28

»Hätten wir bei den anderen mehr Unterstützung gefunden, könnten wir unser Projekt verwirklichen«, sagte Callimachus. »Wie die Dinge aber stehen, fürchte ich, daß wir es nicht schaffen.«

Das Deck der flachen Flußgaleere bewegte sich unter unseren Füßen, während sich das Schiff langsam durch die Nebenarme des Flusses auf die Festung des Policrates zubewegte. Das Bauwerk liegt etwa zwei Meilen vom eigentlichen Fluß entfernt.

»Dein ursprünglicher Plan war ausgezeichnet«, fuhr Callimachus fort. »Nach der Abänderung aber befürchte ich das Schlimmste.«

Callimachus und ich standen auf dem Vorderdeck der Galeere. Ich trug die Maske, die ich bereits in meiner Rolle als Kurier des Ragnar Voskjard getragen hatte. Ich kannte die Losungssätze und die dazugehörigen Antworten, die den Zugang zur Festung durch das Wassertor ermöglichten. Sie waren mir überlassen worden, damit Ragnar Voskjard sie bei seinem Einrücken in die Festung anwenden konnte. Ursprünglich hatte ich geplant, eine große Zahl von Schiffen zusammenzuholen, vorwiegend aus Port Cos und Ar-Station, um damit die Flotte des Ragnar Voskjard vorzutäuschen, die von Policrates erwartet wurde. Damals erschien es mir ziemlich einfach, genügend Männer – angeblich Kämpfer Ragnar Voskjards – in die Festung zu schmuggeln und Policrates damit zu überrumpeln. Er selbst kannte Ragnar Voskjard nicht. Es war ein kühner Plan, der mir aber vernünftig vorgekommen war. Callimachus, der sich in Kriegsdingen auskannte, hatte ihn gutgeheißen. Glyco und Tasdron, die man ehrlich nicht als leichtfertig bezeichnen konnte, waren ebenfalls davon angetan gewesen. Interessanterweise hatten aber die Krieger Callisthenes und Aemilianus von Gefahr und Unausgereiftheit gesprochen. Besonders Callisthenes war gegen meinen Plan gewesen.

Es war kurz vor der zwanzigsten Stunde, der goreanischen Mitternacht. Wolken standen am Himmel. Die drei Monde leuchteten hoch über den Bäumen, die den dunklen Wasserlauf säumten. In der Ferne machte ich die hohen schwarzen Mauern der Policrates-Festung aus, in denen das riesige Wassertor klaffte, eine schwere Eisengitterkonstruktion.

»Die Flotte Ragnar Voskjards«, hatte Callisthenes gesagt, »kann sich niemals mit der Flotte des Policrates vereinigen. Die Kette wird das verhindern.«

»Warum warst du dann so besorgt, daß der Topas in Policrates’ Hände fallen könnte?« wollte Glyco wissen.

»Die Angelegenheit war dem Kaufmannsrat sehr wichtig«, antwortete Callisthenes. »Ich tue nur meine Pflicht. Einige Abgeordnete glauben wohl nicht recht an die Wirksamkeit der Kette.«

»Und zu denen gehöre ich«, stellte Glyco fest. »Das ist mir bekannt«, sagte Callisthenes. »Ist die Kette inzwischen an Ort und Stelle?« fragte Glyco. »Ja«, gab Callisthenes zurück.

»Diese Arbeit muß dann aber ganz heimlich durchgeführt worden sein«, schaltete ich mich ein. In Victoria hatte ich noch nicht davon gehört – und das gleiche galt für Callimachus und Tasdron.

»Ich nehme es an«, gab der Offizier aus Port Cos zurück, »obwohl die Existenz der Kette in den Städten des Westens inzwischen bekannt sein dürfte.«

»Sie wurde in Cos geschmiedet, auf tausend Längen«, berichtete Glyco, »und über Land transportiert, um das Delta herum, und dann auf Galeeren von Turmus aus nach Osten. Die Fundamente und Stützen wurden vorwiegend bei Nacht errichtet. Die Kette liegt westlich von Port Cos und soll uns vor den Piraten schützen.«

»Sie ermöglicht es Port Cos auch, den Flußverkehr von Westen her zu kontrollieren«, sagte Tasdron gereizt.


»Wir stehen unter Druck von Cos«, sagte Glyco. »Persönlich bin ich nicht für die Kette. Als Kaufmann finde ich, daß ein freier Handel unseren Interessen am besten dient. Außerdem wird die Kette Port Cos bei ihren Schwesterstädten nicht gerade beliebter machen.«

»Soviel ist klar«, sagte Tasdron. »Victoria hat – wenigstens bisher – mehr auf der Seite Cos’ gestanden.«

»Wir aus Ar-Station hätten eine solche Kette niemals gezogen«, behauptete Aemilianus, und ich fand seine Bemerkung einigermaßen überflüssig.

»Möglicherweise habt ihr nicht den Weitblick oder die technischen Möglichkeiten«, bemerkte Callisthenes.

»Unsere Gedanken, meine Herrn Offiziere«, schaltete sich Callimachus ein, »müssen in diesem Augenblick den Gefahren gelten, die uns drohen – nicht der politischen Lage zwischen Cos und Ar.«

»Politische Lage!« rief Callisthenes. »Cos und Ar stehen im Krieg!«

»Weder Ar noch Ar-Station, Hauptmann«, sagte Aemilianus, »führen Krieg gegen Port Cos.«

»Das stimmt«, bemerkte Tasdron hastig. Und er hatte recht. Bei den goreanischen Stadtstaaten herrschte die klassische Kolonisationsform vor, die im Gegensatz stand zur typischen Kolonisierung von Flächenstaaten, die ihre Kolonien meistens voll und ganz beherrschen. Bildet eine goreanische Stadt eine Kolonie, gewöhnlich als Folge des Bevölkerungsdrucks oder eines internen politischen Streits, geben sich die Kolonisten noch vor der Abreise eine eigene Verfassung und Gesetze. Aus goreanischer Sicht ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, daß die Kolonie bei ihrer Gründung einen eigenen Heimstein erhält. So war der Heimstein von Port Cos nicht mit dem Heimstein von Cos identisch. Ar-Station dagegen hatte keinen eigenen Heimstein. Dies alles bedeutet natürlich nicht, daß die Kolonie normalerweise keine engen Bindungen zur Heimatstadt hat; dazu gibt es einfach zu viele kulturelle und historische Übereinstimmungen.

»Die Kette war ungewöhnlich teuer«, sagte Glyco, »und wird sich meiner Meinung nach als wirkungslos erweisen.«

»Sie wurde in Cos geschmiedet«, sagte Callisthenes.

»Langfristig wird man aber uns die Kosten aufbürden«, entgegnete Glyco.

»Das mag stimmen«, meinte Callisthenes, »aber schließlich profitieren wir am unmittelbarsten davon.«

»Wenn sie überhaupt einen Vorteil bringt.«

»Gewiß wird es Port Cos vorteilhaft finden, von den Übergriffen der Piraten verschont zu bleiben«, sagte Callisthenes.

»Die Kette ändert bestimmt nichts«, beharrte Glyco. »Deshalb bin ich ja auch nach Victoria gekommen. Ich wollte Callimachus bitten, uns in dieser finsteren Zeit, da der Topas auf Reisen gegangen ist, seinen Rat und seine Schwerthand zu leihen.«

»In Anbetracht der Existenz der Kette«, sagte Callisthenes, »ist der Topas ohne Bedeutung, wenn ich auch den Auftrag habe, ihn möglichst abzufangen, was mir dank unseres jungen Freundes nicht gelungen ist.« Callisthenes bedachte mich mit einem vielsagenden Blick. »Den Topas tatsächlich an Policrates auszuhändigen, grenzt beinahe an Idiotie!«

Ich zuckte die Achseln. »Du hast meinen Plan gehört«, sagte ich. »Wir wollen Schiffe zusammenholen und uns im Schutze der Dunkelheit als Ragnar Voskjards Flotte ausgeben, um dann in die Festung des Policrates einzudringen.«

»Ein törichter Plan!« sagte Callisthenes. »Man würde die Täuschung garantiert merken. Überall gibt es Spione. Die Piraten sind bestens informiert.«

»Nur die Anwesenden in diesem Zimmer kennen den Plan«, sagte ich.

»Wende dich mit deinem Plan an Aemilianus«, schlug Callisthenes vor. »Die Piraten am östlichen Vosk sind mehr seine Sorge als meine. Die Kette wird die Piraten des westlichen Vosk aus den Gewässern von Port Cos fernhalten.«

»Ich möchte mit einem so ungewöhnlichen Abenteuer nicht viele Schiffe und Hunderte von Männern riskieren«, sagte Aemilianus. »Woher soll ich außerdem wissen, daß es sich nicht um einen Trick der Piraten handelt, die die Flotte von Ar-Station in engen Gewässern in eine Falle locken wollen?«

»Du hast mein Wort«, sagte Callimachus. »Das Wort eines Kriegers.«

»Vielleicht bist du selbst getäuscht worden«, meinte Aemilianus. »Ich muß an die Sicherheit meiner Männer und Schiffe denken.« Sein Blick fiel auf mich. »Stammst du aus Ar?« fragte er.

»Nein.«

»Gehörst du der Kriegerkaste an?«

»Nein.«

Aemilianus breitete die Hände aus. »Wie kann ich ihm dann trauen – in einer so wichtigen Angelegenheit?«

»Du mußt ihm trauen!« drängte Tasdron.

»Ja!« betonte Glyco.

»Warum solltest du ein solches Risiko eingehen wollen?« fragte mich Aemilianus.

»Mir geht es um ein Mädchen, eine Sklavin, die sich in der Festung des Policrates befindet«, sagte ich.

»Du wolltest dich wegen eines Mädchens in ein solches Abenteuer stürzen?« fragte er.

»Ich begehre sie«, antwortete ich. »Ich möchte sie besitzen.«

»Ist das alles?«

»Außerdem habe ich mit den Piraten einige Rechnungen offen.« Zweimal war ich von ihnen gekränkt worden, einmal in der Taverne des Tasdron und einmal im Piratenkragen, der Taverne des Hibron.

»Wir haben daran kein Interesse«, sagte Aemilianus. »Tut mir leid.«

»Es ist ein kühner, ein brillanter Plan«, sagte Callimachus.

»Tut mir leid.«

»Der Plan ist nicht nur gefährlich«, meinte Callisthenes, »sondern auch überflüssig, soweit es darum geht, die Piraten an einer Vereinigung zu hindern. Die Kette wird die Piraten des Westens westlich von Port Cos festhalten.«

»Eine Kette läßt sich schmieden, läßt sich aber auch durchtrennen«, bemerkte ich.

»Natürlich finden dort Patrouillen statt«, sagte Callisthenes. »Und sollten sich irgendwo Piratenschiffe massieren, können wir ihnen mit der Flotte von Port Cos entgegentreten. «

»Die Kette anzubringen war ein ausgesprochen defensiver Akt«, warf Callimachus ein. »Es wird unmöglich sein, sie auf voller Länge gegen entschlossene Angriffe zu verteidigen. Wiegt euch nicht in einem Gefühl falscher Sicherheit!«

»Wenn die Kette angegriffen wird«, sagte Aemilianus, »bin ich bereit, dir Schiffe von Ar-Station zur Hilfe zu schicken.«

»Wir aus Port Cos können unsere Angelegenheiten allein bereinigen«, antwortete Callisthenes. »Die Schiffe aus Ar-Station sind in den Gewässern Port Cos’ nicht willkommen.«

»Es gibt in diesem Fluß keinen Tropfen Wasser«, widersprach Aemilianus, »den wir aus Ar-Station nicht unter den Kiel unserer Schiffe nehmen könnten.«

»Das würdest du voll auf eigenes Risiko tun, mein lieber Hauptmann«, sagte Callisthenes grimmig.

»Unsere Pläne scheitern!« ächzte Tasdron.

»Hauptmann Callisthenes«, sagte ich, »gewiß sind die Piraten, wie du selbst gesagt hast, gut informiert.«

»Anscheinend wissen sie alles, was sich am Fluß abspielt«, räumte er ein.

»Wenn das der Fall ist«, fuhr ich fort, »dann dürfte ihnen auch die Herstellung der Kette oder zumindest ihr Transport nach Turmus und später nach Port Cos, mit der anschließenden Montage, bekannt sein.«

»Angeblich hat das alles unter größter Geheimhaltung stattgefunden«, sagte Callisthenes. »Ich glaube aber, die Piraten wissen, was da geschieht. Ich habe berichten hören, daß in verschiedenen Städten des Westens, in Turmus und Ven, in Tetrapoli und Tafa Gerüchte über die Kette im Umlauf sind.«

»Der Rat hat sogar einen Protest von Ven deswegen erhalten«, sagte Glyco lächelnd.

»Einmal angenommen, die Piraten kennen den Zweck der Kette«, sagte ich zu Callisthenes, »erscheint es dir da nicht seltsam, daß sie keine Anstrengung unternommen haben, ihre Anbringung zu verhindern?«

»Die Montage erfolgte natürlich unter strengster Bewachung!«

»Aber es wurde kein Versuch gemacht, die Arbeiten zu behindern, nicht der geringste, kein Verzweiflungsangriff, kein Sabotageversuch?«

»Nichts – soweit ich weiß«, sagte Callisthenes.

»Erscheint dir dieser Mangel an Opposition oder Störung nicht seltsam, wenn man bedenkt, wie mächtig und gut organisiert Ragnar Voskjards Leute sind?«

»Ja«, sagte Callisthenes.

»Was würdest du aus diesem Mangel an Interesse oder Aktion schließen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das ist doch klar«, schaltete sich Glyco ein. »Sie haben keine Angst vor der Kette. Sie sehen darin keine Gefahr für sich.«

Stirnrunzelnd musterte Callisthenes den rundlichen Kaufmann. »Wenn sie das glauben, irren sie sich, davon bin ich überzeugt.«

»Wir alle wissen«, sagte Tasdron, »daß der Topas nach Victoria gebracht wurde. Zweifellos stellt er ein Versprechen Ragnar Voskjards gegenüber Policrates dar, das Versprechen, seine Streitkräfte mit denen von Policrates zu vereinigen. Ich bin sicher, daß die Flotte Ragnar Voskjards dem Topas in Kürze folgen wird.«

»Voskjard mag schon losmarschiert sein«, sagte Callimachus. »Vielleicht rückt seine Streitmacht bereits in östlicher Richtung auf dem Fluß vor.«

»Policrates erwartete die Ankunft dieser Flotte«, sagte ich. »Das machte meinen Plan ja auch so durchführbar.«

»Die Kette wird sie aufhalten!« sagte Callisthenes. »Muß sie aufhalten!«

»Ich muß sofort nach Port Cos zurückkehren«, sagte Glyco. »Voskjard muß an der Kette zurückgeschlagen werden.«

Wir alle erhoben uns.

»Aber was ist mit der Festung des Policrates?« fragte ich. »Möchtest du einen solchen Feind im Rücken haben?«

»Dein Plan ist töricht, und ich würde keine große Zahl von Männern riskieren«, antwortete Callisthenes. »Aber ich mache dir einen Vorschlag. Ich gebe dir zwanzig Mann, wenn ich so viele Freiwillige finde und wenn Aemilianus aus Ar-Station dir die gleiche Anzahl zur Verfügung stellt. Solltest du dann wirklich durch das Wassertor eindringen und es halten können, setzt du ein Licht am Tor. Wir können dir dann Entsatz durch die schmalen Fahrrinnen schicken. Ich habe in Victoria etwa zweihundert Mann zur Verfügung und Aemilianus, wie mir gemeldet wurde, eine vergleichbare Zahl.«

»In der Festung müssen wir mit vier- bis fünfhundert Mann rechnen«, sagte ich. »Du erwartest wirklich von mir, daß vierzig Mann den Angriff wagen und etwa zwei Ahn lang das Wassertor halten?«

»Sicher«, sagte Callisthenes.

»Es geht nicht nur um das Tor und die Mauer ringsum und den Turm mit der Winde, sondern auch um die Wehrgänge innerhalb des ummauerten Hafenbeckens hinter dem Tor, und den Zugang zur eigentlichen Festung.«

»Schwierig wäre es«, sagte Callisthenes.

»Unsere Linien wären viel zu dünn, Jason«, sagte Callimachus. »Du mußt den Plan vergessen.«

»Manchmal ist es überraschend«, sagte Callisthenes und musterte mich lächelnd, »was einige wenige entschlossen und geschickt vorgehende Männer zu erreichen vermögen.«

»Ragnar Voskjard«, sagte ich, »würde mit einer Flotte kommen und nicht mit ein oder zwei Schiffen und vierzig Mann.«

»Leere Getreideschiffe, im Schlepptau mitgebracht, könnten im Dunkeln den Eindruck einer solchen Flotte erwecken«, sagte Callisthenes nachdenklich.

»Akzeptiere Jasons Plan in seiner plausiblen Form, Freund Callisthenes, sonst müssen wir uns alles aus dem Kopf schlagen«, sagte Callimachus.

»Ich bin bereit, es anders zu versuchen«, sagte ich.

»Das hatte ich mir gedacht«, meinte Callisthenes.

»Welche Chance gibst du uns?« fragte ich den Krieger.

Er lächelte. »Vielleicht eins oder zwei zu tausend«, sagte er.

»Die Überraschung wäre auf unserer Seite.«

»Deine Unterstützung könnte erst mit großer Verzögerung zur Stelle sein«, erwiderte Callimachus.

»Die Portale und Wehrgänge, die wir verteidigen müßten, sind ausreichend schmal«, entgegnete ich. »Ich war schon einmal in der Festung.«

»Zu viele Positionen müßten verteidigt werden«, widersprach Callimachus. »Und ihr könntet leicht umgangen und in die Zange genommen werden.«

Ich dachte an die Sklavin, das Mädchen, das einmal Miß Beverly Henderson gewesen war.

»Gib mir zwanzig Mann«, sagte ich zu Callisthenes, der mir zunickte.

»Wenn Port Cos dir zwanzig Mann für ein solches Unternehmen gibt«, meldete sich Aemilianus, »dann kann Ar-Station natürlich keine kleinere Zahl bereitstellen.«

»Dein Vorhaben ist tollkühn, der reinste Wahnsinn, Jason«, sagte Callimachus. »Laß dich auf kein so verrücktes Unternehmen ein!«

»Du brauchst nicht mitzukommen, mein Freund«, sagte ich.

»Selbstverständlich werde ich dich begleiten«, sagte Callimachus.


So lagen wir denn nun unter den hohen, dunklen Mauern der Festung des Policrates. Etwa hundert Fuß hoch ragten sie über uns empor.

Lautlos glitten wir auf das Wassertor zu; unsere Ruder tauchten kaum noch ins Wasser.

Innerhalb des Wassertors, gut dreihundert Fuß entfernt, sahen wir an einer Mauer eine Laterne flackern. Das eigentliche Tor war fünfzig Fuß hoch, groß genug, um eine Frachtgaleere mitsamt den hohen Masten durchzulassen, sobald das metallene Gitter hochgezogen worden war. Zu beiden Seiten standen massive Türme. Der Turm zur Rechten, von außen gesehen, beherbergte die Winde, die das Tor hob und senkte. Den Schub lieferten Gefangene und Sklaven, die an die Stempel der Winde gekettet waren – doch hätten diese Männer ohne Hilfe der riesigen Gegengewichte, die sich ebenfalls in dem Turm befanden, das Tor um keine Handbreit bewegen können.

»Wer da?« rief ein Mann von der Mauer.

»Zurück!« sagte ich zu Callimachus. »Vielleicht erkennt man dich.«

So stand ich denn allein auf dem Vorderdeck der Galeere. Ich begab mich zum Fußende des Buges und richtete mich auf, den linken Arm um den Bugspriet gelegt. Ich trug die Maske, die ich schon als angeblicher Kurier Ragnar Voskjards aufgehabt hatte.

»Wer da?« wiederholte der Mann.

»Ich bin der Kurier Ragnar Voskjards!« gab ich zurück. »Wir sind vorausgeschickt worden, die Kundschafterschiffe seiner Flotte.« Wir hatten nur vier Schiffe bei uns, von denen drei so gut wie leer waren. Tasdron hatte sie in Victoria besorgt, unter dem Vorwand, einen Sa-Tarna-Transport aus Siba zu organisieren – für die Brauerei des Lucian bei Fina, östlich von Victoria, mit der er manchmal Geschäfte machte.

»Die Flotte Ragnar Voskjards erwarten wir erst in zehn Tagen!« rief der Mann zurück.

»Wir sind seine Kundschafter!« brüllte ich. »Ragnar Voskjard steht nur zwei Tage hinter uns!«

»Der Voskjard scheint es recht eilig zu haben!« rief der Mann.

»Es gibt Städte niederzubrennen!« rief ich. »Beute zusammenzuraffen, Frauen zu versklaven!«

»Wie seid ihr an der Kette vorbeigekommen?«

»Die Schlacht ist gekämpft«, antwortete ich. »Sie ist durchtrennt!«

»Mir gefällt das nicht«, sagte Callimachus hinter mir. »Es sind zu wenige Männer auf den Mauern.«

»Dagegen habe ich nun wirklich nichts«, antwortete ich. »Hoffentlich sind die meisten Männer und Schiffe Policrates’ unterwegs.«

»Jetzt – wo er eigentlich auf Ragnar Voskjard warten sollte?« gab Callimachus zu bedenken.

»Nach Ansicht dieser Leute trifft er erst in zehn Tagen ein«, argumentierte ich.

»Wir wollen zurückfahren!« drängte Callimachus.

»Die Kelche Cos’«, rief ich zu dem Mann auf der Mauer empor, »sind nicht die Kelche Ars!«

»Doch können beide prächtigen Wein enthalten!« gab er zurück.

»Die Schiffe Cos’ sind nicht die Schiffe Ars!«

»Aber die Bäuche beider können hübsche Schätze befördern!« lautete die Antwort.

»Die Verhüllungsroben Cos’ sind nicht die Verhüllungsroben Ars!« rief ich.

»Was haben sie gemeinsam?« fragte der Mann.

»Beide enthalten die Körper von Sklavinnen!«

»Hebt das Tor!« befahl der Mann und wandte sich ab.

Langsam, ächzend, Fuß um Fuß, wurde das schwere Gitter des Wassertors hochgezogen, tropfend, im Licht der drei Monde schwarz schimmernd.

»Es geht zu leicht«, flüsterte Callimachus. »Wir wollen umkehren, solange es noch geht.«

»Die Überraschung ist auf unserer Seite«, widersprach ich. »Unsere einzige Hoffnung. Alles hängt davon ab!«

»Fahrt ein, Freunde!« tönte es.

Am Bug stehend, gab ich dem Rudermeister mit dem rechten Arm ein Zeichen, der, zwischen den Bänken stehend, leise zu den Männern sprach. Er stammte aus Port Cos. Ich blickte zu dem hohen Tor empor, das nun beinahe über uns hing. Langsam glitten wir in die Öffnung.

»Jetzt!« brüllte eine Stimme auf der Mauer über uns.

Plötzlich vernahm ich ein lautes, schnelles Klappern.

»Ruder zurück!« rief der Rudermeister, der Mann aus Port Cos. »Ruder zurück!«

Aber dazu blieb keine Zeit mehr. Einige Fuß hinter mir, aus der Höhe herabrasend, durch das Vorderdeck der Galeere krachend, stürzte das mächtige Eisentor.

Ich wurde emporgeschleudert; der gesamte Bug, das Schandeck schienen emporzuspringen. Ein ohrenbetäubendes, krachendes Splittern war zu hören, als sich das schwere Tor wie eine Axt in den Schiffskörper bohrte. In diesem Bruchteil eines Moments hatte ich durch das enge Gitter des Tors den hinteren Teil der Galeere emporklappen sehen. Callimachus wurde ins Wasser geschleudert, andere Männer, abrupt emporgehoben, klammerten sich an Bänken fest oder rollten über das Deck. Abrupt wimmelte es auf den Innenseiten der Wehrmauern von Männern, die sich hinter den Bastionen versteckt haben mußten. Der Bug, an den ich mich klammerte, prallte wieder auf das Wasser, und ich sprang in weitem Bogen davon fort. Gleich darauf kam ich japsend wieder an die Oberfläche und versuchte mich zu orientieren. Ringsum schwammen die Wrackteile des Bugteils. Draußen ging der Rest der Galeere langsam unter. Von den Mauern regneten Pfeile auf die Wrackteile und Holz herab. Unsere Männer schwammen von dem Wrack fort, umgeben von Pfeilen, die ringsum ins Wasser stießen. Ich tauchte zum Fuß des Wassertors hinab. Durch das enge Gitterwerg gab es keinen Ausweg. Auch unter dem Metall führte kein Weg hindurch, ebensowenig wie vorbei. Die Eisenstäbe steckten in sechs Zoll breiten, runden Löchern, die in eine flache Schwelle gebohrt worden waren. Schließlich kam ich mit schmerzenden Lungen wieder an die Oberfläche und schüttelte mir das Wasser aus den Augen. Ich klammerte mich am Gitter fest. Vor dem Tor war es dunkel. Hier und dort schwammen Holzstücke im Mondschein, außerdem war das Wasser von zahlreichen Pfeilen bedeckt. Zweifellos würde man sie später einsammeln und trocknen. Die drei Galeeren, die wir geschleppt hatten, trieben ziellos fort und waren in der Dunkelheit kaum noch auszumachen. Ich hörte Gelächter auf der Mauer. Dann gewahrte ich eine Laterne und ein kleines Boot hinter mir. Während ich mich noch an das Eisen klammerte, wurde mir ein Seil um den Hals geschlungen.

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