Es wurde der bisher längste Tag ihres Leben. Naida kehrte nicht noch einmal zurück und es vergingen auch noch mehrere lange quälende Stunden, bis ihr die beiden Sklavinnen endlich eine Mahlzeit brachten. Sie bestand nur aus einer Schale Wasser und einem Stück Fladenbrot, das so hart war, dass sie sich beinahe die Zähne daran ausbiss. Zweifellos war auch dies ein Teil der Bestrafung, die Naida ihr für ihren Ungehorsam zugedacht hatte, und vermutlich auch so etwas wie eine Warnung, die Robin sehr gut verstand. Doch auch ohne die schmutzigen Kleider, die sie tragen musste, und ohne die ärmliche Mahlzeit, mit der Naida ihr zu verstehen geben versuchte, welches Schicksal ihr möglicherweise bevorstand, litt Robin an diesem Tag Höllenqualen.
Es war nicht nur die schreckliche Versuchung, der Naida sie ausgesetzt hatte, indem sie ihr den Ring zurückbrachte. Es verging kaum ein Augenblick an diesem Tag, an dem sie nicht an Salim dachte. Aber anders als bisher brachten diese Gedanken keinen Trost; das Bild seines Gesichtes, die Erinnerung an sein Lächeln, der Schauer, der ihr über den Rücken lief, wenn sie an die seltenen, scheinbar zufälligen Berührungen seiner Hände dachte. Das Gefühl von Geborgenheit, das sie empfunden hatte, wenn er sie in seine starken Armen schloss, wollte sich nicht mehr einstellen, im Gegenteil schien die Erinnerung an all das ihren Schmerz noch zu vertiefen. Vielleicht, weil ihr die alte Sklavin endgültig klar gemacht hatte, dass sie Salim niemals wieder sehen würde. Selbst wenn er die Seeschlacht überlebt hatte - wie sollte er sie finden? Dieses Land war groß, unendlich groß, und er war nur ein einfacher Krieger, noch dazu einer, der in den Diensten der Christen gestanden hatte und somit auf wenig Freundschaft oder gar Unterstützung von Seiten seiner Landsleute hoffen konnte. Selbst wenn er sie fand - was sollte er tun? Sie ganz allein aus Omars Gewalt befreien? Er war ein tapferer Krieger, der selbst den meisten Tempelrittern, die sie kannte, Respekt einflößte, aber er war ganz auf sich alleine gestellt, während Omar über eine kleine Armee gebot.
Und da war eine Stimme, ganz tief in ihrem Inneren, leise, flüsternd und verlockend, die sie einfach nicht zum Verstummen bringen konnte und die darauf beharrte, dass Naida Recht hatte. Welches Opfer auch immer sie für Saila und all die anderen Sklaven brachte, sie würde keinen Dank dafür erhalten. Ganz gleich, was sie tat, um das Los dieser Menschen zu mildern, sie würde nichts zurückbekommen. Robin schämte sich ihrer Gedanken, aber sie waren da und sie konnte sie nicht einfach verdrängen.
Als die Sonne unterging, brachten ihr die beiden Sklavinnen eine weitere Mahlzeit, die ebenso kärglich ausfiel wie die erste. Kaum hatte sie sie verzehrt, ging die Tür auf und einer von Omars Kriegern trat ein und forderte sie mit einer wortlosen Geste auf, ihm zu folgen. Es war nicht der schwarz gekleidete Riese, der sie in den letzten Tagen auf Schritt und Tritt begleitet hatte, und Robin fragte sich erneut, was aus Faruk geworden war. Seit ihr Leibwächter am Morgen so seltsam auf den Ring in Naidas Hand reagiert hatte, war er verschwunden. Robin verzichtete aber darauf, ihrem neuen Bewacher eine entsprechende Frage zu stellen, und beeilte sich, seiner Aufforderung Folge zu leisten.
Der Krieger führte Robin auf den rückwärtigen Hof des Hauses, in dessen Mitte ein kleiner Springbrunnen stand. Es war die Stunde der Dämmerung. Das Licht wurde allmählich schwächer, aber über der Stadt lag noch immer die gleiche trockene Hitze, die Robin bereits bei ihrer erbärmlichen Anreise zu schaffen gemacht hatte. Der Brunnen sorgte jedoch für Linderung und das regelmäßige helle Plätschern des Wassers weckte Erinnerungen in Robin, die sie schon fast vergessen zu haben glaubte.
Naida stand unmittelbar neben dem Brunnen und hatte trotz der Wärme, die Robin noch immer als unangenehm empfand, eine schwere Wolldecke um ihre Schultern geschlungen. Als sie auf sie aufmerksam wurde, wandte sie den Kopf, machte eine knappe, befehlende Geste, auf die hin der Mann mitten im Schritt kehrtmachte und wieder im Haus verschwand, und bedeutete Robin, zur ihr zu kommen. Erneut wurde ihr klar, über welche Macht diese alte und zerbrechlich wirkende Frau in diesem Haus verfügte. Sie ging unwillkürlich schneller, hielt dann aber einen kurzen Moment inne, als sie das Lager aus Decken und bunt bestickten Kissen bemerkte, vor dem Naida stand. Auf dem improvisierten Bett lag eine schmale, in Lumpen gekleidete Gestalt, die Robin erst auf den zweiten Blick als den kranken Jungen aus dem Fischerdorf erkannte, den sie am Morgen vom Fenster aus beobachtet hatte. Er hatte sich auf die Seite gedreht und die Beine an den Körper gezogen.
Als Robin weiterging, verspürte sie wieder den gleichen, schmerzhaften Stich wie am Morgen. Aus der Nähe betrachtet wirkte der Junge noch bemitleidenswerter und verlorener als auf dem Hof. Er war vielleicht zehn Jahre alt, sehr mager, und hatte kurze schwarze Locken. Die geschlossenen Lider zuckten unruhig, als durchlitte er einen Albtraum, und seine Lippen waren vom Fieber ausgedörrt und so rissig, dass sein Mund wie eine verschorfte, blutige Wunde in seinem Gesicht wirkte.
»Du hattest Zeit, deine Entscheidung zu treffen«, sagte Naida. »Ich hoffe, du hast sie gut genutzt.«
Robin sagte nichts, sondern ging wortlos an der Sklavin vorbei und ließ sich neben dem improvisierten Lager auf die Knie sinken. Zitternd streckte sie die Hand aus - die linke Hand, die den Ring trug -, zögerte noch einen Moment und berührte dann die Stirn des Jungen. Sie erschrak, als sie spürte, wie heiß sie war. Die Haut des Knaben schien zu glühen und fühlte sich so trocken und rissig wie Felsgestein in einer Wüste an. Obwohl sie nur seine Stirn und nicht seinen Hals berührte, konnte sie deutlich fühlen, wie sein Herz jagte. Er roch schlecht, nach saurem Schweiß und Schmutz, aber auch nach Krankheit; einer Krankheit, die seinen Körper von innen verbrannte, so wie das Fieber seine Haut glühen ließ.
»Sein Name ist Rustan«, sagte Naida. »Er ist zehn Jahre alt. Ein hübscher Junge, nicht wahr?«
Robin hob den Kopf und sah fragend zu der Sklavin hoch. Sie erwiderte nichts.
»Vielleicht rettest du ihm das Leben«, fuhr Naida fort und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Vermutlich aber nicht. Und wenn, dann wird er vielleicht in zwei Jahren zu Tode gepeitscht, weil er seinem Herrn einen Krug Wasser über das Gewand geschüttet oder einen verbotenen Blick durch das Fenster eines Harems geworfen hat. Vielleicht begegnet ihr euch aber auch in zehn Jahren wieder, und er bezahlt ein Kupferstück dafür, dich für eine Nacht mit in eine schmutzige Kammer zu nehmen.«
Robin sagte auch dazu nichts. Selbst die flüsternde Stimme tief in ihrem Inneren schwieg. Und dieses Schweigen tat weh, denn es war ein Schweigen der Zustimmung.
»Warum quälst du mich so?«, fragte Robin leise.
Naida verzog die Lippen und stieß verächtlich die Luft aus. »Ich wollte, dass du siehst, wofür du deine einzige persönliche Habe hergibst - und vielleicht dein Leben. Ist es immer noch dein Wunsch, diesem Sklaven zu helfen?«
Robin nickte wortlos. Naida sah sie noch eine kleine Ewigkeit lang durchdringend und mit undeutbarem Blick an, dann aber drehte sie sich mit einer so abrupten Bewegung herum, dass die Decke von ihrer Schulter rutschte und zu Boden glitt. Sie hob die Arme und klatschte zweimal in die Hände.
Noch bevor das Echo des zweiten Klatschens verklungen war, öffnete sich die Tür und ein mittelgroßer, schlanker Mann in hellen orientalischen Gewändern trat auf den Hof heraus. Im Unterschied zu den meisten anderen Männern, denen Robin bisher in diesem Land begegnet war, trug er weder einen Turban noch eine andere Kopfbedeckung. Hellblondes Haar reichte ihm bis zu den Schultern und sein Gesicht war nicht das eines Orientalen. Er näherte sich mit schnellen Schritten, blieb unmittelbar vor Naida stehen und deutete ein Kopfnicken an. Die alte Frau trat ebenfalls wortlos zur Seite und deutete mit einer knappen Geste in Richtung des kranken Jungen.
»Seid gegrüßt, ehrwürdige Damen«, begann der Fremde zu Robins gelinder Überraschung nicht auf Arabisch, sondern in ihrer Muttersprache. Eine Tatsache, die Naida sogleich mit einem bösen Blick und einem unfreundlichen Grunzen quittierte.
Doch der Fremde beachtete sie nicht. Er lächelte, wenngleich sein Blick Robin verriet, dass ihre Anwesenheit an diesem Ort ihn mindestens so sehr verwunderte wie seine sie selbst. Als sie sich vom Krankenlager aufrichtete, machte er einen halben Schritt zurück und verbeugte sich noch einmal, tiefer, und wie es ihr schien, förmlicher.
»Ihr seid...?«
»Mein Name ist Ribauld von Melk«, sagte der Fremde, »und Ihr müsst das wunderschöne Christenmädchen sein, von dem ganz Hama spricht.«
»Ganz Hama?«, entfuhr es Robin überrascht.
Ribauld lächelte flüchtig. »Nun, vielleicht nicht ganz Hama, aber doch ungefähr die Hälfte seiner Bewohner. Die männliche.«
Robin fiel es schwer, bei diesen Worten ein Lächeln zu unterdrücken. Es war wunderbar, endlich wieder einem Menschen zu begegnen, von dem sie nicht beschimpft wurde.
»Tu deine Arbeit, Christ«, sagte Naida.
Ribauld warf der Sklavin nur einen raschen Blick aus den Augenwinkeln zu und konzentrierte sich dann wieder ganz auf Robin. »Ich sehe, was man von Eurer Schönheit erzählt, ist nicht übertrieben.«
»Aber Ihr seid nicht nur hierher gekommen, um mir Komplimente zu machen«, vermutete Robin.
»Eure Sklavin hat nach mir geschickt«, antwortete Ribauld. »Es hieß, Ihr brauchtet einen Medicus.«
»Seid Ihr denn ein Heilkundiger?«
»Ich genieße das Vertrauen Eures Herrn Omar, seit ich ihn in Damaskus von einem schweren Fieber geheilt habe, das niemand sonst zu besiegen vermochte.«
Das war zugleich eine Antwort wie auch nicht, aber Robin beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Immerhin war dieser sonderbare Ribauld von Melk zumindest ein Landsmann, und so, wie sich Naida heute benommen hatte, konnte sie vermutlich froh sein, dass sie keinen tanzenden Derwisch hatte kommen lassen, der irgendwelche obskuren Rituale vollzog, die den Jungen von Dämonen befreien sollten. »Ihr habt Omar behandelt und seid noch am Leben?«, sagte sie. »Dann müsst Ihr gut sein.«
Ribauld lächelte knapp, aber Robin konnte spüren, dass sie weitere Scherze dieser Art nun besser vermied. Anscheinend war sie der Wahrheit näher gekommen, als sie ahnte.
Für einen Moment trat ein unbehagliches Schweigen ein, dann räusperte sich Ribauld, sah einen Herzschlag lang interessiert auf den fiebernd daliegenden Jungen hinab und fragte dann: »Was kann ich also für Euch tun?«
»Für mich nichts«, antwortete Robin. »Aber dieser Junge hier braucht Eure Hilfe. Er ist sehr krank.«
»Ich sehe es«, sagte Ribauld. Mehr nicht. Er stellte keine weitere Frage. Er tat auch nichts, um den Jungen genauer in Augenschein zu nehmen.
»Worauf wartet Ihr?«, erkundigte sich Robin.
Der Medicus machte ein zerknirschtes Gesicht und druckste einen Moment herum. »Entschuldigt, verehrte Dame, wenn ich mit einem so kleinmütig anmutenden Anliegen wie der Frage nach meiner Bezahlung beginne. Doch zahlreiche hungrige Nächte sind mir eine schmerzhafte Lehre dafür, wie schnell Kunstfertigkeit und Mühen des Heilers vergessen sind, geht es dem Kranken erst wieder besser.«
Robin nickte stumm. Sie sah nicht in Naidas Richtung, aber sie konnte die Blicke der alten Sklavin spüren, als wären sie eine Berührung, während sie auf den Ring an ihrem Finger starrte. Langsam führte sie die Hand zum Mund, berührte das kühle Gold zum letzten Mal mit den Lippen und dachte an Salim. Er würde es verstehen. Und er würde ihr verzeihen.
Schnell, fast hastig, als hätte sie Angst, es sich im allerletzten Moment doch noch einmal zu überlegen, streifte sie den Ring ab und hielt ihn Ribauld hin. Es war wie am Morgen, als sie den Ring schon einmal weggegeben hatte. Da hatte sie geglaubt, das Letzte zu verlieren, was sie noch mit ihrer Vergangenheit verband, und doch war es jetzt ganz anders. Jetzt wusste sie es.
Der Medicus nahm den Ring entgegen, sah sie dabei aber auf sonderbare Weise an, bevor er das kleine Schmuckstück in der Hand verbarg und einen Moment später in der Tasche verschwinden ließ. Er konnte nicht wissen, was ihr dieser Ring bedeutete, doch vielleicht ahnte er es. Bevor er an Robin vorbeiging und sich neben Rustans Lager in die Hocke sinken ließ, um den Jungen zu untersuchen, streifte er sie noch einmal mit einem kurzen, fast mitleidigen Blick. Naida zog die Augenbrauen zusammen, schüttelte den Kopf und wandte sich mit einem Ruck ab. Seltsamerweise wirkte sie zugleich erleichtert wie auch erschrocken.
Robin änderte ihre Meinung über den sonderbaren Medicus rasch, während sie ihm dabei zusah, wie er den Sklavenjungen untersuchte. Geschickt tastete er seinen Körper ab, hielt seine Handgelenke eine Weile und schien dabei mit geschlossenen Augen in sich hineinzulauschen, dann legte er dem Jungen die Hand auf die Stirn und hob mit dem Daumen seine Lider an, um die Augen zu untersuchen. Schließlich zwang er seinen Mund auseinander und roch daran. Als er sich nach einer Weile wieder aufrichtete, wirkte er ernst und angespannt, aber nicht wirklich besorgt.
»Wie steht es mit der Ernährung dieses Jungen? Seinem Stuhlgang, seinem allgemeinen Befinden?«
Robin hob die Schultern. »Das kann Naida besser beantworten, fürchte ich.«
Der Medicus wandte sich gar nicht erst zu der alten Sklavin um, sondern verzog nur die Lippen zu einer flüchtigen Grimasse. Offenbar hatte Robin seine Frage bereits hinlänglich beantwortet.
»Was fehlt ihm?«
»Nichts Ernstes«, erwiderte Ribauld. »Die Sklavenkrankheit, wie ich sie für mich nenne. Der Knabe leidet an den Strapazen der Reise und der Unterernährung, und er hat sich wohl ein leichtes Fieber gefangen, wodurch die Säfte seines Körpers ungleich erhitzt werden. Gebt ihm ausreichend zu essen, frisches Brot, Gemüse, vielleicht eine kräftige Fleischbrühe, und sorgt dafür, dass ihm mit kaltem Wasser angefeuchtete Tücher auf die Stirn gelegt und um die Waden gewickelt werden. Alles andere wird die Natur schon richten.«
»Und das ist wirklich alles?«, fragte Robin. Dafür hatte sie ihre Zukunft geopfert?
Ribauld wirkte leicht beleidigt. »Ihr könnt gerne einen anderen Medicus zurate ziehen, wenn Ihr mir nicht traut«, sagte er. »Aber auch der wird Euch nichts anderes sagen. Wenn es Euch beruhigt, dann kehre ich morgen Abend zurück, um mich von den Fortschritten bei der Heilung des Jungen zu überzeugen.« Er zuckte mit den Schultern, schien sich umwenden zu wollen, fuhr aber dann leiser und in versöhnlicherem Ton fort: »Ihr braucht Euch wirklich keine Sorgen um den Jungen zu machen. Er hat nichts, was einige gute Mahlzeiten und ein wenig Ruhe nicht wieder heilen könnten.«
»Ich danke Euch«, sagte Robin. »Das ist wirklich...«
»Das ist genug«, mischte sich Naida ein. »Ihr könnt jetzt gehen, Ribauld. Ich lasse nach Euch schicken, wenn wir Eure Hilfe noch einmal benötigen.«
Man sah Ribauld an, dass er Naida gerne etwas entgegnet hätte, aber Robin warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, und der Medicus beließ es bei einem Achselzucken und einem enttäuschten Seufzen. Mit einer gestelzten Bewegung drehte er sich zu Naida herum, verbeugte sich steif und schritt dann mit schnellen Schritten davon.
»Nun, bist du zufrieden?«, fragte Naida verächtlich.
»Warum hast du ihn fortgeschickt?«, fragte Robin. Sie hätte gern noch ein paar Worte mit dem Heiler gewechselt, nicht nur um sich genauer über den Gesundheitszustand des Jungen zu vergewissern, sondern auch, weil ihr das kurze Gespräch vor Augen geführt hatte, wie schmerzlich sie ihre Muttersprache und irgendeine Kunde von ihrer Heimat vermisste. Aber sie drängte Naida nicht weiter. Die Alte war nicht in der Stimmung, Großmut zu zeigen.
»Geh auf dein Zimmer«, fuhr die Sklavin fort. »Es geziemt sich nicht, dass du mit fremden Männern sprichst. Schon gar nicht in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Morgen wird unser Herr zurückkehren. Er wird über dein Verhalten nicht erfreut sein, aber ich werde sehen, was ich tun kann, damit sich sein Zorn nicht nur auf dich entlädt.«
»Was ist mit den anderen Sklaven?«, fragte Robin. »Du hast gesagt, dass der Heiler sich auch um sie kümmern wird.«
»Er würde nichts anderes sagen als über diesen Jungen«, erwiderte Naida. Sie ergriff Robin unnötig grob am Arm und schob sie vor sich her ins Haus. »Etwas essen, etwas Ruhe, und sauberes Wasser, und sie werden wieder zu Kräften kommen. Zumindest die, die Allah nicht genug liebt, um sie schon jetzt zu sich zu rufen.«
Ungewohnter Lärm ließ Robin mitten in der Nacht aus dem Schlaf schrecken. Sie hatte noch lange wach gelegen und mit klopfendem Herzen die Decke über ihrem Gesicht angestarrt. In ihrem Inneren herrschte ein Chaos an Gefühlen, das es ihr fast unmöglich machte, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war trotz allem froh, dem Jungen geholfen zu haben, aber sie hatte zugleich auch das Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Mindestens bis Mitternacht hatte sie grübelnd wach gelegen, bis sie in einen unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf sank, der kaum länger als eine oder zwei Stunden gedauert haben konnte. Sie erwachte wieder mit klopfendem Herzen, in Schweiß gebadet und mit einem tauben Gefühl auf den Lippen. Im ersten Moment schienen all die Geräusche und die Aufregung, die vom Hof heraufdrangen, keinen Sinn zu ergeben. Erst nachdem sie sich aufgesetzt hatte und sich müde mit den Händen über das Gesicht fuhr, nahm sie Hufschlag, aufgeregte Rufe und schnelle Schritte wahr. Irgendetwas war geschehen.
Robin fuhr sich ein zweites Mal mit der Hand über die Augen, versuchte die Müdigkeit mit einem Kopfschütteln zu verscheuchen und stand unsicher auf, um schlaftrunken zum Fenster zu wanken. Sie kam gerade zurecht, um zu erkennen, wie zwei mit Fackeln ausgerüstete Sklaven den schweren Riegel zur Seite schoben und das Tor des Sklavenhofes öffneten. Keinen Moment zu früh. Ein ganz in Schwarz gekleideter Reiter auf einem ebenfalls schwarzen Ross sprengte herein, riss sein Tier im allerletzten Moment herum und ließ sich aus dem Sattel gleiten, noch bevor das Pferd ganz zum Stehen gekommen war. Der Mann, ein wahrer Riese, war über und über mit Staub bedeckt. Robin konnte das Gesicht im unstet flackernden Licht der Fackeln nicht richtig erkennen. Deutlich sah sie jedoch, dass es vor Schweiß glänzte, als wäre der Krieger das ganze Stück hierher gerannt und nicht geritten. Weißer Schaum troff von den Nüstern seines Pferdes, und die beiden Sklaven, die herbeieilten und das Tier einzufangen versuchten, hatten alle Mühe, es zu bändigen, ohne sich dabei einen Tritt einzufangen.
Der Riese mit dem schwarzen Turban machte einen unsicheren Schritt, wankte vor Erschöpfung und blieb stehen. Jetzt erst erkannte Robin ihn. Es war niemand anders als Faruk, der Krieger, der die letzten Tage vor ihrer Tür verbracht und sie auf Schritt und Tritt begleitet hatte.
Entschlossen, herauszufinden, was dort unten vor sich ging, trat sie vom Fenster zurück, nahm die Decke von ihrem Bett und schlang sie sich um die Schultern, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen, und ging zur Tür. Wie immer war sie verriegelt, aber sie musste nur zweimal dagegen klopfen, bis von außen geöffnet wurde und ihr das verschlafene Gesicht des Kriegers entgegenblinzelte, der seine Nachtwache draußen auf dem Flur verdöst hatte.
»Ich muss nach unten«, sagte Robin. »Naida wünscht mich zu sehen.«
Das war natürlich eine glatte Lüge, normalerweise jedoch reichte die bloße Erwähnung der alten Sklavin, um jeden Widerspruch der Wachen im Keim zu ersticken. Diesmal allerdings nicht. Der Krieger blinzelte sie nur verständnislos an. Im ersten Moment vermutete Robin, dass sie ihn tatsächlich geweckt hatte und er noch zu schlaftrunken war, um sie überhaupt zu verstehen, dann aber wurde ihr klar, dass sie in ihrer Aufregung nicht Arabisch sondern in ihrer Muttersprache geredet hatte. Sie wiederholte ihr Anliegen auf Arabisch, doch die Reaktion des Wachtpostens fiel auch diesmal anders aus, als sie gehofft hatte. Er schien tatsächlich ein oder zwei Sekunden lang über ihre Forderung nachzudenken, dann aber schüttelte er entschlossen den Kopf.
»Aber ich muss zu ihr!«, verlangte Robin.
Der Krieger wiederholte sein Kopfschütteln - und schlug ihr dann die Tür vor der Nase zu. Noch während Robin verdutzt die geschlossene Tür anstarrte, hörte sie, wie draußen der Riegel vorgelegt wurde.
Im ersten Moment war sie wie vor den Kopf geschlagen, dann aber begann sie, wütend mit den Fäusten gegen die Tür zu trommeln. »Aufmachen!«, befahl sie. »Was fällt dir ein? Ich muss zu Naida!«
Sie bekam keine Antwort, und das Geräusch des sich bewegenden Riegels, auf das sie wartete, blieb aus. Robin schlug noch zwei oder drei Mal mit der Faust gegen die Tür, versetzte ihr abschließend noch einen Tritt und kehrte dann wieder zum Fenster zurück. Der Mann hatte sie verstanden, daran bestand kein Zweifel. Aber anscheinend hatte er Befehl, sie unter keinen Umständen herauszulassen. Vielleicht hatte sie Naida doch nachdrücklicher verärgert, als ihr bisher klar gewesen war.
Die Szene unten auf dem Hof hatte sich verändert. Noch mehr Fackeln brannten und tauchten das gemauerte Geviert in helles, rotes Licht. Ein gutes Dutzend weiterer Sklaven sowie bewaffneter Krieger waren aus dem Haus getreten. Robin konnte keine Einzelheiten erkennen, aber es herrschte eine Stimmung allgemeiner, bedrohlicher Aufregung. Einmal hob ihr Leibwächter den Kopf und blickte direkt zu ihr herauf, und obwohl es im Zimmer dunkel und Robin somit sicher sein konnte, dass sie nicht zu erkennen war, hielt sie doch erschrocken den Atem an. Instinktiv trat sie einen halben Schritt zurück, bevor sie sich selbst in Gedanken eine ängstliche Närrin schalt und ihre ursprüngliche Position wieder einnahm.
In diesem Moment wurde die Tür unter ihr aufgerissen und Naida stürmte auf den Hof hinaus. Der schwarz gekleidete Krieger fuhr mit einer so zornigen Bewegung herum, dass Robin sich nicht gewundert hätte, wenn er sich im nächsten Moment auf die alte Sklavin gestürzt hätte, aber Naida ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern überschüttete ihn mit einem wahren Redeschwall. Robin konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber ihr schriller, fast hysterischer Tonfall verriet genug. Der Krieger antwortete, ebenso laut und ebenso unverständlich und gleichermaßen erregt, und für einen Moment konnte man die Spannung zwischen den beiden fast mit Händen greifen. Die übrigen Sklaven und Posten wichen erschrocken ein Stück zurück, sodass sich die beiden ungleichen Gegner gegenüberstanden wie zwei Gladiatoren in einer Arena, dann spie der schwarze Hüne ein einzelnes verächtliches Wort in Naidas Richtung. Die Alte antwortete, nicht mehr so laut und keifend wie zuvor, aber scharf, und diesmal konnte Robin verstehen, was sie sagte - zumindest die Worte, wenn auch nicht ihren Sinn: »Du Narr! Du tötest deinen Herrn durch diesen Verrat!«
Der schwarz gekleidete Hüne fuhr herum und hob die Hand, wie um Naida zu schlagen, und vielleicht hätte er es sogar getan, hätte nicht genau in diesem Moment das Geräusch dumpfer, trommelnder Hufschläge den Hof erreicht. Der Mann erstarrte mitten in der Bewegung und fuhr zum Tor herum. Das Hufgetrappel schwoll rasch an; was gerade noch ein entferntes Dröhnen war, wurde nun zum hallenden Echo zahlreicher beschlagener Pferdehufe, die durch die schmalen Gassen der nächtlichen Stadt hetzten. Robin sah überrascht und beunruhigt zugleich zum Himmel empor. Die Nacht war so klar wie fast alle Nächte in diesem Teil der Welt. Wenn sie den Stand des Mondes richtig deutete, dann musste es ungefähr zwei Stunden nach Mitternacht sein. Hama war eine Stadt, die niemals wirklich ganz zur Ruhe kam, und Rücksicht gehörte nicht unbedingt zu den vornehmsten Wesenszügen der Muselmanen - wenigstens nicht der, die sie bisher kennen gelernt hatte. Aber ein ganzer Trupp Reiter, der zu dieser Stunde mitten durch die Stadt jagte, gehörte auch hier nicht zum Alltag. Irgendetwas musste geschehen sein. Und sie hatte das Gefühl, dass es mit ihr zu tun hatte. Die wenigen Augenblicke, die vergingen, bevor der erste Reiter das Tor erreichte, dehnten sich zu einer Ewigkeit. Robins Herz klopfte und ihre Finger schlossen sich so fest um die marmorne Fensterbrüstung, dass es wehtat. Sie merkte es nicht einmal.
Schließlich ritt der erste Reiter in den Hof. Anders als Robins Leibwächter zügelte er sein Pferd in einen raschen Trab, ehe er es durch das Tor lenkte. Dann sprang er ebenso wie dieser aus dem Sattel, noch bevor das Tier völlig zum Stehen gekommen war. Auch er war staubbedeckt und von den Flanken seines Pferdes tropfte Schweiß. Dem ersten Reiter folgten in dichtem Abstand ein zweiter, dritter, vierter und schließlich ein fünfter, alles bewaffnete Männer mit schwarzen Turbanen, langen, wehenden Mänteln und den typischen Rundschilden muslimischer Krieger.
Schließlich, in kurzem Abstand gefolgt von einem weiteren halben Dutzend Bewaffneter, ritt Omar selbst auf den Hof. Der Sklavenhändler brachte sein Pferd mit einem brutalen Ruck am Zügel zum Stehen, stieg mit einer energischen Bewegung ab und drehte sich auf dem Absatz herum. Die fackeltragenden Sklaven bildeten ein Spalier vor ihm, aber er schien es gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sein Blick irrte über den Hof, blieb einen kurzen Moment an der Gestalt des hoch gewachsenen schwarzen Riesen haften, und wanderten dann weiter. Unwillkürlich zog Robin sich abermals einen halben Schritt weit vom Fenster zurück, sodass sie nun sicher sein konnte, von der Dunkelheit in ihrem Zimmer verborgen zu werden; im selben Moment legte Omar den Kopf in den Nacken und starrte zu ihr hoch. Es war kein flüchtiger Blick wie der des Kriegers zuvor. Er stand wohl eine halbe Minute da und starrte in ihre Richtung, und auch wenn es im Grunde völlig ausgeschlossen war, so war Robin, als bohrte sich der Blick seiner dunklen, mitleidlosen Augen direkt in ihre.
Es war einer der Sklaven, der den Bann brach. Er eilte auf seinen Herrn zu, eine Schale mit frischem Wasser in beiden Händen und ein sauberes Tuch über dem linken Arm. Omar riss sich von Robins Fenster los, starrte den Mann einen halben Herzschlag lang an - und versetzte ihm einen Hieb, der ihn zurücktaumeln und haltlos zu Boden stürzen ließ. Dann drehte er sich herum und ging mit großen Schritten auf Naida zu.
»Was hast du getan, du verfluchtes Weib?«, schrie er sie an.
Naida duckte sich unter seinen Worten wie unter einem Hieb, wich aber weder zurück, noch senkte sie den Blick. In ihrer Stimme schwang tiefe Angst mit, als sie antwortete, und dennoch war sie laut und fest. »Das einzig Richtige«, erwiderte sie. »Der Ring ist verflucht, Herr. Er wird großes Unglück über uns alle bringen. Ich habe es im Traum gesehen. Er wird unser aller Verderben sein. Was ich tat, tat ich, um Euch und Euer Haus zu schützen.«
»Verdammte Närrin!«, brüllte Omar. »Hat das Alter schon so sehr deine Sinne vernebelt, dass du dich von Träumen lenken lässt?«
»Es war nicht nur ein Traum, Herr«, beharrte Naida. »Allah hat mir eine Warnung geschickt, die...«
In diesem Augenblick schlug Omar zu. Es war kein Fausthieb, wie der, mit dem er den Sklaven niedergestreckt hatte, sondern ein Schlag mit dem Rücken der Linken, aber er war kräftig genug, um den Kopf der alten Frau in den Nacken zu schleudern und sie mit einem keuchenden Schrei rücklings zusammenbrechen zu lassen.
»Närrin!«, wiederholte Omar. »Bei Allah, ich habe dir vertraut, wie man sonst nur seiner Mutter traut! Ich habe dir alles gegeben, was du wolltest! Alle Freiheiten, die sich eine Sklavin nur erträumen kann! Wie konntest du dich nur so schamlos gegen mich wenden? Ich sollte dich auf der Stelle töten lassen!«
Er holte mit dem Fuß aus, wie um seine Drohung auf der Stelle in die Tat umzusetzen, dann besann er sich eines Besseren und trat mit einer unwirschen Geste zurück. Zornig deutete er auf Naida. Zwei der Männer aus seinem Gefolge eilten herbei und hoben die alte Sklavin auf. Naida war bei Bewusstsein, aber ihr Gesicht war blutüberströmt und sie konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr auf den Füßen halten. Als die Männer sie losließen, wäre sie gestürzt, hätten sie sie nicht sofort wieder aufgefangen.
»Bringt sie ins Haus!«, befahl Omar unwirsch. »Ich werde später entscheiden, wie ihre Strafe aussieht. Und jetzt bringt diesen verfluchten Christenhund zu mir!«
Die Reihe der sonderbaren, unheimlichen Ereignisse der Nacht setzte sich am nächsten Morgen fort. Überrascht stellte Robin fest, dass sie in dieser Nacht doch noch Schlaf gefunden hatte, der noch dazu einigermaßen erholsam gewesen war und weder von Albträumen noch schrecklichen Vorahnungen unterbrochen. Umso schlimmer empfand sie es, dass es wieder Lärm auf dem Hof war, der sie hochschrecken ließ - diesmal aber erst nach Sonnenaufgang.
Sie widerstand der Verlockung, sofort aufzuspringen und zum Fenster zu eilen. Ihre Begeisterung über den freien Blick in den Hof hatte durch die Ereignisse der letzten Tage einen deutlichen Dämpfer erhalten. Anfangs hatte der Ausblick aus dem Fenster sie erfreut, vermittelte er ihr doch eine Illusion von Freiheit. Mittlerweile jedoch fürchtete sie sich beinahe davor, aus dem Fenster zu schauen.
Sie legte nur den halben Weg zum Fenster zurück, dann blieb sie mit klopfendem Herzen stehen und presste die linke Hand gegen die Brust - eine Bewegung, die sie in den zurückliegenden Tagen und Wochen so oft ausgeführt hatte, dass sie sich ihrer schon gar nicht mehr bewusst war.
An diesem Morgen war es anders. Der Mittelfinger ihrer linken Hand war leer, und die gleiche, schreckliche Leere schien in ihrer Brust zu herrschen. Salims Ring war nicht mehr da und wie so oft im Leben spürte sie erst jetzt, als er unwiederbringlich verloren war, wie unendlich viel er ihr bedeutet hatte. Gestern hatte sie noch geglaubt, darüber hinwegzukommen, das Verbindungsstück zu dem einzigen wichtigen Menschen auf dieser Welt, weggegeben zu haben. Aber es stimmte nicht. Die Erinnerung an diesen Menschen konnte sie sich nicht einfach aus dem Herzen reißen. Keine Logik und keine Vernunft kommen gegen dieses Gefühl an: Weil Liebe tausendmal schwerer wog als jedes Argument.
Das Geräusch des Türriegels riss sie aus ihren Gedanken. Robin ließ die Hand sinken und fuhr hastig herum, darauf gefasst, Naida zu sehen oder vielleicht auch Omar, der kam, um sie für ihre unverschämte Dreistigkeit zur Rechenschaft zu ziehen. Doch es waren nur die beiden Sklavinnen, die ihr Wasser zum Waschen, frische Kleider und ihre Morgenmahlzeit brachten.
Statt der schmutzstarrenden Fetzen, in die sie gekleidet war, brachten die beiden jungen Frauen ihr die seidenen Gewänder und den Gold- und Silberschmuck, an die sie sich im Laufe der wenigen zurückliegenden Tage schon so sehr gewöhnt hatte. Und statt eines Stücks harten Fladenbrotes luden sie frisches Gebäck, Honig, Obst und dünne Scheiben einer dunklen, scharf gewürzten Wurst auf den Tisch neben ihrem Bett ab.
Sofort bestürmte Robin die beiden mit Fragen nach Naida und zu den Ereignissen der vergangenen Nacht und wie üblich antworteten sie nicht. Seit Robin hierher gekommen war, hatte keine der beiden Frauen auch nur ein einziges Wort mit ihr gewechselt, obwohl sie sehr sicher war, dass sie sie verstanden. Wahrscheinlich hatte man ihnen verboten, mit ihr zu reden. Robin hatte die Schweigsamkeit der beiden Frauen bisher geachtet, vor allem, um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Aber jetzt war die Situation eine andere. Sie musste unbedingt in Erfahrung bringen, was in der vergangenen Nacht geschehen war und vor allem, wie es Naida ging. Noch vor wenigen Tagen hatte sie geglaubt, die alte Sklavin ohne Skrupel und ohne das mindeste Zögern töten zu können, sollte dies nötig werden, aber plötzlich empfand sie ganz anders. Was Naida widerfahren war, war eindeutig Robins Schuld, und wenn die alte Frau nicht nur diesen einen Schlag, sondern eine womöglich sehr viel schlimmere Strafe zu gewärtigen hatte, dann wäre es für Robin genauso gewesen, als hätte sie diese Strafe mit eigener Hand ausgeführt.
Die beiden Frauen tauschten einen sonderbaren Blick und wandten sich dann ab, um das Zimmer wieder zu verlassen, aber Robin vertrat ihnen mit einem raschen Schritt den Weg.
»Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat«, sagte sie auf Arabisch, langsam und so betont, dass die beiden sie einfach verstehen mussten.
Das taten sie auch. Robin las den Schrecken einer tief sitzenden Furcht in ihren Augen. Das stimmte sie allerdings nicht friedlicher, ganz im Gegenteil: Eine Entschlossenheit und ein Zorn ergriffen von ihr Besitz, der zwar nicht diesen beiden Frauen galt, sich im Moment aber in Ermangelung eines anderen Zieles auf sie entlud. Als die beiden - wie auf ein gemeinsames Kommando hin - im selben Moment im Begriff waren, sie einfach zur Seite zu schieben, kam ihnen Robin zuvor; sie stieß ihrerseits eine der Frauen aus dem Zimmer und ergriff die andere blitzschnell am Oberarm. Ihr Griff war so fest, dass sich das Gesicht der jungen Frau vor Schmerz verzog.
»Rede!«, verlangte Robin.
Sie bekam keine Antwort, außer einem dünnen, schmerzerfüllten Wimmern. Sie hatte nicht das Recht, diese Frau, die eine Sklavin wie sie war und der es mit Sicherheit nicht annähernd so gut erging wie ihr, zu quälen. Das schlechte Gewissen, das sie Naida gegenüber empfand, wog jedoch mehr als der kleine Schmerz, den sie diesem Mädchen zufügte. Statt loszulassen, drückte sie noch fester zu. Die Sklavin versuchte sich loszureißen, aber Robin war stärker. Sie stieß die junge Frau grob vor sich her durchs Zimmer und aufs Bett. Dann war sie mit einer blitzartigen Bewegung über ihr und nagelte ihre Oberarme mit den Knien fest. Die Sklavin bäumte sich auf und versuchte, sie abzuschütteln. Robin versetzte ihr eine schallende Ohrfeige.
»Ich will dir nicht wehtun«, sagte sie und wurde sich im selben Augenblick des Zynismus ihrer Worte bewusst. »Aber du kommst hier nicht raus, bevor du mir nicht gesagt hast, was gestern Abend geschehen ist. Warum war Omar so wütend? Was hat er Naida angetan?«
Immer noch keine Antwort. Robin sah sich plötzlich als Gefangene ihrer eigenen Rolle. Sie wollte und konnte diese Frau nicht noch weiter quälen, auf der anderen Seite war sie aber schon zu weit gegangen, um jetzt einen Rückzieher zu machen und so zu tun, als wäre gar nichts geschehen. Drohend hob sie die Hand, wie um die junge Frau noch einmal zu schlagen. Dann aber besann sie sich anders, stand auf und riss sie grob in die Höhe. Dabei packte sie sie erneut am Oberarm und drückte mit den Fingern so fest wie möglich zu. Robin wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr das schmerzte.
Doch auch diesmal erhielt sie keine Antwort. Die Sklavin krümmte sich, hob schützend die freie Hand vors Gesicht und begann zu weinen. Entsetzt darüber, wie sehr sie sich hatte gehen lassen, ließ Robin los und wich zwei Schritte weit zurück.
Sie hatte die beiden Frauen bislang kaum beachtet. Nie hatte sie ihre Stimmen gehört, und sie hatte nie wirklich auf ihre Münder geachtet; aber nun, als die Sklavin gekrümmt vor ihr stand, die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und lauthals schluchzte, hatte sie die Lippen geöffnet, und Robin erkannte voller Grauen, warum sie niemals auch nur eine einzige Silbe mit ihr gewechselt hatte.
Sie konnte es nicht.
Ihre Zunge war herausgeschnitten.
»Gott im Himmel«, flüsterte Robin. »Das... das wusste ich nicht!« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie kam sich schäbig vor, gemein und durch und durch niederträchtig, und in diesem Moment hätte sie alles getan, um ihre Grausamkeit wieder rückgängig zu machen.
»Bitte verzeih mir«, sagte sie noch einmal. »Ich wusste nicht, dass... dass du nicht reden kannst. Wer hat dir das angetan?«
Natürlich bekam sie auch auf diese Frage keine Antwort, wie auch? Aber es war auch nicht nötig. Sie kannte die Antwort bereits.
»Omar«, sagte sie. »Dieses Ungeheuer! Aber warum?«
Die Sklavin hatte aufgehört zu schluchzen und richtete sich vorsichtig auf. Sie hielt sich die Hand noch immer schützend vor das Gesicht, als hätte sie Angst, dass Robin sie noch einmal schlagen würde.
Dann sah Robin, was sie mit ihrer ungestümen Kraft angerichtet hatte, mit Händen, die ein Jahr lang täglich ein Schwert geführt hatten. Nie zuvor war sie sich dessen so bewusst geworden wie in diesem Augenblick! Ihre Finger hatten deutlich sichtbare Striemen auf dem schmalen Gesicht der jungen Frau hinterlassen und die Haut an ihrem Arm hatte sich bereits blaurot verfärbt. Diese Prellung würde der Sklavin noch tagelang bei jeder Bewegung Schmerzen bereiten.
»Es tut mir Leid«, sagte sie noch einmal. »Bitte glaub mir, das wusste ich nicht...«
Die Tränen der jungen Frau versiegten. In ihren Augen stand noch blanke Angst, aber ihre Frucht schien jetzt nicht mehr Robin zu gelten. Plötzlich tat sie etwas, das Robin im ersten Moment vollkommen überrumpelte: Sie trat auf sie zu, schloss sie in die Arme und drückte sie mit solcher Kraft an sich, dass Robin fast die Luft wegblieb. Sie versuchte nicht, sich aus der Umarmung der Sklavin zu befreien, sondern erwiderte sie, bis die Sklavin erschrocken zurücktrat, sich noch einmal mit dem Handrücken über das Gesicht fuhr, um die Tränen fortzuwischen, und dann mit einem Ruck herumfuhr und aus dem Zimmer stürmte. Diesmal war Robin fast erleichtert, das Geräusch des Riegels zu hören, der von außen vorgelegt wurde.
Omar! Der Sturm von einander widersprechenden Gefühlen, der sie seit dem gestrigen Morgen geplagt hatte, war plötzlich erloschen und in Robin war nur noch Raum für eine einzige Empfindung. Zorn. Ein kalter Zorn, der Omar galt. Sie würde Omar töten. Wenn er Naida etwas angetan hatte, wenn er Nemeth, deren Mutter oder irgendeinem der Sklaven dort unten etwas antat, wenn er auch nur die Hand gegen sie selbst hob, würde sie ihn töten - auch wenn sie dafür mit dem eigenen Leben würde bezahlen müssen. In diesem Moment erschien es ihr als ein guter Tausch. Das Leben einer Sklavin, der im Grunde genau die Zukunft bevorstand, die Naida ihr gestern prophezeit hatte, gegen das eines Ungeheuers in Menschengestalt, das vielleicht schon hundert Leben und tausend Schicksale zerstört hatte. Vielleicht hatte Gott sie ja nur aus diesem einen Grund hierher geschickt: Um diese Bestie aufzuhalten.
Langsam wandte sie sich um, ging zu dem niedrigen Tisch und ließ sich auf den weichen Teppich daneben sinken. Der Anblick der köstlichen Mahlzeit stieß sie ab. Gestern hatte Naida ihr nicht nur die Kleider, sondern auch das Essen eines gewöhnlichen Sklaven gebracht, und vermutlich war es immer noch besser gewesen als das verdorbene Zeug, mit dem Nemeth und die anderen Kerkerinsassen abgespeist wurden. Heute durfte sie wieder wie eine Fürstin speisen, aber sie brachte es nicht über sich, auch nur einen Bissen davon herunterzuwürgen. All die Köstlichkeiten auf dem Tisch - stahl sie sie im Grunde genommen nicht den hungernden Sklaven? Womöglich war bereits einer der unglücklichen Männer und Frauen dort unten im Keller verkauft worden - für die Kosten ihrer Mahlzeiten sowie ihrer luxuriösen Ausstattung. Aus irgendeinem Grund hielt Omar sie für etwas ganz Besonderes, ein Juwel in seiner ohnehin gut gefüllten Schatztruhe. Vielleicht würde er die Freude an seinem Juwel ja verlieren, wenn sie so abgemagert und blass wie die übrigen Sklaven war.
Das war zunächst ein verlockender Gedanke, aber Robin wusste gleichzeitig sehr wohl, wie albern diese Vorstellung war. Omar würde es nicht zulassen, und sie selbst würde es nicht lange aushalten. Einer von Salims Lieblingssätzen fiel ihr ein, etwas, das er oft gesagt hatte: Stolz schmeckt nicht besonders gut, und er macht nicht satt.
Dennoch ließ sie das Essen unberührt, stand auf und ging wieder zum Fenster.
Auf dem Hof herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Pferde waren fortgebracht worden und eine Anzahl von Arbeitern hatte damit begonnen, aus den eingelagerten Balken ein hölzernes Podest zu zimmern. Auf den ersten Blick ähnelte es dem Brettergerüst unter dem Galgen, den sie gesehen hatte, als Bruder Abbé sie zu einer Hinrichtung mitgenommen hatte. Robin gestattete es sich nicht, den Gedanken, der diesem Vergleich folgte, zu Ende zu denken. Stattdessen sah sie den Arbeitern eine Weile konzentriert bei ihrem Tun zu, - nicht, weil es sie wirklich interessierte, sondern einfach, um überhaupt irgendetwas zu tun und ihre Gedanken abzulenken. Als einer der Männer zu ihrem Fenster hinaufsah, hob sie die Hand und winkte ihm zu, eine kleine Geste der Freundlichkeit einem völlig Fremden gegenüber, die ihr plötzlich ungemein wichtig vorkam. Der Arbeiter verhielt sich jedoch völlig anders, als sie erwartet hätte. Er winkte weder zurück, noch sah er freudig überrascht oder irritiert aus, sondern fuhr erschrocken zusammen und wandte sich mit einer hastigen Bewegung ab.
Für eine Weile machte sich eine sonderbare Unruhe unter den Männern dort unten breit. Niemand sah in ihre Richtung. Ohne dass Robin genau sagen konnte, wieso, spürte sie ganz deutlich, dass die Männer ganz bewusst nicht zu ihrem Fenster hinaufsahen, ja nicht einmal auch nur ungefähr in ihre Richtung blickten. Als wäre sie plötzlich keine gewöhnliche Sklavin mehr, sondern vielmehr eine Hexe, deren bloßer Anblick schlimmes Unheil oder gar den Tod versprach.
Als Robin die Tür hinter sich aufgleiten hörte, fuhr sie herum. Zunächst erwartete sie, die beiden Sklavinnen zurückkehren zu sehen, ein wenig war sie auch von der widersinnigen Hoffnung erfüllt, Naida zu erblicken. Aber ihre Angst, dass der alten Sklavin etwas wirklich Schlimmes zugestoßen sein könnte, wurde nicht besänftigt. Stattdessen betrat Omar den Raum.
Robin erstarrte mitten in der Bewegung. Der Sklavenhändler trug noch immer dieselben Kleider wie in der Nacht und sein Gesicht wirkte bleich und ein wenig kränklich. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten und als er die Tür hinter sich schloss, fiel ihr auf, dass seine Hände zitterten. Sie vermutete, dass er in der zurückliegenden Nacht keinen Schlaf gefunden hatte, und wappnete sich innerlich dagegen, nunmehr zur Zielscheibe des gleichen rasenden Zornes zu werden, der sich auf Naida entladen hatte.
Zunächst verdüsterte sich Omars Gesicht für einen Moment, als er sich ihr zuwandte und sie mit schräg gehaltenem Kopf aufmerksam musterte. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, trat zwei Schritte näher, und auf seinen sonnengebräunten Zügen erstrahlte ein mildes und durch und durch erfreut wirkendes Lächeln.
»Mein Herz erblüht, nun, da ich dich unversehrt sehe, Robin«, sagte er. »Man hat mir berichtet, dass du nach Meister Ribauld geschickt hast? Du bist doch nicht etwa krank?«
Die Frage kam Robin nicht geheuchelt vor - obwohl er zweifellos ganz genau wusste, was sich am vorigen Abend zugetragen hatte. Überhaupt verwirrte sie nicht allein Omars Betragen, sondern viel mehr noch ihre eigene Reaktion darauf. Wie immer, wenn sie dem Sklavenhändler gegenüberstand, erfüllte sie sein Anblick mit einer Mischung aus Zorn, Furcht und Abscheu, aber immer war da auch noch etwas anderes; ein Gefühl, dessen sie sich fast schämte: Sie war nahezu erleichtert, ihn unversehrt vor sich zu sehen. Nach dem, was sie vor wenigen Stunden vom Fenster aus beobachtet hatte, hätte sie keinen Herzschlag zögern sollen, Omar eigenhändig zu töten. Und dennoch: Dieser Mann, der dort vor ihr stand, sah nicht wie ein grausamer Schlächter aus; vielmehr ähnelte er dem kleinen Jungen, den Ribauld gestern behandelt hatte. Omar wirkte erschöpft, fast hilflos. Und seine Sorge um sie war nicht geheuchelt. Hatten er und seine Männer deshalb letzte Nacht ihre Pferde fast zuschanden geritten?
Hastig verscheuchte Robin diese Gedanken und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln - einem verunglückten, wie sie befürchtete. Die Frage nach Naidas Zustand lag ihr auf der Zunge, aber nach kurzem Zögern entschied sie sich dafür, dieses Thema besser nicht anzuschneiden. Noch wusste sie nicht, was Omar von ihr wollte, sicherlich war er nicht gekommen, um sich mit ihr zu unterhalten. Deswegen deutete Sie zum Fenster hin und fragte: »Was wird dort unten gebaut?«
»Nichts, was dich interessieren müsste«, antwortete Omar, während er gemächlich ans Fenster ging und dann einen scheinbar desinteressierten Blick auf den Hof hinaus warf. »In einem so großen Haus wie diesem wird ständig irgendetwas gebaut oder repariert.«
»Warum haben die Männer dort unten dann Angst vor mir?«
Omar wandte den Kopf. Ein amüsiertes Funkeln glomm in seinen Augen. »Angst?«, fragte er lächelnd, als redete sie von etwas völlig Absurdem.
»Anscheinend haben sie zumindest Angst, mich anzusehen«, erklärte Robin.
»Vielleicht fürchten sie, dass der Anblick deiner Schönheit sie blind macht«, antwortete Omar. Das Funkeln in seinen Augen wurde heller. »Oder ihnen zumindest den Seelenfrieden raubt.«
»Man hat mich vor euch Arabern gewarnt«, antwortete Robin mit einem Nicken. »Anscheinend zu Recht.«
Omar zog fragend die Augenbrauen hoch, als Robin fortfuhr: »Es heißt, ihr wärt die größten Schmeichler, die es auf Gottes Erde gibt.«
Omar lachte. »Das mag sein. Weißt du, Mädchen, unsere Legenden und Märchen sind voll von Geschichten über arme Diebe, die sich in die Töchter oder die Lieblings-Haremsdamen eines Sultans verliebt haben. Für gewöhnlich müssen die verliebten Dummköpfe etliche Räuber besiegen, einen Schatz finden, einen Dschinn zum Freund gewinnen oder einen Drachen erschlagen, und am Ende befreien sie dann die Schöne und werden Kalif von Bagdad. So ist es in den Märchen...« Er lächelte weiter, aber das Funkeln in seinen Augen erlosch, und seine Stimme nahm einen veränderten Tonfall an. »In Wahrheit kann ein Mann dafür getötet werden, wenn er eine der Schönen des Harems auch nur ansieht. Es ist doch sicher auch bei den Herrschern deines Landes so, dass sie ihren kostbarsten Besitz eifersüchtig hüten, oder?« Omar wartete einen Moment vergeblich auf eine Antwort, dann blickte er wieder aus dem Fenster und seine Stimme wurde deutlich kühler, als er fortfuhr: »Es war der Junge dort unten, der in dem gestreiften Kaftan, der zu dir hochgesehen hat, nicht wahr? Man könnte sagen, dass du diesen einfältigen Narren zu einem tödlichen Abenteuer verführt hast.«
Robin hütete sich zu antworten. Sie hatte keine Ahnung, ob Omar seine Worte ernst meinte oder ihr nur einen Schrecken einjagen wollte. Auch das war etwas, was sie an dem Sklavenhändler mindestens ebenso faszinierte wie erschreckte. Sie wusste einfach nicht, was sie von ihm halten sollte. Vorsichtshalber wich sie zusätzlich ein paar Schritte vom Fenster zurück, wie um zu verhindern, dass irgendeiner der unglückseligen Männer dort unten auch nur versehentlich einen Blick zu ihr hinaufwarf und damit möglicherweise sein Augenlicht oder gar sein Leben riskierte.
Omar folgte ihr und blieb dann plötzlich stehen. Er beugte sich zu dem niedrigen Tischchen neben ihrem Bett hinab, auf dem ihr Frühstück stand. Mit einem sonderbaren Blick in ihre Richtung griff er wortlos unter seinen Mantel, zog etwas Kleines hervor und legte es neben der Schale mit den Datteln auf den Tisch. Als er die Hand wieder zurückzog, erkannte Robin Salims Ring.
Sie konnte einen Freudenschrei nicht unterdrücken. Sie riss den Ring an sich, streifte ihn über und presste beide Hände schützend gegen die Brust. Salims Ring! Er war wie durch Zauberei zu ihr zurückgekehrt. Wenn das kein Wink des Schicksals war!
Omar betrachtete sie eine Zeit lang amüsiert, dann schüttelte er den Kopf und ein ernster Ausdruck trat in seine Augen. »Ich sehe, ich habe mich nicht getäuscht.«
»Getäuscht? Worin?«
»Ich dachte mir, dass du ihn gerne zurückhättest«, antwortete Omar. Er schüttelte den Kopf. »Wie konntest du nur so dumm sein, ihn so leichtfertig wegzugeben? Hast du selbst mir nicht erst vor wenigen Tagen erzählt, er sei das Letzte, was dir noch geblieben ist? Die Erinnerung an einen sehr guten Freund?«
»Das ist wahr.«
»Erinnerungen, Robin«, sagte Omar ernst, »sind der einzige Besitz eines Menschen, den ihm niemand nehmen kann, ganz egal, wie mächtig er auch sein mag. Man sollte sie nicht ohne Not verschenken.«
»Ich habe es nicht für mich getan.« Robin presste den Ring weiter wie einen Schatz an die Brust und beinahe schien es ihr, als ginge eine Woge wohltuender Wärme und Kraft von dem schmalen Goldring aus, die ihren Körper durchströmte und ihr neue Zuversicht gab.
»Warum dann?«
Warum fragte er das? Er musste doch genau wissen, was sich zugetragen hatte. Immerhin hatte er sich den Ring von Ribauld de Melk zurückgeholt, und der Medicus hatte ihm bestimmt die ganze Geschichte erzählt. Falls er noch dazu gekommen war. »Ihr habt Ribauld de Melk doch nichts...?«
Omar unterbrach sie mit einem Lachen. »Angetan?« Er schüttelte den Kopf und maß sie mit einem Blick, als hätte sie eine unglaublich dumme Frage gestellt. »Wofür hältst du mich?« Er hob rasch die Hand. »Nein, ich glaube, das will ich gar nicht wissen. Auf jeden Fall bin ich kein Dummkopf. Meister Ribauld mag ein Ungläubiger sein, der vor Allahs Augen keine Gnade findet, aber er versteht mehr von der Heilkunst als jeder andere Quacksalber zwischen hier und Damaskus. Ich habe ihm kein Haar gekrümmt. Und er hat mir auch erzählt, was geschehen ist. Das mag edel von dir gewesen sein, aber Edelmut und Dummheit gehen nur zu oft Hand in Hand. Gib diesen Ring nie wieder leichtfertig fort. Wer weiß, vielleicht wird er dich vor einem grausamen Schicksal bewahren.«
»Der Junge wäre gestorben, wenn ihm niemand geholfen hätte.«
»Und er wird vielleicht auch so sterben«, sagte Omar ungerührt. »Du bist ein seltsames Mädchen, Robin. Wo bist du aufgewachsen? In einem Kloster oder bei einem Eremiten, der dir nichts über die Welt erzählt hat? So ist es nun einmal, sowohl bei uns als auch bei euch: Die einen müssen sterben, damit die anderen leben können.«
»Da, wo ich herkomme, nicht«, beharrte Robin stur. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sich damit lächerlich zu machen.
Omar gab sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, sondern wechselte übergangslos das Thema. »Ich habe mit Harun gesprochen«, sagte er. »Er sagt, du machst Fortschritte. Nicht so schnelle, wie er es sich wünschen würde, aber das hat bei Harun nicht viel zu sagen.«
»Wenn Ihr wisst, warum ich den Ring weggegeben habe«, sagte Robin, »warum habt Ihr Naida dann bestraft?«
Als Omar sie fragend ansah, wies Robin mit einer Geste zum Fenster. »Ich habe alles gesehen.«
»Vielleicht sollte ich das Fenster zumauern lassen«, überlegte Omar laut, »oder dir ein anderes Zimmer geben.«
»Damit ich nicht mehr sehe, wie grausam und ungerecht Ihr seid?«
Omar schüttelte mit einem tiefen Seufzen den Kopf. »Selbst, wenn alles genauso gewesen ist, wie du sagst - Naida hätte niemals zustimmen dürfen. Sie weiß, wie wertvoll dieser Ring ist und was er bedeutet, sowohl für dich als auch für mich.«
»Was bedeutet er denn?«
Omar überging auch diese Frage. »Du hast Naida als Sklavin kennen gelernt«, sagte er. »Vielleicht glaubst du, sie wäre nur eine Art Aufseherin oder das, was man bei euch wohl als Hausdame bezeichnet. Doch sie ist mehr.«
»Dann ist sie keine Sklavin?«
»Doch«, sagte Omar. »Sie war schon Sklavin in diesem Haus, als ich noch gar nicht auf der Welt war. Ich glaube, sie hat schon meinem Großvater gedient, zumindest aber meinem Vater.« Er lächelte flüchtig. »Ohne sie wäre dieser Ort nur ein Haus und kein Zuhause, fürchte ich. Ich kenne sie mein Leben lang und ich habe sie geliebt wie meine eigene Mutter. Vielleicht ist sie der einzige Mensch in dieser ganzen Stadt, dem ich wirklich trauen kann.«
»Und trotzdem habt Ihr sie fast umgebracht.«
»Sie hat mich enttäuscht«, antwortete Omar, plötzlich wieder mit harter Stimme.
»Ist ein Mann wie Ihr das nicht gewohnt?«, fragte Robin böse.
Der Sklavenhändler sah sie einen Herzschlag lang auf sonderbare Weise an. Er wirkte nicht zornig, eher traurig, und sie begriff, dass ihre Frage ihm wirklich wehgetan hatte. Sonderbarerweise empfand sie keine Freude bei dieser Erkenntnis. »Ja«, antwortete er schließlich. »Hintergangen zu werden ist niemals schön. Aber es ist umso schlimmer, je mehr du dem Betrüger zuvor vertraut hast.«
»Aber es ist doch nur ein Ring!«
Wieder schüttelte Omar den Kopf. »Das ist er nicht«, erklärte er. Er sah ein wenig überrascht aus. »Ich glaube fast, du hast die Wahrheit gesagt, als du behauptet hast, du wüsstest nicht, was dieser Ring bedeutet. Für dich ist er tatsächlich nur ein Andenken, nicht wahr?«
»Ist er denn mehr?«
»Hast du je von den Ismailiten gehört?«
Robin schüttelte den Kopf.
»Nun, dieser Ring gehört einem Ismailiten, ganz ohne Zweifel, und wie es aussieht, keinem gewöhnlichen Krieger oder Kaufmann. Du zusammen mit dem Ring bist die kostbarste Ware, die ich je besessen habe.«
Ismailiten? Salim hatte ihr erklärt, er sei ein Tuareg, und er wusste so viel über dieses stolze Wüstenvolk zu erzählen, dass ihr niemals auch nur der leiseste Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Behauptung gekommen war. Aber auf der andern Seite hätte er ihr ebenso gut erzählen können, er stamme vom Mond, und sie hätte es vermutlich auch geglaubt. »Was sind Ismailiten?«
»Du wirst sie kennen lernen«, erwiderte Omar, während er wieder zum Fenster schlenderte und hinaussah. Er fuhr fort, ohne sich zu ihr herumzudrehen: »Ich war in den vergangenen Tagen unterwegs, um deine Freunde zu benachrichtigen. Darüber hinaus hat auch Al-Malik al Mustafa Omar, der Herrscher über diese Stadt, Interesse an der wunderschönen weißen Sklavin bekundet, von der er gehört hat. Ich bin noch nicht sicher, wem ich den Zuschlag geben werde. Die Ismailiten sind mächtig und einflussreich und niemand möchte sie zum Feind haben, aber Al-Malik ist nicht nur der Herrscher über diese Stadt, er ist auch ein Neffe Sultan Saladins.« Omar drehte sich nun doch zu ihr herum und sah sie nachdenklich an. »Wer weiß, vielleicht schicke ich auch noch einen Boten in die mächtige Burg deiner Freunde nahe Hama, um die Prinzessin, die man in einem Rittergewand aus dem Meer gefischt hat, zum Verkauf anzubieten.«
In seiner Stimme war plötzlich etwas Lauerndes, ein Unterton, der Robin warnte und sie davor bewahrte, die unbedachte Antwort zu geben, die Omar zweifellos hatte provozieren wollen. Schweigend hielt sie seinem Blick stand, schließlich zuckte Omar mit den Schultern, stieß sich von der Wand neben dem Fenster ab und ging mit langsamen Schritten zur Tür.
»Harun al Dhin wird später wieder zu dir kommen«, sagte er. »Ich rate dir, seinen Lektionen aufmerksam zu folgen, denn wenn der Neffe Saladins dich ersteigern sollte, dann wäre es besser für dich, wenn du mehr als blasse Haut und goldfarbenes Haar zu bieten hättest. Das Leben einer Haremsdame, deren Herr das Interesse an ihr verloren hat, kann sehr unerfreulich sein.«
»So wie das Leben einer Sklavin, deren Ziehsohn sein Interesse an ihr verloren hat?«, fragte Robin.
Omar blieb mitten im Schritt stehen und drehte sich zu ihr herum. In seinen Augen blitzte es auf. Für einen Atemzug verdüsterte Wut sein Antlitz, und Robin wäre nicht überrascht gewesen, hätte er sie geschlagen. Dann aber entspannte er sich wieder und sagte: »Gegen die, die man am meisten liebt, muss man manchmal am grausamsten vorgehen, wenn man als gerechter Herr gelten will. Naida hat mich beschämt und gedemütigt. Glaube mir, dass der Schlag, den ich ihr versetzt habe, mich mehr schmerzt als sie. Aber wenn ich sie ungestraft davonkommen lasse, wird vielleicht ein anderer Sklave herauszufinden versuchen, wo seine Grenzen sind. Und ihn müsste ich dann töten lassen.« Er deutete zum Fenster. »Du solltest dich nicht zu oft dort zeigen. Und wenn, dann verschleiere dich. Es sei denn, du willst mit ansehen, wie ich diesem leichtsinnigen Trottel dort unten die Augen ausstechen lasse.«