms gegeben, eines der beiden Bauwerke, die das Wassertor flankieren. Es ist ein akustisches Zeichen. Dementsprechend wird seine Echtheit selten angezweifelt. Eine Trompete oder ein Stangensignal kann jeder bedienen. Die Winde befand sich im Westturm.
Es tat gut, sich einmal ausruhen zu können.
Gestern hatte das Tor vier Ahn lang offengestanden, und ich schloß daraus, daß die Flotte ausgelaufen war. Und daß Policrates seine Schiffe begleitet hatte. Die anstehende Aufgabe war zu wichtig, als daß er sie Untergebenen anvertrauen konnte. Vermutlich führte Kliomenes dafür nun die Aufsicht über die Festung. Wenigstens hoffte ich das.
»Gleich wird das Tor wieder geschlossen«, sagte der Pirat. »Haltet euch bereit.« Das Tor zu schließen geht schneller, doch wegen der Gewichte und dem Druck der Winde, die auf jeden Fall festgehalten werden muß, ist ebenfalls eine erhebliche Anstrengung erforderlich. Will man das Tor übrigens extrem schnell herabfallen lassen, wie es bei der Zerschmetterung meiner Galeere geschah, braucht man nur eines der Gegengewichte zu lösen. Die Stempel, mit denen die Winde normalerweise gedreht wird, müßten dazu natürlich gelöst werden. Geschähe dies nicht, würden die Stangen mit der rotierenden Winde auf das Unangenehmste herumrasen. Dies wäre natürlich äußerst gefährlich für jeden, der sich im Drehbereich der Stangen befände. Wie schon angemerkt, gibt es zwei Gegengewichte. Es genügt bereits, eines zu lösen, um das Tor herunterrasseln zu lassen. Würde man beide entfernen, könnte das Tor selbst Schaden nehmen.
»Fertig!« rief der Pirat.
Ich hob den Kopf. Ein goldener Lichtstreifen drang herab und fiel weich in den großen Raum. Unzählige goldene Staubkörner wirbelten darin. Ein schöner Anblick. Ich registrierte außerdem, daß das Fenster dort oben zu schmal war, um einen Mann hindurchzulassen.
»Ich habe Policrates persönlich zum Narren gehalten«, sagte ich zu dem Mann neben mir. »Ich brachte ihm den Topas. Er merkte nicht, daß ich der Falsche war, ebensowenig wie der Dummkopf Kliomenes.«
Der andere starrte mich ausdruckslos an.
»Lügner!« kreischte der Aufsichtführende Pirat. »Ich habe dich schon mehrmals wegen deiner Lügen verwarnt!«
Immer wieder hämmerte die Peitsche auf mich nieder. »Wenn du damit nicht aufhörst«, rief der Pirat, »trage ich die Sache Kliomenes vor!«
»Verzeih, Kapitän«, sagte ich und tat eingeschüchtert. Seine Bemerkung hatte mir aber verraten, daß ich recht hatte mit meiner Vermutung, Policrates sei unterwegs. Bestimmt hätte er mir mit einer Meldung bei Policrates gedroht, wenn dieser in der Festung gewesen wäre, zumal ich von Policrates gesprochen, hatte. Offensichtlich führte Kliomenes im Moment das Kommando über die Anlage. Und das war gut für meinen Plan.
»Tor schließen!« hörten wir einen Mann rufen. »Tor schließen!« Hoch über uns erschien plötzlich ein Pirat auf einem kleinen Balkon, der durch einen Wachraum betreten werden konnte. »Was ist da unten los?« brüllte er.
»Nichts!« rief der Pirat, der mic h geschlagen hatte.
»Hast du das Signal nicht gehört?« rief der Mann auf dem Balkon.
Der Windenaufseher warf mir einen zornigen Blick zu. Er lockerte den Bremskeil. Augenblicklich spürten wir den Druck an den Stempeln.
»Paß auf, du Dummkopf!« rief der Mann vom Balkon. »Das Tor schließen!«
»Das Tor schließen!« brüllte unser Aufseher zornig. »Beeilt euch, ihr Idioten!«
Wir spürten den Zug der Stangen an unseren Armen und ließen das Tor langsam herab, das die Gegengewichte in die Höhe zog.
Endlich war das Gitter unten.
Ich begegnete dem Blick des Piraten. Wutschäumend starrte er mich an. Ich senkte den Blick und tat verängstigt. In Wirklichkeit war ich nicht unzufrieden mit den Ereignissen des Tages.