31

»Laßt sie auspeitschen, beide!« befahl Kliomenes.

Er saß lässig zurückgelehnt im Thronsessel des Policrates und hielt Hof.

Mira und Tala, zwei blonde Schwestern aus Cos, die als Sklavinnen vor ihm knieten, wurden fortgeführt. Ihr Herr hatte Beschwerde gegen sie geführt, weil sie ihn nicht zufriedengestellt hatten.

»Führt sie fort!« rief Kliomenes.

»Weshalb bin ich hier, Kapitän?« fragte ich den Piraten neben mir, der mich in den Saal geführt hatte. Er hatte normalerweise die Aufsicht über die Arbeiter an der Winde.

»Kliomenes hält Hof«, sagte er grinsend.

»Aber ich habe nichts getan«, wandte ich ein und tat, als hätte ich eine Todesangst.

»Darüber soll Kliomenes urteilen«, bemerkte er.

»Bitte nicht, Kapitän!«

»Schweig!« befahl er grinsend.

»Ja, Kapitän.« Man hatte mich zwar von der Windenstange losgebunden, doch trug ich noch meine Ketten an Händen und Füßen.

»Was jetzt?« fragte Kliomenes.

»Die Verteilung von Beute«, sagte der Pirat.

Er schob fünf flache Schalen voller Münzen über die Fliesen und deponierte daneben ein Gewirr von Schmuck und eine Schale mit Perlen.

»Und dann dies«, fuhr der Mann fort und stieß ein angekettetes Mädchen nach vorn. Anmutig blieb sie vor Kliomenes stehen.

»Ist sie hübsch?« fragte dieser.

Irgend etwas an dem Mädchen kam mir bekannt vor, aber ich vermochte ihre Züge unter dem dünnen Schleier nicht auszumachen. Der Pirat hinter ihr riß den Schleier ab und ließ ihn zu Boden fallen. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Es war die ehemalige Lady Florence aus Vonda. Inzwischen kannte ich sie unter dem Namen Florence, als Sklavin Miles’ aus Vonda. Vermutlich war sie nicht mehr sein Eigentum. Ein prächtiges Beutestück!

»Sie ist hübsch«, stellte Kliomenes fest.

»Ja«, antwortete der Pirat.

»Mädchen«, sagte Kliomenes.

»Ja, Herr?«

»Wie wurdest du gefangengenommen?«

»Mit Gewalt«, antwortete sie. »Mein Herr, Miles aus Vonda, fuhr auf dem Schiff Blume von Siba von Victoria ab.« Ich kannte das Schiff. Siba ist eine Stadt am Vosk, östlich von Sais gelegen. »Sein Ziel war Turmus. Er hatte zwei Sklaven bei sich, mich und einen Kampfsklaven namens Krondar.« Meiner Ansicht nach hatte Miles aus Vonda töricht gehandelt. Ich hatte Florence bei unserem Gespräch in der Taverne angedeutet, daß es derzeit gefährlich sei, auf dem Fluß zu reisen. Doch offenbar hatte der stolze Vondaner meinen Vorschlag mißachtet zu warten, bis er sich einem Konvoi anschließen konnte. Bestimmt hatten ihm andere Ähnliches geraten, denn in den Tavernen und auf den Märkten am Fluß gab es kaum ein anderes Thema. »Westlich von Tafa wurden wir von zwei Schiffen angegriffen. Wie ich erfahren habe, war das eine Schiff die Galeere Talia aus dieser Festung, unter Sirnaks Kommando, der hier neben mir steht. Das andere war die Galeere Tamira. Ihr Kapitän Reginald steht im Sold Ragnar Voskjards.«

»Du solltest doch die Tamira in die Nähe der Kette zurückbegleiten«, sagte Kliomenes zu dem Piraten, der ihm die Beute präsentierte. »Wie konntest du dich da unterwegs solchen prosaischen Dingen widmen?«

»Es war leichte Beute – Gold, das förmlich im Sand lag, Früchte, die zum Pflücken vor meiner Nase hingen!« antwortete der Pirat achselzuckend.

»Die Tamira befördert die Losungsworte, das weißt du«, sagte Kliomenes.

»Die sind sicher«, antwortete der Pirat.

»Was ist die Tamira?« fragte ich den Piraten neben mir.

»Das Kundschafterschiff Ragnar Voskjards«, antwortete er und bestätigte damit meine Vermutung. Um meinen Plan in die Tat umzusetzen, der dann vermutlich von der Erdensklavin Peggy verraten worden war, hatte ich mich als Kapitän von Kundschafterschiffen ausgegeben, angeblich von Ragnar Voskjard vorausgeschickt. Inzwischen war bereits das echte Vorausschiff der Piraten eingetroffen und wieder auf dem Rückweg nach Westen, um sich vermutlich dort mit dem Voskjard zu treffen. Daß sie nur ein Schiff geschickt hatten, deutete auf eine gewisse Überheblichkeit der Piraten aus dem Westen hin. Hatten sie wirklich so wenig zu befürchten?

»Die Kette ist noch nicht durchtrennt worden?« fragte ich. Das bisher geführte Gespräch brachte mich auf diesen Gedanken. Andererseits wußte ich nicht recht, wie Voskjards Kundschafterschiff hier hätte erscheinen können, wenn es keinen Weg durch die Kette gab.

»Nein«, antwortete der Pirat neben mir.

»Wie ist das Schiff dann herübergekommen?« wollte ich wissen.

»Ein einzelnes Schiff, das sich als Handelsgaleere ausgibt, hat da keine Mühe«, erwiderte er.

»Ah, die Kette wurde für die Tamira geöffnet?«

»Wie für alle Schiffe, die in ehrlichen Geschäften unterwegs sind.«

»Es gab keine Schwierigkeiten?«

»Wir haben Freunde an der Kette«, bemerkte der Pirat.

»Ich verstehe.«

»Der Kundschafter wird zurückkehren, wie er gekommen ist.«

»Aha.« Innerlich schäumte ich vor Wut. Wie sinnlos, wie wirkungslos war doch die Kette!

Kliomenes betrachtete die Schätze vor sich.

»Ist dies wirklich eine gerechte Teilung der Beute der Blume von Siba?«

»Ich finde sogar, wir haben den besseren Teil«, sagte der Pirat vor der Plattform.

»Ich verstehe«, sagte Kliomenes.

»Auf dem Fluß sind im Moment keine großen Werte unterwegs«, fuhr der Pirat fort. »Die Leute haben Angst. Die Beute bleibt meistens in den Städten.«

»Wenn wir uns erst mit dem Voskjard verbündet haben«, sagte Kliomenes, »können wir uns das Zeug nach Belieben aus den Häusern holen.«

»Richtig, Kapitän!« rief der Pirat.

»Die Münzen, der Schmuck und die Perlen kommen zum allgemeinen Schatz«, befahl Kliomenes, und der Piratenkapitän rief Helfer herbei, die die Dinge hinaustrugen.

»Das Mädchen«, fuhr Kliomenes nachdenklich fort und betrachtete die Sklavin, die mit gesenktem Kopf vor ihm kniete. »Behaltet sie in der Festung. Ich selbst werde heute abend prüfen, was sie wert ist.«

Das schluchzende Mädchen wurde aus dem Saal gezerrt.

Nun fiel Kliomenes’ Blick auf mich, und ich wurde nach vorn gestoßen. Unaufgefordert kniete ich nieder. Das löste bei den versammelten Piraten Gelächter aus. Ich war der letzte Tagesordnungspunkt dieses Morgens. Er hatte mich bis zuletzt aufgehoben.

»Ich hätte dich schon vor langer Zeit umbringen sollen«, sagte Kliomenes. »In der Taverne des Tasdron.«

»Verzeih mir, Kapitän«, sagte ich mit gesenktem Kopf.

»Wie mir berichtet wird, bist du ein Prahlhans und Lügner«, fuhr Kliomenes fort.

»Nein, nein, Kapitän«, sagte ich hastig.

»Er behauptet«, meldete der Pirat, der mich zur Audienz geführt hatte, »daß er dich und Policrates täuschte, indem er den Kurier des Ragnar Voskjard spielte.«

»Ist dir dein Ansehen bei den anderen Sleen an der Winde so wichtig, daß du solche Lügen riskierst?« fragte Kliomenes.

Ich hob den Kopf nicht. Ich schien zu zittern.

»Du hast ihn doch gewarnt, nicht wahr?« wandte sich Kliomenes an den Mann neben mir.

»Oft sogar, Kliomenes«, antwortete dieser. »Doch noch heute früh wiederholte er seine Behauptungen. Er glaubte wohl, ich sei außer Hörweite.«

»Ich verstehe.«

»Außerdem hat er sich gestern herabwürdigend über dich geäußert.«

»Was hat er gesagt?« Kliomenes war amüsiert.

»Er nannte dich – einen Dummkopf«, antwortete der Pirat.

Die Anwesenden lachten. Kliomenes aber, das merkte ich, als ich den Kopf hob, schien sich nicht zu amüsieren. Anscheinend gab es in der Festung Vorbehalte gegen ihn – vielleicht war man eifersüchtig auf ihn und fürchtete ihn. Vielleicht gab es sogar Männer, die ihm am liebsten den Stellvertreterposten nach Policrates streitig gemacht hätten. Kliomenes sah sich um, und das Gelächter verstummte sofort.

»Verzeih, Kapitän!« sagte ich.

»Der Kurier – oder der Mann, der sich als Ragnar Voskjards Kurier ausgab – war einigermaßen vertraut mit dem Schwert«, sagte Kliomenes.

»Verzeih, Kapitän«, flehte ich.

»Töte ihn nicht, Kliomenes«, sagte einer der Männer in der Nähe der Thronplattform. »Er könnte uns noch nützlich sein, wenn es darum geht, den echten Kurier Ragnar Voskjards freizubekommen, der von unseren Feinden in Victoria bestimmt gefangengehalten wird.«

»Die würden niemals einen so wichtigen Mann gegen diesen wertlosen Burschen austauschen, einen Hafenarbeiter!« sagte Kliomenes mit Nachdruck.

»Warte auf Policrates«, beharrte der Mann. »Er soll in dieser Sache entscheiden.«

»Wenn Policrates nicht hier ist«, sagte Kliomenes, »führe ich das Kommando.«

»Das bestreite ich nicht«, sagte der Mann und trat zornig einen Schritt zurück.

Kliomenes wandte sich wieder in meine Richtung. »Wenn du also wirklich der Mann bist, der hier als Ragnar Voskjards Kurier auftrat, dann mußt auch du dich mit dem Schwert auskennen.«

»Verzeih, Kapitän!« wiederholte ich.

»Gebt ihm ein Schwert!« befahl Kliomenes.

Der Mann neben mir, der mich hergebracht hatte, zog seine Klinge blank. Mit dem Griff voran hielt er sie mir hin.

»Nein«, sagte ich. »Nein!«

»Greif zu!« rief Kliomenes gelassen.

Mit einer angeketteten Hand nahm ich den Schwertgriff. Ich gab mir Mühe, die Waffe möglichst ungeschickt zu halten, wie einen Hammer und viel zu weit oben am Schutzsteg, was im Falle eines Kampfes meine Bewegungsfreiheit entscheidend beschnitten hätte.

Einige Männer lachten. Kliomenes lehnte sich auf seinem Thron zurück. Er hatte mich genau beobachtet. Er war ein eitler, arroganter Mann, aber nicht dumm. Er hatte seinen Leutnantposten bei Policrates nicht mit Dummheit errungen.

»Kannst du mich nicht töten, wie ich bin, in Ketten?« fragte ich. »Mußt du mich noch verspotten?«

»Bringt ihn nach draußen«, befahl Kliomenes, stand auf und reckte sich.

»Bitte, Kapitän, tu mir einen Gefallen!« flehte ich.

»Was?«

»Die Männer aus dem Windenraum sollen nicht erfahren, was mit mir geschehen ist!«

»Bringt sie in Ketten nach draußen!« wandte sich Kliomenes prompt an meinen Bewacher. »Sie sollen beobachten, was mit diesem Burschen geschieht.«

»Nein, Kapitän, bitte!«

Doch schon zerrten mich zwei Männer an den Armen aus dem Raum.


Im grellen Licht der Sonne kniff ich die Augen zusammen.

Ich spürte, wie mir die Ketten von Armen und Beinen genommen wurden. Bewaffnete umringten mich. In einer Hand hielt ich noch immer das Schwert des Piraten – und spielte weiter den Unerfahrenen und Ängstlichen.

Ich sah mich um. Ich stand auf einem etwa zwanzig Fuß breiten Bohlengang, der das Innenbecken der Festung säumte. Wir befanden uns innerhalb der furchteinflößend hohen Mauern. In dem Becken lagen nur fünf Schiffe und kleinere Boote. Rechts von mir erhob sich die große Eisentür, die in die Tiefen der Festung führte. Auf der anderen Seite des Innenbeckens, etwa hundert Meter Wasserfläche entfernt, sah ich den Holzgang am Fuße der Außenmauer und die Treppe, die zu den Wehrgängen der Mauer emporführte. Mein Blick ruhte schließlich auf dem nächsten Wassertor.

»Du wirst bald erkennen müssen, wohin deine Tollkühnheit führt«, sagte mein Wächter, dessen Schwert ich umklammert hielt.

Ringsum wurde gelacht.

Im nächsten Moment hörte ich das Klappern von Ketten, die in langsamem Rhythmus bewegt wurden. Meine Leidensgenossen von der Winde wurden ins Freie geführt, um sich mein Schicksal anzuschauen.

Ich senkte den Kopf, als sei ich beschämt, als würde ich gleich als Lügner vor ihnen stehen. Mit dieser Bewegung verdeckte ich zugleich mein Lächeln über die Tatsache, daß die Männer nicht mehr oben im Windenraum hockten und schwere Transportketten trugen. So würde es gewiß mehrere Ehn dauern, ehe sie an die Winde zurückkehren und das Wassertor öffnen konnten.

»Zurück! Macht Platz!« sagte Kliomenes und trat auf mich zu. Erschaudernd wich ich zurück. Er reichte einem Begleiter sein Schwert und zog sich die Tunika bis zur Hüfte herab. Dann nahm er die Waffe zurück und vollführte damit mehrere Hiebe durch die Luft, um die Balance der Klinge zu testen. Es war eine schnelle Waffe. Ich wußte aber auch, daß meine sich noch schneller bewegen konnte.

»Wir brauchen Platz«, sagte Kliomenes.

Die Männer traten zurück und bildeten einen großen Kreis. Zwei Begleiter des Kliomenes, das entging mir nicht, hatten blank gezogen. Sollte er zufällig in die Enge getrieben werden, so würden sie sich bestimmt sofort für ihn verwenden. Nützen konnte es mir in meiner derzeitigen Lage nicht, Kliomenes zu verwunden oder zu töten. Mein Ziel war es nicht, mit ihm abzurechnen, sondern aus der Festung freizukommen. Und das schien mir nur möglich zu sein, wenn es mir gelang, seine Eitelkeit und vielleicht auch eine gewisse Unvernunft in ihm anzustacheln, die mir nützen konnten.

»Bist du bereit, du störrischer Einfaltspinsel, du hübscher Prahlhans, deine großen Worte einzulösen?« fragte Kliomenes.

Ich betrachtete meine Leidensgenossen von der Winde. Mürrisch standen sie in ihren Ketten vor mir. Ihre niedergeschlagene Stimmung freute mich. Trotz meiner großen Töne an der Winde, die ihnen sicher auf die Nerven gegangen waren, schienen sie sich nicht darauf zu freuen, einen der ihren niedergemetzelt zu sehen. Dies freute mich. Es ließ sich auch hoffen, daß sie es schwierig finden würden, sehr schnell in den Windenraum zurückzukehren. In ihrer Eile würden sie vielleicht sogar stürzen oder sich in ihre Ketten verwickeln. Solche Dinge geschehen nun mal.

Abrupt zuckte die Klinge auf mich zu.

Aus dem Gleichgewicht geworfen, torkelte ich zurück.

»Ein Glücksstreich der Abwehr«, sagte einer der Piraten.

»Hier gibt es keinen Callimachus, der dich rettet, Dummkopf!« fauchte Kliomenes, betrachtete mich abschätzend und bewegte seine Schwertklinge einen Meter vor meiner Brust hin und her.

Und wieder fuhr der Stahl wie eine Ost auf mich zu.

»Der Hafenarbeiter hat Glück«, sagte einer der Piraten.

Doch nun überkam mich wirkliche Angst, denn ich erkannte, daß Kliomenes mich diesmal wirklich hatte treffen wollen. Er war einen Schritt zurückgetreten und betrachtete mich aufmerksam. Ein Parierstreich mochte Glück sein, aber zwei von der Sorte, hintereinander, offensichtlich ungeschickt geführt und doch gleichermaßen wirkungsvoll, sprachen gegen die Wahrscheinlichkeit bei solchen Kämpfen.

»Er kennt sich aus«, verkündete Kliomenes.

»Er ist ungeschickt!« rief einer seiner Männer lachend. Andere fielen in das Lachen ein. »Hast du Angst, Kliomenes?« fragte jemand.

Kliomenes warf einen Blick auf die beiden Männer, die ihm am nächsten standen, die Männer, die ihre Schwerter gezogen hatten. Es genügte ein Wort, und die beiden würden sich auf mich stürzen, womöglich gefolgt von anderen.

Ich ließ mein Schwert fallen.

Kliomenes erstarrte, griff aber nicht an. »Jetzt hättest du ihn töten können«, sagte ein Mann.

Schweratmend und ungeschickt nahm ich die Waffe wieder auf. Ich blickte Kliomenes an, als sei ich zutiefst erschrocken.

Unentschlossen musterte mich mein Gegner. Er wußte, daß ich das Schwert wieder an mich hätte nehmen können, ehe er mich erreichte. Dagegen konnte er nicht sicher sein, ob ich das ebenfalls wußte.

»Sei gnädig, Herr«, sagte ich.

»Er hat Angst«, bemerkte einer der Piraten.

Da erkannte ich, daß ich mich auf ein höchst gefährliches Spiel einlassen mußte. Nicht die anderen waren von meinem Unvermögen mit der Klinge zu überzeugen, sondern Kliomenes selbst. Die Zuschauer waren nicht wichtig.

»Verzeih mir, Kapitän«, flehte ich, kniete nieder und legte mein Schwert auf die Bohlen vor mir. Dann schob ich es mit dem Griff voran auf ihn zu.

Die Piraten machten ihrer Verachtung Luft.

»Bitte, Kapitän!« rief ich. »Laß mich wieder an die Winde ketten!«

Kliomenes lächelte. »Feigling!« riefen mehr als eine Stimme.

Ich kniete auf dem Holz und war der Gnade des Kliomenes wehrlos ausgeliefert. Er hätte sich auf mich stürzen und töten können wie eine angebundene Verr.

»Bitte, Kapitän!« schien ich zu bitten, »laß mich wieder an die Winde ketten!«

Kliomenes sah sich um und lächelte. Dann schob er die Klinge zu mir zurück. »Nimm dein Schwert!« befahl er.

Ich gehorchte; im gleichen Moment griff er an, und ich begegnete der herabzuckenden Klinge mit empordrängendem Stahl und einem Funkenschauer. Kliomenes stand nicht im Gleichgewicht, und ich wuchs dicht vor ihm empor, innerhalb seiner Abwehr, und packte ihn und drehte ihn in der Beuge meines rechten Arms halb herum, die Klinge in dieser Hand haltend. »Zurück!« rief ich den herbeieilenden Piraten zu. Meine linke Hand war in seinem Haar vergraben und zog seinen Kopf zurück, meine Klinge lag an seiner Kehle.

»Zurück!« flüsterte Kliomenes angespannt, ohne sich rühren zu können. Ohne ihn loszulassen, drehte ich mich um und vergewisserte mich, daß die anderen nicht zu nahe heranrückten.

»Nicht näherkommen!« warnte ich die Piraten. »Sonst schneide ich ihm die Kehle durch!«

»Ich bin ausgerutscht«, sagte Kliomenes. »Ausgerutscht.«

»Laß dein Schwert fallen«, sagte ich zu Kliomenes, und er gehorchte.

»Loslassen!« forderte einer der Piraten. »Du hast keine Chance zur Flucht!«

»Legt die Schwerter hin!« ordnete ich an. »Hier auf die Bohlen.«

Sie zögerten, und Kliomenes bekam ein wenig von der Schärfe des Stahls an der Kehle zu spüren.

»Schwerter weg, ihr Dummköpfe!« rief Kliomenes.

Ich sah zu, wie Klinge um Klinge, blank gezogen oder in der Scheide, zu Boden gelegt wurde.

Nun bedrohte meine Waffe den Rücken des Kliomenes. »Du gehst mir voraus nach oben auf die Mauer«, sagte ich zu ihm. »Ihr folgt mir nicht!« rief ich den anderen warnend zu.

»Gib dein Schwert ab«, forderte Kliomenes.

»Beeilung!« rief ich.

»Du hast nichts, womit du uns unter Druck setzen kannst«, sagte er.

»Doch – dein Leben.« Er erstarrte. »Ehe du nur zwei Schritte machst, kann ich dich mit meinem Schwert in Stücke hauen.«

»Vielleicht auch nicht«, sagte Kliomenes unsicher.

»Das ist ein Risiko, das ich gern eingehe. Du auch?«

Er schaute mich an.

Ich öffnete die linke Hand an meiner Hüfte: »Notfalls bin ich bereit, dich wie eine Sklavin am Haar auf die Mauer zu führen.«

»Das wird nicht nötig sein«, gab er zurück, machte kehrt und ging mir voraus über den Holzgang, der das Innenbecken der Burg säumte. Ich schaute zur Gruppe der Piraten zurück. Sie folgten uns nicht. Sie standen an der Eisentür, am Eingang zur eigentlichen Festung. Die Schwerter lagen vor ihnen am Boden.

»Leg deinen Bogen fort!« sagte ich zu einem der Männer auf der Festungsmauer, als wir die Treppe hinaufstiegen.

»Leg den Bogen fort!« befahl Kliomenes zornig. Er ging vor mir.

Gleich darauf hatten wir den oberen Wehrgang erreicht; er verlief auf der Außenmauer des westlichen Torturms, der in seinen unteren Gefilden die Windenkammer beherbergte.

Zwei oder drei Männer, Bögen in den Händen, schoben sich vorsichtig näher.

»Legt die Bögen fort!« befahl ich.

»Tut, was er sagt!« rief Kliomenes ärgerlich.

Die Bögen wurden abgelegt. Ich blickte über den Mauerrand. Wie beabsichtigt, befanden wir uns in unmittelbarer Nähe des Wassertors. Ich wußte nicht, wie tief es dort draußen war. Jedenfalls tief genug für den Kiel einer schwerbeladenen Beutegaleere.

»Was hast du vor?« fragte Kliomenes.

»Sag ihnen, sie sollen ein Seil holen«, sagte ich und deutete auf die Männer.

Kliomenes grinste. »Holt ein Seil«, befahl er.

Die Piraten hasteten die Treppen hinab.

»Mir scheint, die Flucht wird dir doch gelingen«, bemerkte Kliomenes. Er nahm an, daß ich das Seil auch wirklich benutzen wollte, daß ich damit von der Höhe der Mauer hinabsteigen wollte. Das hätte den Piraten natürlic h die Gelegenheit gegeben, mit Bögen auf mich zu zielen. Am Seil wäre ich äußerst verwundbar gewesen, außerdem hätte man das Seil durchschneiden können.

»Jetzt sind wir allein auf der Mauer«, sagte ich zu Kliomenes und richtete das Schwert auf ihn. Er trat einen Schritt zurück.

Kliomenes erbleichte. »Töte mich nicht!« flehte er. Hinter ihm gähnte der Abgrund, der auf dem unteren Bohlengang endete.

Ich zog den Arm zurück, als wollte ich ihn mit der Klinge durchbohren. Er zuckte zurück, fuhr herum und floh. Ich lachte ihm nach, ohne mich zu rühren. Vermutlich würde er erst wieder stehenbleiben, wenn er sich zwischen seinen Männern in Sicherheit wähnte. Im nächsten Moment warf ich das Schwert fort, erstieg die Mauerbrüstung und sprang mit den Füßen voran in das tiefe unter mir schäumende Wasser. Ich hatte den Eindruck, sehr lange in der Luft zu hängen. Sie wehte kalt gegen meinen Körper und zupfte mir am Haar. Dann prallte ich auf, glaubte durch das Wasser hindurchzustoßen und stieß mit großer Wucht auf den Schlamm des Flußgrundes. Bis zu den Knien sank ich ein und hatte schon das Gefühl, mir die Beine gebrochen zu haben. Brausend umtoste mich das Wasser. Ich befreite mich strampelnd aus dem Schlamm und schwamm mit energischen Bewegungen der Oberfläche entgegen, die ich einige Sekunden später keuchend durchbrach. Ich schüttelte mir das Wasser aus dem Haar, blinzelte es fort. Dann schaute ich nach oben zu den hoch über mir liegenden Bastionen. Meine Beine fühlten sich taub an, doch wenigstens konnte ich sie bewegen. Keine Pfeile prallten rings um mich ins Wasser. Ich holte tief Atem, tauchte und schwamm unter Wasser auf die im Wasser stehenden Schilf- und Buschhaine zu, die den zur Festung führenden Kanal säumten. Zwischen den Wurzeln und Stengeln suchte ich Schutz. Aus dem Schutz dieser Deckung schaute ich schließlich zurück und sah erst jetzt Männer auf den Mauern erscheinen. Ich hatte sie in die Festung schicken lassen. Nun wußten sie nicht einmal, in welche Richtung ich geschwommen war. Wieder tauchte ich ein Stück, bis ich das sumpfige Terrain nordwestlich der Festung erreichte, abgeschirmt durch hohe Bäume. Vermutlich glaubten die Piraten, ich würde mich nach Nordosten wenden, die Richtung nach Victoria. Auf jeden Fall hatte ich einen guten Vorsprung vor möglichen Verfolgern. Bestimmt dauerte es mehrere Ehn, das mächtige Wassertor zu öffnen. Dafür hatte ich gesorgt. Ich konnte die Fahrrinne auch später noch, im Schutz der Dunkelheit, in Richtung Nordosten durchqueren, um mich nach Victoria zu wenden. Nach Belieben konnte ich aber auch einfach zum Südufer des Vosk vorstoßen. Von dort fand ich sicher einen Weg zurück nach Victoria. Zahlreiche kleine Schiffe befahren den Vosk. So machte ich mich eilig auf den Weg. Mir war kalt. Aber ich war bei bester Stimmung.

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