ZU ihrer eigenen Überraschung fand Robin in dieser Nacht doch noch Schlaf, auch wenn er alles andere als ruhig oder gar erfrischend war. Sie erwachte zwei- oder dreimal, das letzte Mal mit hämmernden Kopfschmerzen, einem schalen Geschmack im Mund und dem sicheren Gefühl einer nahenden Katastrophe.
Umständlich richtete sie sich auf den mit Stroh gefüllten Leinensäcken auf und fuhr sich mit der Hand über die Augen, um die Benommenheit wegzuwischen, die noch immer ihren Blick verschleierte. Es war nicht mehr vollkommen dunkel in der Kabine, aber auch noch nicht wirklich hell. Fleckiges Zwielicht sickerte durch das bunte Bleiglasfenster herein und unterstrich die unwirkliche Stimmung. Sie vernahm ein Durcheinander von Geräuschen, die sie einzeln nicht ausmachen konnte, die in ihrer Gesamtheit jedoch ihre Beunruhigung noch steigerten. Sie blieb einen Moment lang reglos sitzen, lauschte auf das Hämmern ihres Herzens und versuchte, sich an die zurückliegende Nacht zu erinnern. Sie hatte geträumt und das flüchtige Gefühl zurückbehalten, dass ihr etwas Schreckliches widerfahren würde.
Die Tür flog auf, und Salim stürmte herein. Für einen Sekundenbruchteil stockte sein Schritt, anscheinend war er überrascht, sie schon wach vorzufinden, dann aber warf er die Tür hinter sich zu und war mit zwei weit ausgreifenden Schritten neben ihrem Bett. »Die Verfolger«, sagte er knapp.
Robin blinzelte ihn verständnislos an. »Was?«
»Es sind keine Piraten und auch keine Kreuzfahrer«, sagte Salim. Er machte eine unwillige Geste. »Vier Schiffe, vielleicht mehr! Sie kommen näher. Piraten würden sich niemals an einem mit Rittern überfüllten Ordensschiff vergreifen, das einen harten Kampf, aber kaum Beute verspricht. Es müssen Schiffe aus Saladins kleiner Flotte sein!«
»Aber das...«
»... kann kein Zufall sein, ich weiß«, fiel ihr Salim ins Wort. »Abbé hatte Recht. Wir sind verraten worden. Sie werden angreifen, sobald es hell geworden ist.«
»Schiffe Saladins?«, murmelte Robin verständnislos. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sie war noch immer schlaftrunken und hatte alle Mühe, Salims Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht.
»Vier Schiffe«, bestätigte Salim grimmig. »Sie beginnen, uns einzukreisen. Bei gutem Wind sind ihre Schiffe langsamer als wir, aber dieser Narr Horace denkt ja nicht daran, ihnen einfach davonzusegeln, solange wir noch können.«
Robin blinzelte nervös. »Was meinst du denn damit?«
»Sieh dich doch um! Der Wind hat jetzt schon nachgelassen und es würde mich nicht wundern, wenn wir geradewegs in eine Flaute hineinlaufen würden. Dieser ahnungslose Trottel scheint sich auf einen Kampf geradezu zu freuen!«
»Es sind zu wenige«, murmelte Robin benommen.
»Zu wenige?«, ächzte Salim. »Was bei Allah soll das heißen - zu wenige?«
»Wären es sechs, würde Horace vielleicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dem Kampf auszuweichen«, antwortete Robin. Sie setzte sich vollends auf, fuhr sich erneut und diesmal mit beiden Händen durch das Gesicht und unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. In einer Situation wie dieser wäre es ihr unangemessen vorgekommen. »Ich dachte, du dienst Abbé schon viel länger als ich.«
»Das stimmt, aber...«
»Dann solltest du eigentlich wissen, dass Tempelritter einem Kampf nur ausweichen dürfen, wenn der Feind ihnen mindestens um das Dreifache überlegen ist«, unterbrach ihn Robin. »Und erspar mir deine Meinung über diese Regel. Ich finde sie genauso verrückt wie du!« Sie schwang die Beine vom Bett, wankte einen Moment bedrohlich und streckte die Hand in Salims Richtung aus, damit er ihr beim Aufstehen half. Salim rührte sich nicht.
»Worauf wartest du?«
»Die Frage ist eher: Worauf wartest du?«, antwortete Salim.
»Dass du mir hilfst, aufzustehen und meine Rüstung anzulegen«, antwortete Robin. »Ich dachte, du wärst deshalb gekommen.«
»Das war wohl ein Irrtum«, grollte Salim. »Ich glaube fast, Dariusz hat Recht, weißt du? Du benimmst dich wie ein dummes Kind.«
»Was soll das heißen?«, fragte Robin scharf.
»Dass du ganz bestimmt nicht dein Kettenhemd und diesen albernen Helm anziehen und den Ritter spielen wirst«, antwortete Salim bestimmt. »Ganz im Gegenteil. Du wirst dich ankleiden und dich unter deiner Decke verkriechen, bis das alles hier vorbei ist!«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Weil unser ach so geliebter Bruder Horace ein kompletter Narr ist!«, antwortete Salim laut. Er schrie fast. War das Panik, was sie in seinen Augen erblickte? »Was für ein Irrsinn! Auf dem flachen Land kann er sich vielleicht mit einer doppelten Übermacht messen, aber nicht hier!«
»Wo ist der Unterschied?«, fragte Robin.
»Der Unterschied ist, dass ich diese Männer kenne«, sagte Salim. »Saladin besitzt nur wenige Schiffe, deshalb kann er es sich nicht leisten, dass auf ihnen durchschnittliche Mannschaften dienen. Wenn sie geschickt wurden, um Horace und die anderen abzufangen, dann werden sie in der Lage sein, diese Aufgabe zu erfüllen. Auf den Schiffen werden sich Faris befinden, die Elitekämpfer des Sultans. Sie stehen euch christlichen Ordensrittern weder in Ausbildung noch in Fanatismus nach. Wenn es wirklich zu einem Kampf kommt, dann werden wir ihn verlieren.«
Robin sagte nichts darauf, sondern sah den Tuareg nur erschrocken an. Salims Worte jagten ihr einen eisigen Schauer über den Rücken, aber zugleich bezweifelte sie auch, dass die Lage tatsächlich so schlimm war, wie Salim anzunehmen schien. Sie wusste nichts über Faris oder überhaupt irgendwelche Ritter des Sultans. Außerdem hatte sie Abbé und die anderen Tempelritter im Kampf erlebt und gesehen, wozu diese Männer fähig waren. Wer immer die Angreifer waren - wenn sie glaubten, es mit einer Hand voll naiver Kreuzzügler zu tun zu haben, die Dreschflegel und Sicheln gegen Schwert und Schild getauscht hatten, um ahnungslos in ihr Verderben zu segeln, dann würden sie eine tödliche Überraschung erleben.
»Und was genau willst du mir damit sagen, Heide?«, fragte sie.
»Du wirst dich nicht aus diesem Raum rühren, ganz egal, was passiert«, antwortete Salim ernst und ohne auf ihre Beleidigung einzugehen. »Wenn es wirklich zum Kampf kommt, bist du ohnehin nicht von Nutzen. Und wenn nicht, umso besser.« Er machte eine herrische Geste, mit der er jeden Widerspruch im Keim erstickte, und zog in der gleichen Bewegung etwas Kleines, Glitzerndes aus der Tasche. »Hier. Nimm.«
Automatisch streckte Robin zwar die Hand aus und blickte dann reichlich verständnislos auf den schmalen goldenen Ring hinab, den Salim in ihre Handfläche fallen ließ. »Soll das ein Antrag sein?«
Salim blieb ernst. Er musste nicht aussprechen, dass dies seiner Meinung nach nicht der passende Augenblick für Scherze war. »Wenn es zum Kampf kommt und wir unterliegen sollten«, sagte er, »dann wird dich niemand anrühren, solange du diesen Ring trägst.«
Verwirrt nahm Robin den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn ins Licht. Im ersten Moment war er ihr schmucklos vorgekommen, doch als sie genauer hinsah, gewahrte sie verschlungene arabische Schriftzeichen, die in das Gold eingraviert waren. Sie sah Salim fragend an, erkannte aber schon an seinem Blick, dass er ihr nicht antworten würde. Nach einer kleinen Ewigkeit hob sie resignierend die Schultern und schob dann den Ring auf den Mittelfinger ihrer linken Hand. Er passte so perfekt, als wäre er eigens für sie gefertigt worden.
»Zufrieden?«, fragte sie spöttisch.
»Zufrieden bin ich, wenn du mir dein Wort gibst, nichts Dummes zu tun«, antwortete Salim ernst. »Ich würde bei dir bleiben, um dich zu beschützen, aber ich fürchte, ich werde oben an Deck gebraucht. Gibst du mir dein Wort, dein Bett...«, er räusperte sich verlegen, »ich meine natürlich diese Kammer, nicht zu verlassen?«
»Ich schwöre es bei Allah«, antwortete Robin.
»Robin!«
»Also gut«, seufzte Robin. »Ich... verspreche es dir. Ich bleibe hier und rühre mich nicht von der Stelle, ganz egal, was passiert.« Sie hob die linke Hand und hielt den Ring abermals ins Licht, sodass das polierte Gold hell aufblitzte. »Wenn ich an die zurückliegenden Monate denke, dann hätte er mir eigentlich schon viel eher zugestanden.«
»Er bedeutet nicht das, was du vielleicht glaubst«, sagte Salim. Noch ein letzter, durchdringender Blick, dann trat er demonstrativ einen Schritt zurück - und bückte sich nach Robins Schwert, das an der Wand neben ihrem Bett lehnte.
»Wenn du dein Versprechen ernst gemeint hast, dann brauchst du das ja nicht«, stellte er fest.
Robin starrte ihn finster an, aber sie war klug genug, auf eine Antwort zu verzichten. Stattdessen hielt sie abermals die linke Hand in die staubflirrenden Lichtstreifen, die durch das Fenster hereinfielen, und ließ das Gold aufblitzen. Diese Geste schien Salim zu beruhigen. Er sah sie nur noch einen Moment lang betont grimmig an, dann drehte er sich mit einem Ruck herum und stürmte hinaus.
Robin dachte nicht im Traum daran, das Wort zu halten, das sie Salim gegeben hatte. Ihrer Meinung nach galt es ohnehin nicht, denn ein Versprechen, das unter Druck erpresst worden war, war kein wirkliches Versprechen. Außerdem hatte ihr Abbé einmal erklärt, dass ein Eid, den ein Christ einem Heiden leistete, nicht verbindlich war.
Kaum hatte Salim die Tür hinter sich zugezogen, stand sie auf, bückte sich nach ihrem Kettenhemd und schlüpfte hinein; anschließend legte sie Wappenrock, Schwertgurt und die schweren Stiefel an und befestigte den fast mannsgroßen weißen Schild mit dem roten Tatzenkreuz des Templerordens an ihrem linken Arm. Den klobigen Helm setzte sie sich nicht auf, sonder klemmte ihn sich unter die Achsel. Nur wenige Minuten nach Salim trat sie auf das Deck der Sankt Christophorus hinaus.
Was Robin erwartete, war ein Hexenkessel. Die surrende Nervosität, die in der Luft lag, hätte sie schon in ihrer Kajüte warnen sollen. Beim Anblick des überfüllten Decks fühlte sie sich verloren, ja, völlig bedeutungslos. Die Sankt Christophorus transportierte fast zweihundert Ordenskrieger, und Robin war ziemlich sicher, dass sich im Moment jeder Einzelne dieser Kämpfer an Deck befand. Sie hatte Mühe, die enge Stiege zum Hauptdeck hinaufzugelangen, und das Achterkastell zu erreichen erwies sich als nahezu unmöglich. Sie wurde so oft angerempelt, geschubst und gestoßen, dass sie grün und blau geschlagen war, so als habe sie ihre Schlacht schon ausgefochten, als sie endlich neben Abbé und den anderen ankam.
Das Gedränge auf dem Achterkastell war kaum weniger schlimm als unten an Deck. Die Männer standen dicht an dicht, sodass Robin sich fragte, was sie eigentlich tun wollten, sollten sie tatsächlich angegriffen werden. Der Platz schien ihr kaum ausreichend, um auch nur ein Schwert zu ziehen, geschweige denn zu kämpfen.
Irgendwie gelang es ihr, sich zu Abbé durchzudrängen, der neben Heinrich und Salim an der Reling stand und nach Süden blickte. Nicht, dass dort irgendetwas Außergewöhnliches zu sehen gewesen wäre. Genau genommen war überhaupt nichts zu sehen, außer der zerfaserten grauen Wand, die das Schiff von allen Seiten fest umschloss. So dicht war der Nebel, dass die Sankt Gabriel, obwohl sie kaum einen Steinwurf entfernt neben ihnen fuhr, bereits zu einem undeutlichen Schemen verwischt war.
Das graue Licht hatte die sichtbare Welt auf einen Umkreis von weniger als fünfzig Schritt schrumpfen lassen und alles mit klammer Nässe durchtränkt. Obwohl die Decks von Menschen überfüllt waren, herrschte beklommene Stille. Die Seefahrer hassten und fürchteten den Nebel aus gutem Grund. In ihrer gegenwärtigen Lage konnte er sich als tödlich erweisen. Die Segel hingen schlaff und schwer vor Feuchtigkeit von den Rahen. Beide Kreuzfahrerschiffe machten kaum noch Fahrt, was nichts anderes hieß, als dass sie auf unbestimmte Zeit hier festsaßen.
»Ist das... gut?«, fragte sie.
»Der Nebel? Ich wüsste nicht, wozu.« Abbé schüttelte den Kopf, riss sich vom Anblick der unheimlichen grauen Wand los und sah stirnrunzelnd auf sie herab - »Was tust du hier?«, fragte er. »Hat Salim dir nicht gesagt...«
»... dass ich im Bett bleiben und mir die Decke über die Nase ziehen soll, bis alles vorbei ist, ja«, fiel ihm Robin ins Wort. »Aber wenn wir wirklich angegriffen werden, dann bin ich dort unten auch nicht sicherer als hier.« Sie streckte herausfordernd die Hand in Salims Richtung aus. »Mein Schwert.«
»Verdammt, Robin, das hier ist kein Spiel!«, sagte Salim wütend. Er rührte keinen Finger, um ihr die Waffe auszuhändigen. Auch in Abbés Augen blitzte es wütend auf. Dann aber entspannte er sich plötzlich.
»Also gut, bleib in Gottes Namen hier«, seufzte er resignierend. »So können wir wenigstens auf dich Acht geben.«
»Gib Bruder Robin das Schwert, Salim.« Er wartete, bis Salim seinem Befehl nachgekommen war, und fügte mit finsterem Gesicht hinzu: »Aber sollte es zum Kampf kommen, dann verschwindest du sofort unter Deck, hast du mich verstanden?«
»Eure Sorge um Bruder Robin ehrt Euch, Abbé«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Aber bemerktet Ihr nicht erst gestern, dass er kein Kind mehr ist?«
Robin drehte sich herum und starrte in Dariusz’ Gesicht. Sie hatte nicht gemerkt, dass der grauhaarige Ritter hinter sie getreten war, was auf dem überfüllten Achterkastell aber nicht weiter verwunderlich war. Dariusz hatte seinen Helm mit dem Kinnriemen am Gürtel festgeschnallt. Dort steckte statt eines Schwertes ein dreikugeliger Morgenstern, was Robin zu einem flüchtigen Stirnrunzeln veranlasste. Sie verachtete diese Waffe, denn statt Schnelligkeit und Geschick zählte beim Umgang mit ihr vor allem brutale Kraft. Bei einer Auseinandersetzung in so drangvoller Enge, wie sie augenblicklich auf der Kogge herrschte, würde er vermutlich eher seine eigenen Brüder als sarazenische Angreifer verletzen.
»Ihr braucht Euch nicht um Euren Protege zu sorgen, Bruder Abbé«, fuhr Dariusz spöttisch fort. »Es wird nicht zu einem Kampf kommen, glaubt mir.«
»Weil sie sich vor Euch fürchten?«, spottete Salim.
»Weil der Nebel sie genauso blind macht wie uns«, antwortete Dariusz. Erstaunlicherweise ging er nicht auf Salims vorlaute Bemerkung ein, sondern lächelte sogar. »Und selbst wenn es nicht so wäre: Sobald dieses Heidenpack das Banner mit dem Ordenskreuz sieht, wird es den Schwanz einkneifen und abdrehen.« Er setzte eine Miene des Bedauerns auf und streichelte über die schweren Eisenkugeln des Morgensterns.
Salim verzichtete klugerweise auf eine Antwort auf diese Provokation, aber Abbé wiegte zweifelnd den Kopf. »Sie sind in der Überzahl«, gab er zu bedenken. »Und sie kennen sich in diesen Gewässern aus.«
»Ja, vermutlich werden sie uns einen Hinterhalt legen«, sagte Dariusz spöttisch. »Ich nehme an, sie werden sich hinter einem Wellenkamm auf die Lauer legen und warten, bis wir ahnungslos um die Ecke biegen.«
»Sie werden kommen, verlasst Euch darauf«, sagte Salim ernst. »Ich kenne diese Männer, Dariusz. Das sind keine Piraten, das wisst Ihr genauso gut wie ich. Das sind Kriegsschiffe, die uns folgen! Und die Männer darauf werden zu allem entschlossen sein. Sie glauben, wenn sie im Kampf gegen Euch sterben, werden sie direkt ins Himmelreich gelangen. Und dort warten auf jeden von ihnen hundert Jungfrauen. Davon abgesehen... In einem Punkt ähneln sie Euch sogar, Dariusz.«
»So?«, fragte Dariusz. Er lächelte noch immer, doch in seiner Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton. »In welchem?«
»Es gibt nicht viel, wovor sie sich fürchten«, antwortete Salim. »Sie sind irgendwo dort draußen im Nebel. Vermutlich näher, als wir ahnen. Sie wissen, dass wir hier sind und ihnen nicht entfliehen können. Sie werden kommen, verlasst Euch darauf.«
»Dann werden sie den Tod finden«, antwortete Dariusz. Er legte den Kopf auf die Seite und sah Salim durchdringend an. »Ich frage mich seit gestern, woher unsere Verfolger wissen konnten, dass sie uns hier finden würden. Zumal wir auch noch unseren Kurs geändert haben.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Salim. Seine Hand legte sich wie zufällig auf den Griff des Krummsäbels an seiner Seite.
»Nichts«, behauptete Dariusz. »Ich fand es nur von Anfang an etwas... befremdlich, einen Muselmanen in unserer Begleitung zu sehen. Und nun lauern uns Schiffe voller Muselmanen auf, obwohl sie doch eigentlich gar nicht wissen können, dass wir hier sind.«
Salims Hand schloss sich um den Schwertgriff, und Robin zuckte unwillkürlich zusammen als sie bemerkte, wie sich die Muskeln des Tuareg unter dem schwarzblauen Umhang spannten. Doch ehe aus der Auseinandersetzung tödlicher Ernst werden konnte, trat Abbé mit einem raschen Schritt zwischen die beiden Streithähne.
»Genug jetzt!«, sagte er scharf und er musste sich dazu zwingen, nicht zu schreien. »Salim, nimm die Hand vom Schwert, auf der Stelle! Und Ihr, Ritter Dariusz...« Er senkte die Stimme nicht, als er sich zu dem Templer herumdrehte, und seine Augen funkelten vor mühsam beherrschter Wut. »Überlegt Euch, was Ihr redet! Das ist nicht der Moment, haltlose Anschuldigungen vorzubringen!«
»Sind sie denn haltlos?«, fragte Dariusz ruhig.
»Genug, sage ich!« Diesmal schrie Abbé wirklich. »Wenn Ihr etwas vorzubringen habt, dann werdet Ihr reichlich Gelegenheit dazu bekommen, sobald das alles hier vorüber ist. Jetzt schweigt!«
»Oder redet wenigstens etwas leiser«, mischte sich Heinrich ein, wobei seine Worte wohl eher Abbé als Dariusz galten. »In diesem Nebel sieht man vielleicht nicht viel, aber man hört dafür umso besser. Euer Geschrei ist ja bis Damaskus zu vernehmen!«
»Und? Habt Ihr etwa Angst vor einem Häufchen Ungläubiger?« Dariusz klopfte auf den Griff des Morgensterns in seinem Gürtel und er entblödete sich nicht, dabei Salim herausfordernd anzusehen.
»Noch bestehen gute Aussichten, einem Kampf auszuweichen«, entgegnete Heinrich, ohne sich von der Drohgebärde beeindrucken zu lassen. »Solange der Nebel und damit die Flaute anhalten, sind uns die Sarazenen auf ihren Galeeren überlegen. Wenn wir aber Ruhe an Deck halten, mag es geschehen, dass sie weniger als einen halben Pfeilschuss weit an uns herankommen, ohne uns zu bemerken.«
Dariusz schüttelte empört den Kopf, und Robin begann allmählich an seinem Verstand zu zweifeln. Dass Dariusz nicht gerade zum intimen Freundeskreis Abbés zählte, war niemals ein Geheimnis gewesen, und sie hatte damit gerechnet, dass die seit Anfang ihrer Reise schwelende Feindschaft irgendwann einmal offen zutage treten würde. Aber Dariusz hatte sich den wohl unpassendsten aller nur denkbaren Augenblicke dafür ausgesucht.
»Ich muss mich doch sehr wundern«, bemerkte der Ordensritter herablassend. »Ich kenne die Komturei nicht, in der Ihr bisher gelebt habt, aber dort, wo ich herkomme, hat man mich nicht gelehrt, vor einem Feind davonzulaufen.«
»Weil Ihr nur mit dem Morgenstern denkt, hat Bruder Horace es wohl vorgezogen, mir das Kommando über die Sankt Christophorus zu übertragen, und nicht Euch«, erwiderte Abbé gepresst. »Wir sind nicht hergekommen, um unser Blut in sinnlosen Schlachten auf hoher See zu vergießen. Wir haben eine Mission, Dariusz, muss ich Euch daran erinnern? Und ich werde nichts tun, was den Erfolg dieser Mission gefährden könnte.« Er schüttelte müde den Kopf. »Im Übrigen hat Heinrich Recht, fürchte ich. Der Nebel trägt jeden Laut meilenweit. Lasst den Befehl weitergeben, dass an Deck nicht mehr gesprochen werden darf.«
Dariusz funkelte Abbé noch einen Herzschlag lang herausfordernd an. Dann drehte er sich mit einem Ruck um und drängte sich zwischen den Rittern hindurch, um zum Hauptdeck hinabzusteigen und Abbés Befehl weiterzugeben. Auf dem Achterkastell war dies nicht mehr nötig, denn jedermann hatte hier oben dem Streit zwischen ihm und Abbé mit angehaltenem Atem gelauscht.
Robin drängte sich unmittelbar neben Salim an die Reling. Das Holz war nass, wie alles hier an Deck. Nach und nach wurde es ruhig auf dem Schiff. Die Männer befolgten Abbés Befehl gehorsam, aber die Stille, die sich nun auf dem Schiff ausbreitete, hatte etwas Beklemmendes. Vielleicht, weil es keine wirkliche Stille war. Die Geräusche, die die Menschen an Bord verursachten, verstummten fast ausnahmslos, aber es gab andere Laute: das regelmäßige Klatschen, mit dem sich die Wellen am Rumpf des Schiffes brachen, das leise Knarren der Takelage und das behäbige Flappen der nassen Segel. Manchmal erklang auch ein leises Scharren von eisenbeschlagenen Stiefeln oder ein unterdrücktes Husten.
Auch aus dem Nebel drangen Geräusche zu ihnen: das Rauschen des Meeres, auf unheimliche Weise verzerrt und aller hellen Töne beraubt, sodass es zu etwas anderem, Bedrohlichem zu werden schien. Und dann, zunächst fast unhörbar, ein rhythmisches Klatschen. Ruder, die ins Wasser tauchten? Da waren auch andere, noch unheimlichere Laute, die Robins Herz schneller schlagen ließen. Sie strengte ihre Augen an und versuchte, die träge wallenden Dunstschleier mit Blicken zu durchdringen. Vergebens! Der Nebel gaukelte ihr Bewegung und Schatten vor, wo keine waren, und ihre überreizten Nerven taten ein Übriges, sodass sie sich bald von einem halben Dutzend Kriegsgaleeren umzingelt wähnte.
Das Einzige, was ihr ein wenig Mut machte, war Salims Nähe. Sie wusste, wie kampfstark der schlanke Tuareg war. Und auch wenn es ein unsinniger Gedanke sein sollte angesichts dessen, was ihnen möglicherweise bald bevorstand: Sie hatte das Gefühl, dass ihr nichts geschehen konnte, solange nur Salim bei ihr war. Absurderweise ertappte sie sich sogar bei dem Wunsch, näher an den Tuareg heranzurücken und ihren Kopf an seine starke Schulter zu lehnen.
Erschrocken rutschte sie ein kleines Stück von ihm weg und straffte demonstrativ die Schultern. Das Resultat daraus war ein missbilligender Blick Salims und ein Stirnrunzeln, das alle weiteren Worte überflüssig machte.
»Du hast mir nie gesagt, warum du wirklich hier bist«, flüsterte sie unvermittelt, ohne Salim dabei anzusehen - und vielleicht selbst am meisten überrascht über ihre allzu offene Frage.
»Um auf dich aufzupassen, Dummkopf«, antwortete Salim ebenso leise.
Das stimmte nicht. Es war ein Grund, aber nicht der Grund, aus dem Abbé den Tuareg mit auf diese Mission genommen hatte. Dariusz’ Worte hatten mehr Wahrheit enthalten, als Robin sich bis zu diesem Moment eingestanden hatte. Dariusz war nicht der Einzige an Bord, der sich fragte, was Salim inmitten eines Heeres von Tempelrittern verloren hatte. Auch wenn Robin eine nur ganz vage Vorstellung vom Zweck dieser Mission hatte, so hätte sie doch blind und taub sein müssen, um nicht mitzubekommen, dass es sich hier um mehr als nur um einen weiteren Feldzug ins Heilige Land handelte. An Bord der beiden Schiffe befanden sich zu viele Würdenträger des Ordens. Und es gab Gerüchte, das noch mehr und noch viel wichtigere Persönlichkeiten in Akko und auf ihrem Weg nach Jerusalem zu ihnen stoßen würden. Vielleicht hatte Abbé nicht einmal übertrieben, als er behauptet hatte, das Schicksal des gesamten Ordens stünde auf dem Spiel.