17. KAPITEL


Seit sie die Furt passiert hatten und der Orontes für immer hinter ihnen zurückgeblieben war, schien sie Mussa geradewegs in die Hölle zu führen. Hatte Robin schon am ersten Tag geglaubt, dass es unerträglich heiß wäre, so musste sie in den nächsten beiden Tagen entdecken, dass sich dieser Zustand noch ohne weiteres steigern ließ. Obwohl sie nun nicht mehr gehen mussten, sondern sich auf den schwankenden Rücken der Kamele ihrem immer noch unbekannten Ziel entgegenquälten, schmerzten ihre Füße unerträglich. Außerdem schwächte sie ein Fieber, das sie seit dem frühen Morgen in seinem unbarmherzigen Griff hatte.

Ihr wurde immer wieder schwindlig, und sie wurde so müde, dass sie mehrfach im Sattel einschlief und fast vom Rücken ihres Reittieres gefallen wäre.

Dabei lag gerade erst die Hälfte ihrer heutigen Etappe hinter ihnen. Die schlimmere Hälfte, versuchte Robin sich einzureden. Die Sonne stand noch nahezu senkrecht über ihnen. Aber die verzerrten Schatten, die die Kamelreiter auf den unebenen Untergrund warfen, begannen allmählich wieder länger zu werden; die Mittagsstunde war vorbei, und damit auch die der größten Hitze. Vor ihnen lagen noch endlose Stunden, bis die Sonne wieder untergehen und es kurz nach Einbruch der Dunkelheit ebenso grausam kalt werden würde, wie es jetzt unerträglich heiß war. Doch mit jedem Schritt, den das Kamel tat, jedem Atemzug glühender Luft, die ihre Kehle weiter ausdörrte, wurde der Tag kürzer und rückte das Ende des Martyriums näher.

Robin hob müde den Kopf und blinzelte aus entzündeten, schmerzenden Augen in die braunrote Landschaft, durch die sie ritten. Seit einiger Zeit bewegte sich die Karawane durch ein gewundenes Wadi, ein trockenes Flussbett, das sich tief in den Boden eingegraben hatte und zu beiden Seiten von rötlichem, hartkantigem Gestein eingefasst wurde. Auf dem Boden lag Geröll, kein Sand mehr. Felsbrocken und Trümmer in allen nur denkbaren Größen und Formen machten auch den Kamelen das Vorankommen schwer. Es war Robin ein Rätsel, warum Omar ausgerechnet diesen Weg gewählt hatte, denn er brachte keinerlei Vorteile. In dem ausgetrockneten Flussbett war es kein bisschen kühler. Die Hitze schien sich im Gegenteil hier noch zu stauen und es war nur eine Frage der Zeit, bis eines der Kamele einen Fehltritt tun und stürzen würde, was für Reiter wie Tier böse ausgehen konnte.

Vielleicht hoffte Omar, auf dem Talgrund eher vor den Blicken etwaiger Verfolger verborgen zu bleiben oder dass ihre Tiere auf dem steinigen Boden so gut wie keine Spuren hinterließen. Obwohl Robin in Taktik und Kriegsführung allenfalls theoretisch ausgebildet war, wusste sie doch, dass eine so große Anzahl von Tieren unübersehbare Spuren hinterlassen würde, die ein erfahrener Fährtenleser auch noch nach Tagen zu deuten vermochte. Omar hatte entweder aus purer Verzweiflung diesen Weg eingeschlagen, oder er hatte andere Beweggründe, die er niemandem von ihnen anvertraut hatte.

Wenn es so war, dann musste er wirklich eine gewaltige Überraschung parat haben, dachte Robin müde. Er verlangte das Allerletzte von Mensch und Tier. Die zurückliegenden beiden Tage hatten Robin mehr an Kraft geraubt, als sie in den Wochen seit ihrer Ankunft in diesem Land mühsam wieder zurückerlangt hatte. Soweit sie es in ihrer Erschöpfung mitbekam, erging es den anderen kaum besser. In der vergangenen Nacht hatte sie gehört, wie sich Nemeth und ihre Mutter gegenseitig in den Schlaf geweint hatten. Diese Flucht aus der Stadt, die zugleich die erste Etappe ihrer eigenen Flucht hatte werden sollen, war längst zu einem Albtraum geworden, der vielleicht nie ein Ende nehmen würde.

Sie versuchte, sich mit der Zungenspitze über die rissigen, verschorften Lippen zu fahren, um sie anzufeuchten, aber es gelang ihr nicht. Ihr Gaumen war ausgedörrt und der Durst hatte ihre Zunge so unförmig anschwellen lassen, dass sie schon Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte. Zum unzähligsten Mal an diesem Tag glitt ihre Hand wie von selbst zu dem schmal gewordenen Wasserschlauch, der vor ihr am Sattel befestigt war, und zum unzähligsten Mal zog sie den Arm zurück, ohne die Bewegung beendet zu haben. Omar hatte sie alle eindringlich ermahnt, sparsam mit dem Wasser umzugehen, und Harun hatte diese Warnung Robin gegenüber noch einmal wiederholt.

Ihr Weg würde sie an mehreren Wasserstellen und kleineren Oasen vorbeiführen, von denen man aber nie genau sagen konnte, ob sie im Moment Wasser führten oder nur ausgetrocknete Löcher voller Sand in einer Welt aus Stein waren. Omar hatte auch keinen Zweifel daran gelassen, dass sie so viel trinken konnte, wie sie wollte. Aber er hatte es laut genug gesagt, um ihr mit diesen Worten gleichzeitig vollkommen unmöglich zu machen, dieses Privileg zu nutzen. Von allen hier litt sie vermutlich am meisten unter Hitze und Durst, denn sie war weder in diesem Land aufgewachsen wie Saila und ihre Tochter, noch war sie lange Ritte durch die Wüste gewohnt, wie Omar, Mussa und die anderen. Aber sie würde lieber sterben, bevor sie die Rolle des verweichlichten Christenweibes spielte, die Omar ihr offenbar so gerne zugedacht hätte. So hatte sie eine Abmachung mit sich selbst getroffen: Sie orientierte sich an Harun, weil sie diesen riesigen, verwöhnten und verweichlichten Burschen instinktiv als das schwächste Glied in der Kette ansah. Robin hatte sich geschworen, nicht öfter als er nach ihrem Wasserschlauch zu greifen und auch nicht mehr zu trinken.

Ein Schwur, den sie schon hundertfach bereut hatte. Aber den sie auch nicht brechen würde. Es sei denn, es würde noch heißer. Oder Omar käme noch einmal zu ihr und wiederholte sein Angebot. Oder sie könnte Harun endlich beweisen, dass er nur aus dem einzigen Grund nicht trank: um sie zu quälen, denn zweifellos wusste er von dem Eid, den Robin sich selbst gegenüber abgelegt hatte, und ertrug die Qualen des unerträglichen Durstes nur, um ihr selbst noch größere Qualen zu bereiten und sich an ihrem Leid zu laben. Oder...

Schwielige Finger schlossen sich hart um ihr rechtes Handgelenk und rissen sie so derb in die Höhe, dass Robin vor Schmerz und Überraschung aufschrie. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass es wehtat, und das leise Schwindelgefühl, das sie schon seit ihrem morgendlichen Aufbruch hatte, explodierte zu einer Woge von Übelkeit. Sie sank nach vorne und hätte sich übergeben, wäre in ihrem Magen noch irgendetwas gewesen, das sie hätte ausspucken können.

»Robin!«

Die Übelkeit verging. Der Schwindel und das Gefühl unerträglicher Hitze blieben, ebenso wie der schmerzhafte Druck auf ihr rechtes Handgelenk. So weit es die kräftig zupackende Hand zuließ, richtete sich Robin im Sattel auf, blinzelte die Tränen weg und blickte in eine zerfurchte Landschaft aus Falten und vom Sand grau gepuderter Haut, die sie erst nach weiteren drei oder vier Atemzügen als das Gesicht Harun al Dhins erkannte. Er sah zornig aus, dann begriff sie, dass es in Wahrheit Schrecken war, was sich auf seinen Zügen abmalte. Zugleich wurde ihr klar, warum er sie so unsanft am Handgelenk gepackt hielt: Sie war wieder einmal eingenickt, ohne es zu merken, und hätte er nicht im letzten Moment zugegriffen, dann wäre sie diesmal wirklich aus dem Sattel gefallen; ein Sturz von der Höhe des Kamelrückens herab auf den felsübersäten Boden wäre vermutlich nicht ohne Knochenbrüche oder Schlimmeres abgegangen.

Dennoch wollte sich das Gefühl der Dankbarkeit, das sie jetzt empfinden sollte, nicht einstellen.

»Lasst mich los«, lallte sie mit schwerer Zunge.

»Erst, wenn ich sicher bin, dass du nicht gleich aus dem Sattel fällst«, sagte Harun in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Robin gab auf. Sie empfand immer noch einen absurden Trotz, aber sie war einfach zu müde, um selbst diesen kleinen Kampf auszufechten. Sie nickte.

Harun maß sie noch einen Moment lang mit Blicken, in denen Misstrauen und Sorge einen ungleichen Kampf fochten, dann ließ er sie vorsichtig los. Er blieb jedoch weiter in angespannter Haltung schräg auf seinem Kamel sitzen, das unmittelbar neben dem Robins einhertrottete, jederzeit bereit, wieder zuzugreifen, falls die Schwäche sie erneut übermannen sollte.

»Danke«, murmelte sie.

Aus irgendeinem Grund schien dieses Wort Harun zu ärgern. Er schüttelte den Kopf, murmelte irgendetwas auf Arabisch, das Robin gar nicht erst verstehen wollte, dann zerrte er mit einer ungeduldigen Bewegung seinen eigenen Wasserschlauch vom Sattel und schlug ihn ihr mit solcher Wucht vor die Brust, dass sie japsend nach Luft rang. »Hier! Und jetzt trink, du dummes Weib!«

Robin starrte den kaum noch zur Hälfte gefüllten Wasserschlauch verständnislos an. »Aber das ist... Euer Wasser«, murmelte sie.

»Du sollst trinken, habe ich gesagt!« Harun brachte das Kunststück fertig, zu schreien, ohne die Stimme zu heben oder auch nur einen Deut lauter zu werden. Seine Augen flammten vor Zorn. »Ich habe mir deine Albernheiten jetzt lange genug angesehen. Willst du dich umbringen, du verstocktes Kind?«

»Ich brauche kein Wasser«, beharrte Robin. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen, als wären auch ihre Stimmbänder ausgetrocknet und stünden kurz davor, einfach zu zerreißen, wie von der Sonne verbranntes Pergament. »Ich trinke nicht mehr als...«

»Als ich?« Harun lachte. Es klang böse. »Du hast uns allen bewiesen, was für ein tapferes Mädchen du bist. Jetzt beweis mir, dass du nicht auch ein genauso dummes Mädchen bist.«

Es dauerte einen Moment, bis Robin überhaupt begriff, was Harun gesagt hatte. Mühsam hob sie den Kopf und blinzelte in sein Gesicht, das noch immer vor Ärger verdunkelt war. »Aber woher...?«

»Ich das weiß?« Harun lachte erneut und diesmal klang es eher spöttisch als wütend. »Du hast Fieber, Mädchen. Und du gehörst zu denen, die im Fieber reden.«

»Reden?«, wiederholte Robin dumpf. Hatte sie etwa...?

Haruns Nicken beantwortete ihre unausgesprochene Frage. Sie hatte den gleichen Unsinn, den sie gerade im Hinüberdämmern gedacht hatte, wohl auch laut ausgesprochen. Der Gedanke war ihr so peinlich, dass sie spürte, wie ihr unter dem Schleier die Schamesröte ins Gesicht schoss. Trotzdem schüttelte sie noch einmal den Kopf und sagte: »Das kann ich nicht annehmen. Das ist Euer Wasser. Ich habe genauso viel wie Ihr.«

»Aber du brauchst es dringender«, beharrte Harun. Er hatte sowohl gestern als auch heute ebenso viel - oder wenig - wie Robin getrunken. Dabei war er ein sehr viel größerer, schwererer Mensch, der mehr Wasser brauchen sollte, es aber offensichtlich nicht tat. Robin fragte sich, woher er die Energie nahm, so zornig zu werden. »Jetzt sei vernünftig und trink. Es gibt keinen Grund, dich zu schämen. Ich bin in diesem Land aufgewachsen. Ich bin ein Teil der Wüste, und ich weiß, wie weit ich sie herausfordern kann oder nicht. Wir erreichen noch heute eine Oase, wo wir unsere Wasservorräte auffüllen können. Du brauchst also kein schlechtes Gewissen zu haben.«

Die letzte Behauptung war eine Lüge, das spürte Robin ganz genau.

»Dann kann ich genauso gut mein Wasser trinken«, murmelte sie.

»So gut wie das, was du schon in der Hand hast«, gab Harun zurück. Er änderte seine Taktik und versuchte es mit einem Lächeln. »Es ist keine Schande, der Wüste nicht gewachsen zu sein, weißt du? Ich habe schon gestandene Ritter zusammenbrechen und wie kleine Kinder nach ihren Müttern schreien hören, weil sie die Wüste unterschätzt haben.« Er seufzte. »Du wirst dem Mädchen nicht helfen können, wenn du tot bist oder dir der Durst den Verstand geraubt hat, weißt du?«

Robin gab endgültig auf. Nicht nur, weil Harun mit seiner letzten Bemerkung durchaus Recht hatte und sich ihr schlechtes Gewissen regte und sie daran erinnerte, dass sie schon seit einer geraumen Zeit weder an Nemeth gedacht, noch nach ihr gesehen hatte, sondern auch, weil sie mittlerweile wieder klar genug war, um sich zu erinnern, neben wem sie da eigentlich ritt. Harun würde sowieso keine Ruhe geben, bis sie entweder getrunken oder tot vom Kamel gefallen war. Mit vor Schwäche zitternden Händen öffnete sie den Verschluss des Wasserschlauches, setzte ihn an und musste mit aller Macht gegen den Impuls ankämpfen, das Wasser in großen, gierigen Schlucken herunterzustürzen.

Es war warm und schmeckte widerwärtig, aber zugleich war es köstlicher als der erlesenste Wein, den sie jemals getrunken hatte. Vorsichtig benetzte sie die Lippen mit wenigen Tropfen der kostbaren Flüssigkeit und verzog das Gesicht, als einige der kaum verschorften Risse darin wieder aufplatzten und zu bluten begannen. Dennoch widerstand sie dem Verlangen, die Hand zu heben und das Blut von ihren Lippen zu wischen; stattdessen leckte sie die wenigen Tropfen sorgsam auf und spülte mit einem weiteren, etwas größeren Schluck Wasser nach.

Es nutzte nicht viel, das war ihr klar. Sie hätte die zehnfache Menge dessen trinken müssen, was sich noch in Haruns Wasserschlauch befand, um ihren Durst wirklich zu löschen. Aber allein das Gefühl, dass statt kochender Luft nun Wasser ihre Kehle hinunterrann, war unendlich erleichternd. Sie machte eine Pause, in der sie sich zwang, langsam in Gedanken bis zwanzig zu zählen, dann trank sie einen dritten, noch größeren Schluck, verschloss sorgsam den Wasserschlauch und wollte ihn Harun zurückgeben.

Er schüttelte den Kopf. »Behalt ihn.«

»Das ist sehr großzügig, aber das kann ich nicht annehmen«, antwortete Robin. Sie war fast überrascht, wie leicht ihr die Worte plötzlich wieder von den Lippen gingen. Sie hatte immer noch das Gefühl, Fieber zu haben und innerlich ausgedörrt zu sein, aber die wenigen Schlucke abgestandenen, warmen Wassers hatten doch wahre Wunder bewirkt.

»Das wirst du wohl müssen«, antwortete Harun spöttisch. »Es sei denn, du legst Wert darauf, dass ich zu Omar reite und ihm sage, dass du dich wie ein verstocktes Kind benimmst.«

Das traute sie ihm durchaus zu. Sie zögerte trotzdem noch einen Moment, ehe sie mit einem Seufzer den Schlauch neben ihrem eigenen Wasservorrat am Sattel befestigte. Sein Anblick gab ihrem schlechten Gewissen erneut Nahrung. Harun meinte es gut, aber er beschämte sie auch.

Der Schrecken über diesen kleinen Zwischenfall hatte sie vollends wach werden lassen. Sie richtete sich so weit im Sattel auf, wie es ihr schmerzender Rücken zuließ, streifte Harun mit einem letzten, tadelnden Blick und sah dann hinter sich in die Richtung, in der Nemeth und ihre Mutter ritten. Die beiden saßen so eng aneinander gepresst im Sattel des Kamels, dass sie wie ein einziger, sonderbar missgestalteter Reiter wirkten. Sailas Kopf war nach vorne und auf den ihrer Tochter gesunken, und im allerersten Moment befürchtete Robin schon, dass sie das Bewusstsein verloren haben oder gar tot sein könnte.

Dann aber, als hätte sie ihren Blick gespürt, hob die Araberin langsam den Kopf und sah zu ihr herüber. Sie war viel zu weit entfernt, um ihr Gesicht zu erkennen, und darüber hinaus verschleiert, aber Robin spürte ihren Blick trotzdem. Es lag ein unausgesprochener Vorwurf darin, Schmerz und Verbitterung, aber auch eine Forderung, der sie sich nicht entziehen konnte. Sie schauderte, spürte plötzlich ein eisiges Frösteln und drehte den Kopf rasch wieder nach vorne.

»Du kannst vielleicht wegsehen, aber vor der Verantwortung kannst du nicht davonlaufen«, sagte Harun.

Manchmal war es Robin, als ob dieser riesige alte Mann ihre Gedanken las. Die Vorstellung war natürlich albern, aber sie war dennoch sicher, dass Harun al Dhin auf eine geheimnisvolle Weise stets irgendwie zu wissen schien, was sie dachte oder fühlte. Erstaunlicherweise erschreckte sie diese Erkenntnis nicht wirklich.

»Ihr habt gelogen, nicht wahr?«, fragte sie.

»Gelogen?« Harun sah sie mit beinahe überzeugend gespielter Verwirrung an.

»Als Ihr behauptet habt, dass wir heute Abend eine Oase erreichen«, sagte Robin.

Harun hob die Schultern. Er wich ihrem Blick aus. »Was bedeutet schon Lüge? Ich könnte sagen, wir reiten mitten in einem Fluss, und es wäre die Wahrheit. Niemand kennt diese Wüste wirklich. Vielleicht liegt hinter der nächsten Biegung eine Wasserstelle, vielleicht sind es auch noch drei Tage bis zur nächsten Oase. Niemand weiß das.«

Und Omar offensichtlich auch nicht, dachte Robin müde. Sie hatte längst aufgehört, sich über die Frage den Kopf zu zerbrechen, was der Sklavenhändler tatsächlich plante. Vielleicht nichts. Vielleicht hatte ihn auch die Angst vor Naidas »Schatten«, an die er angeblich nicht glaubte, in den Wahnsinn getrieben.

Die Assassinen - falls es sie denn überhaupt gab - hätten jedenfalls schon Flügel haben müssen, um sie noch einzuholen. Seit sie Hama verlassen hatten, war die Karawane fast ununterbrochen in Bewegung gewesen. In der ersten Nacht hatte Omar ganz darauf verzichtet, ein Lager aufzuschlagen und sie ausruhen zu lassen, und auch in der zurückliegenden hatten sie nach Robins Schätzung allenfalls vier oder fünf Stunden Schlaf gefunden. Nach ihrem Gefühl waren es allerdings eher vier oder fünf Minuten gewesen, und sie erinnerte sich schaudernd an die Kälte, die sich mit Zähnen aus Eis in ihre Knochen gegraben hatte. So unerträglich hoch die Temperaturen tagsüber in der Wüste stiegen, so grausam kalt wurde es des Nachts. Nein, sie wusste nicht, was Omar vorhatte - aber wenn er plante, Mensch und Tier, die sich seiner Obhut anvertraut hatten, zu Tode zu hetzen, so war er auf dem besten Wege, diesen Plan in die Tat umzusetzen.

Im letzten Moment spürte sie, dass ihre Gedanken schon wieder anfingen, auf eigenen Pfaden zu wandeln. Der nächste Schritt würde sein, dass sie einschlief und dann vielleicht tatsächlich vom Kamel fiel. Sie konnte nicht darauf bauen, dass Harun immer im passenden Moment da war, um sie zu retten. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, riss die Augen auf und sagte: »Nehmt Euer Wasser zurück. Ich weiß Euer Angebot zu schätzen, aber...«

Sie sprach nicht weiter, als sie begriff, dass niemand mehr da war, der ihr zuhören konnte. Harun ritt mittlerweile wieder gut zwei Kamellängen vor ihr, - dabei hatte sie noch nicht einmal bemerkt, dass er die Position gewechselt hatte. Doch als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er sich wieder mit einer dieser fast unverschämt eleganten Bewegungen im Sattel herum und sah zu ihr zurück. Meinte er wirklich sie! Robin war sich nicht sicher. Genauso gut konnte sein Blick auch dem Ende der Karawane gelten oder irgendetwas, das dahinter lag.

Erst bei diesem Gedanken wurde ihr bewusst, dass Harun die Wüste in ihrem Rücken nie lange ohne Beobachtung ließ. Vielleicht war der unverhohlene Spott, mit dem er sich über Omars Furcht vor den Assassinen lustig machte, ja nichts anderes als ein Versuch, seine eigene Angst vor den unheimlichen Angreifern zu überspielen. Möglicherweise drehte er sich gar nicht zu ihr herum, sondern suchte den Horizont nach einer Staubfahne ab, die herannahende Verfolger verraten mochte.

Obwohl sie längst mit jeder noch so kleinen Bewegung zu geizen begonnen hatte, wandte sich auch Robin mühsam im Sattel um und fixierte den Horizont, der sich so wenig hinter ihnen entfernte, wie der vor ihnen näher kam. Aber da war nichts. Nur flirrende Luft, Hitze, Staub und ein unendlicher stahlblauer Himmel.

Während der letzten beiden Stunden war es einzig der Anblick der Festung gewesen, der Robin noch die Kraft gegeben hatte, sich im Sattel des Kamels zu halten. Sie war anfangs nicht sicher gewesen, ob sie tatsächlich da war oder sie nur wieder einer Täuschung erlag; nicht das erste Trugbild, das ihr ihre müden Augen und ihre völlig außer Kontrolle geratenen Nerven vorgaukelten. Sie hatte noch keine wirkliche Fata Morgana erlebt, jene vielleicht tödlichste aller Feindinnen, die jeden in die falsche Richtung locken konnte, der sich leichtsinnig und ohne entsprechende Vorbereitung in die Wüste hineinwagte. Aber sie hatte schon genug von ihr gehört, um zu wissen, dass die Täuschungen, mit denen sie es zu tun hatte, harmloser Natur waren.

Ihre überreizten und entzündeten Augen schmerzten von dem unbarmherzigen gleißenden Licht der Wüste, das sie nun schon drei Tage begleitete. Ihr Körper litt an Wassermangel, Erschöpfung und Fieber und sie wachte jede Nacht mehrmals von Schüttelfrost und Albträumen geplagt auf. Es bedurfte nicht viel, ihr in einer vom Wind aufgewirbelten Staubwolke einen Reiter vorzugaukeln. Bisweilen hielt sie auch eine durch eine Laune der Natur geformte Felsgruppe für die Silhouette eines Hauses oder einer ganzen Stadt oder ihre Ohren spielten ihr einen Streich, indem sie das Knirschen der Sandkörner, mit denen der Wind spielte, in das ferne Donnern von Pferdehufen verwandelten.

Der Mond war bereits aufgegangen und die Anteile von Grau in der Dämmerung überlagerten die Gold- und Rottöne, als die Karawane die letzte Sanddüne der Etappe dieses Tages überquerte und auf flacheres, scheinbar sich ins Unendliche erstreckende Wüstengebiet stieß. Und irgendwo auf halbem Wege zum Horizont stand die Festung.

Robin hatte sich im ersten Moment nicht erlaubt zu glauben, was sie sah. Sie hatte ihr Kamel einfach weitertraben lassen, ein paar Mal geblinzelt und sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen gewischt, doch diesmal verschwand das Bild nicht. Weit entfernt und fast schon mit dem farbenverzehrenden Grau der Dämmerung verschmolzen, erhoben sich die Türme einer gewaltigen Festung, die mitten in dieser unendlichen Wüste aufragte. Jetzt endlich wusste sie, was Omars und damit ihr aller Ziel war.

Robin konnte sich auch bei größter Anstrengung keinen Grund vorstellen, warum irgendjemand eine solch gewaltige Trutzburg hier mitten im Nichts errichten sollte. Aber sie war da und die Karawane hielt in gerader Linie darauf zu, selbst als die Nacht endgültig hereinbrach und die schwarzen Silhouetten der Türme und Zinnenmauern mit dem noch dunkleren Schwarz des Himmels verschmolzen. Im Nachhinein musste sie Omar Khalid Abbitte für vieles tun, was sie über ihn gedacht hatte.

Ihre Flucht war vielleicht gewagt und vermutlich entbehrungsreicher und gefährlicher, als Omar selbst geahnt haben mochte, aber das Ziel lohnte die Mühen. Selbst wenn die Assassinen verrückt genug sein sollten, ihnen immer noch zu folgen - in dieser Festung waren sie sicher. Sie lag weit genug draußen auf der Ebene, dass sich niemand ungesehen nähern konnte, und ihre Türme und Mauern waren hoch genug, dem Ansturm einer ganzen Armee Stand zu halten.

Und vor allem würde es dort Wasser geben, Essen und, wenn sie sehr viel Glück hatte, sogar einen Schlafplatz, der nicht nur aus einer auf dem nackten Boden ausgebreiteten Decke bestand. Der bloße Anblick der schemenhaft aufragenden Festungstürme erfüllte Robin mit neuer, ungeahnter Kraft.

Zwei Stunden waren seither vergangen, vielleicht auch mehr. Mittlerweile war die Nacht so kalt geworden, wie der vergangene Tag unerträglich heiß gewesen war, und ihre geheimen Kraftreserven waren längst aufgebraucht. Die Silhouette der Festung war in der Dunkelheit verschwunden und später wieder aufgetaucht - näher jetzt und nur noch als schwarzer Schattenriss, der sich kaum noch gegen den Nachthimmel abhob.

Aus der kurzzeitig aufgeflammten Hoffnung waren längst wieder Mutlosigkeit und Besorgnis geworden. Etwas stimmte mit dieser Festung nicht. War sie tatsächlich nur ein Schatten? Und hinter den Zinnen der gewaltigen Türme und der kaum weniger hohen Mauern wartete nichts weiter als Dunkelheit? Robin konnte die Größe des Gebäudekomplexes nicht einmal schätzen, aber er war groß; so groß, dass dort drinnen einfach irgendwo ein Licht brennen musste, selbst mitten in der Nacht. Dass dies nicht der Fall war, konnte nur zwei Erklärungen haben: Ihre Bewohner wollten nicht gesehen werden, oder es gab keine Bewohner. Sie vermochte nicht zu sagen, welcher Gedanke sie mehr beunruhigte. Aus dem Hochgefühl, mit dem sie der Anblick des so nahe liegenden Endes ihrer Reise erfüllt hatte, war längst wieder dumpfe Hoffnungslosigkeit und die Ahnung kommenden und vielleicht noch größeren Unheils geworden.

Das Rätsel löste sich, als sie sich der Wüstenfestung auf eine Meile oder weniger genähert hatten. Die regelmäßigen Schritte der Kamele erzeugten plötzlich ein anderes Echo, und als Robin nach unten sah, stellte sie fest, dass sie nicht mehr über feinkörnigen roten Wüstensand ritt, sondern über die Reste einer uralten, halb zerfallenen Straße, die aus großen und sorgsam geglätteten Steinen errichtet war. Und jetzt, wo sie einmal darauf aufmerksam geworden war, bemerkte sie auch noch mehr.

Rechts und links des erstaunlich breiten gepflasterten Weges erhoben sich weitere Umrisse aus dem Sand, die zu geometrisch und zu gleichmäßig waren, um von der Natur erschaffen worden zu sein. Hier eine zerbrochene Säule, dort ein Stück einer Mauer, da eine Türeinfassung, die der beharrlich scheuernde Wind aus einer Laune heraus stehen gelassen, die Wand, zu der sie gehörte, jedoch längst weggerissen hatte. Es war zu dunkel, um etwas über die Größe dieses Ruinenfeldes sagen zu können, aber Robin war doch ziemlich sicher, dass sie hier durch die Reste einer vielleicht schon vor mehr als einem Jahrhundert zerstörten Stadt ritten.

Etwas Ungutes ging von diesem Ruinenfeld aus, das sie fast körperlich spüren konnte. Unwillkürlich drehte sie sich halb im Sattel herum und sah zu Nemeth und ihrer Mutter hinüber, die unmittelbar hinter ihr ritten. Das Licht reichte jedoch nicht aus, um ihre Gesichter zu erkennen. Sie machte nur zwei fast miteinander verschmolzene Schemen aus, die im blassen Sternenlicht auf sonderbare Weise immer mehr an Substanz zu verlieren schienen. Ein eisiger Schauer lief wie eine Armee dürrer Spinnenbeine Robins Rücken hinab und sie drehte sich rasch wieder nach vorne und versuchte, den Gedanken dorthin zu verbannen, wo er hingehörte. Ihre Lage war schlimm genug. Es half niemandem und ihr am allerwenigsten, wenn sie sich selbst in Panik redete.

Harun, der wie üblich vor ihr ritt, ließ sein Kamel ein wenig langsamer gehen und lenkte es an den Rand der gepflasterten und zum Großteil mit Sand bedeckten Straße, bis Robin zu ihm aufgeholt hatte. Er lächelte ihr aufmunternd zu, doch Robin entging die Sorge in seinem Blick nicht. Zum ersten Mal wurde ihr richtig bewusst, in welch erbärmlichem Zustand sich Harun al Dhin befand. Er hatte in den vergangenen Tagen deutlich an Gewicht verloren - was nichts daran änderte, dass er noch immer ein unglaublich dicker Koloss war.

Aber ein Koloss, der litt. Harun hatte sich beharrlich geweigert, sein Wasser zurückzunehmen, und Robin konnte sich auch nicht erinnern, ihn seither auch nur ein einziges Mal etwas trinken gesehen zu haben.

»Geht es dir gut?«, fragte Harun.

Robin war selbst zu müde, um zu nicken, sie sah ihn nur an, um eine Bejahung anzudeuten, aber das schien Harun nicht zu genügen. »Wenn dieser Narr Omar Khalid nicht schon tausendfach den Tod verdient hätte, dann würde ich ihm jetzt die Pest an den Hals wünschen, allein, weil er dir das antut«, grollte er.

»Es ist... nicht so schlimm«, behauptete Robin. Schon der Nachhall ihrer eigenen Stimme machte ihr klar, wie lächerlich diese Behauptung war. Dennoch fügte sie hinzu: »Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden.«

»Daran zweifle ich nicht«, antwortete Harun ohne die mindeste Spur von Spott. »Aber Schlimmeres und so etwas: Das ist ein Unterschied, glaub mir.« Er wartete einen Moment vergebens darauf, dass Robin etwas entgegnete; schließlich hob er die Schultern und wandte den Blick wieder nach vorne. Sein Kamel ließ er nicht wieder antraben, sondern hielt es weiterhin neben Robins Tier.

Offenbar hatte er beschlossen, das letzte Stück des Weges unmittelbar neben ihr zurückzulegen. Statt sich wegen seiner Fürsorge zu ärgern - wie sie es sonst getan hätte -, empfand sie fast so etwas wie Freude. Vielleicht, weil sie mittlerweile so weit war, auch sich selbst gegenüber zuzugeben, dass sie dringend auf Hilfe angewiesen war, vielleicht aber auch, weil sie sich schlicht und einfach nach einem vertrauten Menschen in ihrer Nähe sehnte.

Nach einer Weile fiel ihr auf, dass Harun den schwarzen Umriss der Festung vor ihnen unverwandt anstarrte. Es war schwer, in dem schwachen Licht und unter all den Spuren von Erschöpfung und Schmutz auf seinem Gesicht irgendeine Regung zu erkennen, aber er sah nicht begeistert aus.

»Ihr kennt diese Stadt?«, vermutete Robin.

Harun löste seinen Blick nicht von dem kantigen, schwarzen Flecken in der Nacht und nickte nur. »Omar scheint noch verzweifelter zu sein, als ich angenommen habe«, sagte er kopfschüttelnd. »Oder er hat endgültig den Verstand verloren.«

»Ihr kennt diesen Ort«, sagte Robin noch einmal. Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Qasr al-Hir al-Gharbi«, murmelte Harun. »Das ist kein guter Ort.«

»Wer lebt hier?«, fragte Robin. Haruns Antwort überraschte sie nicht im Geringsten, aber sie gab ihrer Furcht noch mehr Nahrung.

»Niemand. Aber das heißt nicht, dass er verlassen ist.«

»Aha«, sagte Robin.

Sie hatte es sogar irgendwie fertig gebracht, das Wort spöttisch klingen zu lassen, doch als Harun den Kopf drehte und sie ansah, da wirkte er so ernst und erschrocken, dass ihr erneut ein kalter Schauer über den Rücken rann. »Jeder kennt diesen Ort, obwohl kaum jemand je hier gewesen ist. Er ist verflucht. Nur Verrückte oder Lebensmüde wagen sich hierher. Oder Männer, die völlig verzweifelt sind.«

»Verflucht?« Robin unterdrückte ganz bewusst den Impuls, wieder zur Festung hinzusehen, und Harun fuhr in leisem, bitterernstem Tonfall fort: »Manche nennen ihn auch das Grab der Karawanen, weißt du? Mehr als eine Karawane hat hier schon Rast gemacht, von der hinterher nie wieder jemand gehört oder irgendeine Spur gefunden hätte. Diese Stadt und der Palast wurden schon vor langer Zeit von ihren Bewohnern verlassen. Jetzt gehören sie der Erinnerung und den Geistern. Es ist nicht gut, sie zu stören. Omar sollte das wissen.«

Und wieder lief Robin ein eiskalter Schauer über den Rücken: Ein Schrecken hatte sich mit Haruns Worten in ihre Seele geschlichen, der sie langsam zu vergiften begann. Sie versuchte vergeblich, die Worte des Tanzlehrers als das zu werten, was sie vermutlich darstellten: Geschichten, mit denen Männer beim Wein im Gasthaus prahlten oder wie sie Mütter ihren kleinen Kindern abends am Feuer erzählten, damit sie nicht auf die Idee kamen, nachts heimlich das Haus zu verlassen.

Zweifellos war nichts daran. Robin glaubte nicht an Geister, und schon gar nicht passten magische Flüche in ihr Weltbild. Dennoch machte ihr der klobige schwarze Schatten, der in der Dunkelheit vor ihnen emporwuchs, plötzlich Angst.

Ihr Gefühl wurde nicht besser, als sie die Ruine der uralten Festung endlich erreichten. Wie ein gewaltiger, von Menschenhand erschaffener Berg erhob sich ein riesiges Mauerngeviert mit eingefallenen Ecktürmen vor ihnen in den Himmel, scheinbar ebenso hoch und ungleich beeindruckender. Aus der Nähe betrachtet und im flackernden Licht der Fackeln wirkte die Festung zwar ebenso alt und zerfallen wie die Stadt, über die sie einst gewacht hatte, aber noch immer Ehrfurcht gebietend.

Die Spitze der Kolonne ritt durch ein gewaltiges Bogentor, das fast unbeschädigt geblieben war und von zwei halbrunden Türmen flankiert wurde, die einen Großteil ihrer Zinnen eingebüßt hatten. Der Torbogen, der mit prächtigen, wenngleich ebenfalls verwitterten Steinmetzarbeiten geschmückt war, spannte sich mindestens drei oder vier Manneslängen über ihnen. Selbst ein Reiter mit aufgepflanzter Lanze hätte keine Mühe gehabt, ihn zu passieren.

Als Robin darunter hindurchritt, bemerkte sie die schreckliche Zerstörung in den einstmals kunstvoll gearbeiteten Reliefs: Die Köpfe sämtlicher Figuren waren zerschmettert. Was mochten die Bewohner dieses Palastes getan haben, dass sie einen solchen Zorn auf sich gezogen hatten? Warum hatte man nicht einmal ihre Steinbilder unversehrt gelassen? Schaudernd fragte sich Robin, wer diese Festung mitten in der Wüste erbaut hatte und wer sie erobert haben mochte. Jetzt verstand sie auch Haruns Worte und die besorgten Blicke, die er nach rechts und links warf.

Aber Geister hin oder her, sie waren nun einmal hier und die gewaltigen Mauern, die sie umgaben, boten wenigstens Schutz vor dem schneidenden Wind, der die vergangenen Nächte zur Qual gemacht hatte. Robin ließ ihr Kamel weitertrotten und wartete, bis sich das Tier von selbst einen Platz gesucht hatte und sich auf seine umständliche Art zu Boden sinken ließ.

Müde kletterte sie aus dem Sattel und sah sich nach Harun um. Sonderbarerweise war er verschwunden, als hätte er sich einfach in den Schatten aufgelöst, kaum dass sie durch das gewaltige Tor geritten waren. Aber dann hörte sie seine weinerliche Stimme irgendwo weiter hinten auf dem Hof und trotz allem stahl sich ein müdes Lächeln auf ihre Lippen, als sie heraushörte, dass er sich wieder einmal über die schlechte Verpflegung und die respektlose Behandlung, die man seiner Person angedeihen ließ, beschwerte.

Als Haruns Klagen verhallt waren, schlurfte Robin mit hängenden Schultern dorthin, wo Saila und Nemeth sich einen Schlafplatz gesucht hatten. Wie sich zeigte, war ihre Sorge um die beiden völlig unbegründet gewesen. Saila wirkte so müde und ausgelaugt wie alle hier, aber die Energie ihrer Tochter war ungebrochen. Sie stürmte auf Robin zu, breitete die Arme aus und hätte sie wohl von den Füßen gerissen, hätte ihre Mutter sie nicht im allerletzten Moment mit einem scharfen Befehl zurückgerufen.

Robin schenkte Saila ein rasches, dankbares Lächeln, wandte sich ganz zu Nemeth um und widerstand im letzten Moment dem Impuls, sich in die Hocke sinken zu lassen, um mit dem Mädchen zu reden. Sie war nicht ganz sicher, ob sie die Kraft gehabt hätte, sich wieder aufzurichten.

»Sind wir da?«, sprudelte Nemeth hervor. »Ist das unser neuer Palast?«

Im ersten Moment war Robin so verblüfft, dass sie gar nicht antwortete. Nemeth wollte sie nicht auf den Arm nehmen, sondern stellte diese Frage allen Ernstes. Für sie war diese zerfallene Ruine ein Palast, vielleicht, weil sie - mit Ausnahme von Omar Khalids Haus - noch nie ein Gebäude solcher Größe aus der Nähe gesehen hatte. »Ich fürchte, nein«, sagte sie schließlich. »Ein kleines Stück werden wir wohl noch reiten müssen. Aber für heute ist es genug.«

Nemeth machte ein enttäuschtes Gesicht, dem man aber zugleich auch ansah, wie aufregend sie diese Umgebung trotz allem fand. Robin spürte jedoch auch den Blick ihrer Mutter. Sie sah hoch.

»Das hier ist also Qasr al-Hir al-Gharbi«, murmelte Saila. Robin nickte, und die Furcht in den dunklen Augen der Araberin bekam neue Nahrung. Aber sie sagte nichts, sondern blickte nur einen Moment stumm auf ihre Tochter hinab und drehte sich dann weg, um das Gepäck von ihrem Kamel zu laden.

»Ach, verzeiht, Herrin«, sagte Nemeth aufgeräumt. »Ich habe ja noch gar nicht angefangen, mich um Euer Essen zu kümmern. Ich bin eine schlechte Dienerin.«

»Du bist die beste, die ich mir nur wünschen kann«, antwortete Robin. »Und was das Essen angeht, zerbrich dir nicht den Kopf. Ich bin nicht hungrig.«

»Aber Ihr müsst etwas essen«, beharrte Nemeth. »Ich werde Euch sofort etwas holen.«

Der Gedanke, Nemeth allein hier herumlaufen zu lassen, gefiel Robin nicht, aber sie hielt das Mädchen auch nicht zurück, als es davonstürmte. Was sollte schon passieren? So weit sie sehen konnte, war der Burghof an allen Seiten von Mauern umschlossen, an die sich die Reste halb zerfallener Ställe, Schuppen und anderer Gebäude lehnten. Überall waren Omar Khalids und Mussas Männer damit beschäftigt, ihre Kamele zu entladen, Feuer zu entzünden oder andere Vorbereitungen für die Nacht zu treffen. Eine Hand voll fremder Söldner war bereits auf dem Weg nach oben, um auf den zerstörten Wehrgängen Posten zu beziehen. Bei all diesen Menschen würde Nemeth kaum verloren gehen.

Sie kehrte wieder zu ihrem Kamel zurück und lehnte sich mit untergeschlagenen Beinen gegen den Sattel des Tieres. Sie wünschte, sie könnte auf der Stelle einschlafen. Aber es ging nicht. Eine Art innere Anspannung hinderte sie gerade jetzt daran, wo ihr nicht mehr die Gefahr drohte, dass sie aus dem Sattel fiel und sich den Hals brach. Vielleicht lag es daran, dass jetzt nicht nur ihre Kehle schmerzte, sondern auch ihr Kopf dröhnte und ihr Magen zu knurren anfing - auch wenn sie gerade noch geglaubt hatte, nicht hungrig zu sein. Irgendwie hatte sie immer noch das Gefühl, dass die Welt im Takt eines schaukelnden Kameles von links nach rechts und wieder zurückkippte.

Sie musste aber doch eingeschlafen sein, denn plötzlich stand Omar wie aus dem Boden gewachsen neben ihr. Nur ein kleines Stück von ihm entfernt brannte ein Feuer, an dem Saila kniete und mit steinernem Gesicht in einem Suppenkessel rührte. Ihre Augen waren leer. Sie vermied es fast krampfhaft, den Mann anzusehen, der sie und ihre Familie in die Sklaverei verschleppt hatte.

»Komme ich ungelegen, holde Wüstenblume?«, fragte Omar aufgeräumt.

Weniger die Worte als vielmehr der entspannte, fast fröhliche Ton, in dem er die Frage stellte, ließen Robin müde den Kopf heben und in sein Gesicht hinaufsehen. Sie bemerkte, dass Omar nicht allein gekommen war. Hinter ihm stand sein Leibwächter, wie immer stumm und lautlos und in der Nacht fast unsichtbar wie ein Schatten, und ein Stück neben diesem erkannte sie Mussa, den Söldnerführer.

Robin hätte nichts lieber getan, als seine Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten - sie war so entsetzlich müde wie wohl noch nie zuvor in ihrem Leben -, aber da war etwas in Omars Blick, was sie neugierig machte. Sie deutete ein Kopfschütteln an und wollte aufstehen, aber Omar winkte ab und ließ sich ihr gegenüber im Schneidersitz nieder. Mussa tat es ihm gleich, während Omars Leibwächter wie eine Statue aus gemeißeltem Schwarz reglos stehen blieb.

»Du bist doch sicher durstig?«

Der Sklavenhändler reichte Robin einen Becher. Sie griff automatisch danach und trank gierig einen großen Schluck, ohne auch nur nachzudenken. Im nächsten Moment hustete sie und hätte die kostbare Flüssigkeit um ein Haar wieder herausgesprudelt, denn es war kein Wasser, sondern süßer, klebriger Dattelwein. Sie spürte jedoch Omars amüsierte Blicke, würgte den Schluck tapfer herunter und trank auch noch den Rest, der sich im Becher befand, ehe sie ihn zurückreichte.

»Danke«, sagte sie. »Aber verbessert mich, wenn ich mich irre, edler Omar Khalid: Verbietet Allah nicht den Genuss von Alkohol?«

Mussas Gesicht verdüsterte sich, aber Omar lachte nur leise. »Normalerweise schon«, sagte er. »Aber wir sind hier im Niemandsland. Ich werde morgen ein zusätzliches Gebet sprechen und um Vergebung bitten, und ich glaube, dass Allah und der Prophet Verständnis haben werden. Außerdem haben wir etwas zu feiern.«

»Ach?«, fragte Robin.

»Durchaus.« Omar nickte aufgeräumt, setzte den Becher an die Lippen und machte ein enttäuschtes Gesicht, als er feststellte, dass er leer war. Sein Leibwächter wollte sich vorbeugen und die Hand ausstrecken, aber Omar lehnte ab und winkte Nemeth herbei. »Du da, Mädchen!«

Nemeth kam gehorsam heran, wich seinem Blick aber genauso aus wie ihre Mutter und starrte voller Unbehagen auf ihre nackten Zehenspitzen.

»Geh zu meinem Kamel und sag dem Mann, der es bewacht, er soll den Becher wieder auffüllen«, befahl Omar, während er Nemeth das tönerne Trinkgefäß in die Hand drückte. »Und gib Acht, dass du nichts davon verschüttest. Lauf langsam!«

Nemeth verschwand wie der Blitz und Omar drehte sich wieder zu Robin herum. Er setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, als er abermals den Kopf wandte, diesmal aber in Richtung des Feuers, das Saila entfacht hatte. »Was kochst du da, Weib?«

»Eine Suppe«, antwortete Saila. »Ich fürchte, sie wird Euren Ansprüchen nicht genügen, aber wir müssen mit unseren Vorräten haushalten.«

»Du bist zu bescheiden«, antwortete Omar. »Sie riecht jedenfalls köstlich.«

»Und vermutlich schmeckt sie genauso gut«, sagte Robin. »Saila ist eine hervorragende Köchin. Ich muss mich noch einmal bei Euch bedanken, dass Ihr sie mir geschenkt habt.«

Saila fuhr bei diesen Worten fast unmerklich zusammen und auch Omar wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte sie einen Herzschlag lang aus zusammengekniffenen Augen an. Der Blick des Söldnerführers wanderte mehrmals und erwartungsvoll zwischen Omar Khalid und Robin hin und her, aber der Sklavenhändler ging auf Robins Bemerkung nicht ein, sondern zuckte schließlich nur mit den Schultern.

»So, wie es duftet, wirst du wohl Recht haben«, sagte er. »Bring mir einen Teller von deiner Suppe, Sklavin!«

Saila gehorchte und brachte Omar eine Schale der dünnen, scharf riechenden Gemüsesuppe sowie einen hölzernen Löffel. Der Sklavenhändler kostete, verzog das Gesicht - die Suppe war heiß - und nickte dann anerkennend.

»Die Ungläubige hat Recht«, sagte er im Tonfall gespielter Überraschung. »Es schmeckt ganz ausgezeichnet. Es ist erstaunlich, wie gut manchmal gerade die einfachen Dinge des Lebens sind, wenn man sie nur lange genug vermisst.« Er wedelte mit der freien Hand. »Bring Mussa und meinem Begleiter auch eine Schale. Und Brot dazu.«

Saila gehorchte, immer noch schweigend und weiterhin bemüht, jeden Blick in Omars Richtung zu vermeiden. Omar Khalids Leibwächter, Mussa und als Letzte auch Robin bekamen eine Schale Suppe. Robin registrierte matt, dass der Topf über dem Feuer damit leer war. Saila selbst und Nemeth würden an diesem Abend mit knurrendem Magen schlafen gehen. Sie sagte nichts dazu. Omar hatte seine beiden Begleiter zweifellos aus keinem anderen Grund aufgefordert, von der Suppe zu essen, als um genau das zu erreichen und Robin damit zu treffen. Sie würde ihm zu allem Überfluss nicht auch noch die Genugtuung geben, sich anmerken zu lassen, wie gut sein Plan aufgegangen war.

»Sagtet Ihr nicht, es gäbe einen Grund zu feiern?«, fragte Robin, als sie zu Ende gegessen hatten und Saila die Gelegenheit nutzte, die schmutzigen Schüsseln fortzutragen und sich dabei unauffällig zurückzuziehen.

»Mussa hier hat eine wahre Meisterleistung vollbracht«, antwortete Omar. Er lachte, schlug dem kleineren Mann derb auf die Schulter und lachte noch lauter, als Mussa das Gesicht verzog und ihm einen drohenden Blick zuwarf. »Ich übertreibe nicht! Wir sind weit abseits aller üblichen Karawanenrouten und sogar abseits der kärgsten Weidegebiete wandernder Beduinenstämme. Einen Weg hierher zu finden, und dabei nicht einen einzigen Mann und nicht ein einziges Tier zu verlieren, das ist schon eine Leistung. Dieser Tag ist es durchaus wert, ein Fest zu feiern. Wir sind in Sicherheit. Niemand wird uns hierher folgen.«

»Wegen der Geister, die hier leben?«

Omar wirkte für einen Moment verblüfft, aber dann lachte er. »Ah, ich verstehe. Du hast mit Harun al Dhin gesprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wegen der Geister. Aber wir haben heute im Laufe des Nachmittags einen Punkt überschritten, jenseits dessen uns die Assassinen nicht mehr gefährlich werden können.«

»Wieso?«

»Weil wir viel zu tief in der Wüste sind«, antwortete Omar. »Wir sind in der heißesten Jahreszeit überhaupt unterwegs. Und es gibt in weitem Umkreis kein Wasserloch, keinen Brunnen und erst recht keinen Fluss mehr, der Wasser führt. Pferde, wie sie die Assassinen benutzen, sind nicht so ausdauernd wie unsere Kamele. Sie ertragen die Hitze nicht so gut und brauchen regelmäßig Wasser. Nur wenn unsere Verfolger bis spätestens zur Mittagsstunde nach Westen abgebogen sind, dürfen sie überhaupt noch hoffen, dass ihre Pferde dem Wüstentod entgehen. Und damit sie selbst.«

»Aha«, sagte Robin. »Und wenn die Assassinen keine Pferde haben, sondern Kamele?«

»Kaum«, antwortete Omar lächelnd. Er warf Mussa neben sich einen fast verschwörerischen Blick zu. »Ich habe dafür gesorgt, dass jedermann in der Karawanserei in Hama wusste, dass wir auf dem Weg nach Damaskus sind. Eine Route, auf der man keine Kamele braucht. Ganz im Gegenteil: Eine Schar von Reitern hätte uns auf dieser Strecke mit Leichtigkeit einholen können.«

»Aber sie müssen doch gemerkt haben, dass sich die Karawane nicht auf dem Weg nach Damaskus befindet.«

»Nicht sofort«, antwortete Omar. »Später vielleicht. Wahrscheinlich sogar - die Assassinen sind nicht dumm. Aber nachdem wir den Orontes überquert haben und in die Wüste geritten sind, befanden wir uns in einer Gegend, in der es nur noch kleine Dörfer gibt. Dort bekommt man vielleicht Esel, vielleicht auch ein paar alte Klepper, die gerade noch zur Arbeit auf dem Feld gut sind, aber kaum Kamele. Sie hätten also nach Hama zurück oder sogar nach Homs reiten müssen, um sich Kamele zu besorgen, und dann wieder zurück bis an die Furt, um unsere Spur aufzunehmen. Wir sind so oder so in Sicherheit.«

»Aber wenn sie den Plan durchschauen...?«

Omar lachte leise auf. »Wenn sie unseren Plan durchschaut und sich Kamele besorgt haben, müssen sie mindestens einen Tag verloren haben, und damit auch unsere Spur. Und falls sie uns immer noch folgen, dann werden wir in Palmyra das Verwirrspiel noch einmal wiederholen. Ich werde erneut nach Süden reiten und das Gerücht verbreiten lassen, ich wäre auf dem Weg nach Damaskus. Im Sandmeer der Wüste werden wir dann einen weiten Bogen schlagen und unserem wirklichen Reiseziel weit oben im Norden entgegenstreben. Ein halber Tag in der Wüste reicht, um die Spuren selbst einer so großen Karawane wie der unseren im Sand zu verwischen. Dann ist es, als würdest du einen Feind über das Salzmeer verfolgen. Du hast keine Fährte, und wenn du ihn finden willst, dann kannst du allein auf Allahs Hilfe vertrauen.« Omar grinste. »Oder darauf, dass du vielleicht sein wirkliches Reiseziel kennst.«

»Und welches wäre das?«, fragte Robin.

Der Sklavenhändler schüttelte lächelnd den Kopf. »Das weiß nur ich allein. Nicht einmal Mussa kennt das Ziel unserer Reise. Es ist besser so, zumindest bis sicher ist, dass die Assassinen ihre Verfolgung endgültig aufgegeben haben.«

»Und wenn Ihr Euch täuscht?«, fragte Robin. »Wie könnt Ihr so sicher sein, dass die Assassinen sich nicht mit ein paar wenigen Kamelen begnügen?«

»Wir sind mehr als fünfzig«, gab Mussa zu bedenken.

Robin schüttelte den Kopf. »Es heißt doch, sie sind so unbesiegbare Kämpfer.«

Der Söldnerführer stieß verächtlich die Luft aus. »Das mögen sie sein«, antwortete er. »Aber ihre Macht beruht vor allem auf der Furcht, die sie in die Herzen der Menschen streuen. Sie sind keine Dschinn. Sie sind einfach nur Männer aus Fleisch und Blut.«

Robin dachte an die Geschichten, die Naida über die Hashashin erzählt hatte, und vor allem an das, was Omar und sie selbst erlebt hatten. Mussa schien ihre Zweifel zu bemerken, er schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Als kleiner Junge habe ich selbst gesehen, wie sich die Straßen von Damaskus rot vom Blut der Assassinen gefärbt haben. Der neue Atabeg von Damaskus, Tadsch el-Mulk Buri, gab gleich zu Beginn seiner Herrschaft den Befehl, jeden Assassinen zu töten, dessen man habhaft werden konnte, und er wurde ausgeführt. Glaub mir, wenn man sie schneidet, dann bluten sie wie du und ich, Christenweib.«

»Dessen man habhaft werden konnte«, erinnerte ihn Robin an seine eigene Formulierung.

Für einen Moment sah es so aus, als würde Mussa wütend werden. Wahrscheinlich war er es, denn er war es ganz gewiss nicht gewohnt, Widerworte von einer Frau, noch dazu von einer christlichen Sklavin, zu hören. Aber Omars Gegenwart hielt ihn wohl davon ab, das zu sagen oder zu tun, wonach ihm wirklich war. Er hob die Schultern.

»Möglich, dass es einige auserwählte Assassinen mit besonderen Fähigkeiten gibt«, räumte er ein. »Die meisten jedoch sind nichts Außergewöhnliches. Sollen sie nur kommen - ich habe vor einer Hand voll verrückter Selbstmörder keine Angst. Wir sind hier in einer Festung, und am Tag wieder in der Wüste. Das ist nicht die Welt, in der die Assassinen kämpfen. So tödlich ein Einzelner von ihnen sein mag, wenn er bereit ist, sein Leben zu opfern, um sein Ziel zu erreichen, so wenig kann er gegen eine ganze Karawane ausrichten. Und eine ganze Gruppe von ihnen noch viel weniger, denn sie sind Meuchelmörder und Attentäter, keine schlachtenerprobten Krieger wie meine Männer.«

Es lag Robin auf der Zunge zu fragen, warum Mussa dann nicht einfach gegen die Assassinen in den Krieg zog und sie auslöschte, um eine fürstliche Belohnung von Omar einzufordern. Aber der Blick des Sklavenhändlers, den sie auffing, machte ihr klar, dass sie schon viel zu weit gegangen war. Mussa stand in Omars Diensten und würde sich daher hüten, irgendetwas Unbedachtes zu tun. Aber er war auch ein unberechenbarer Mann, und es brachte nichts ein, ihn noch weiter zu reizen.

»Wenn es so ist, dann können wir uns in Eurer Obhut ja alle sicher fühlen«, sagte sie.

Die Worte waren Robin herausgerutscht. Sie merkte sofort, dass sie Mussa erzürnt hatte. In seinen Augen blitzte es auf, und sie sah, wie sich seine Gestalt versteifte.

»Das ist wahr«, sagte Omar fast hastig. Auch ihm war nicht entgangen, wie heftig der Söldnerführer auf Robins Worte reagiert hatte. Er erhob sich. »Würdest du ein paar Schritte mit mir gehen, Robin? Ich würde dir gern etwas zeigen.«

Robin war eigentlich viel zu müde, um aufzustehen, aber sie war auch froh, auf diese Weise aus Mussas Nähe zu entkommen. Der Mann wurde ihr mit jedem Augenblick unheimlicher. Darüber hinaus würde ihr Omar ja vielleicht doch das Ziel ihrer Reise nennen, wenn sie unter vier Augen waren. Vielleicht würde er sogar verraten, wen er als neuen Käufer für sie ins Auge gefasst hatte.

Sie nickte. Als sie umständlich aufstand, streckte Mussa den Arm aus, um ihr zu helfen, aber sie beachtete ihn nicht. Mussas Gesicht verdüsterte sich noch mehr, er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und verschwand mit raschen Schritten in der Nacht. Omar sah ihm kopfschüttelnd nach, sparte sich aber zu Robins Erleichterung jede Bemerkung.

Der Sklavenhändler fischte einen brennenden Ast aus dem Feuer und wies mit einer einladenden Geste in die Nacht hinein. Sie setzte sich gehorsam in Bewegung. Auch Omars Leibwächter wollte ihnen folgen, aber der Sklavenhändler schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich brauche dich jetzt nicht, Faruk«, sagte er. »Wirf ein Auge auf Mussa. Ich traue ihm nicht.«

Robin war jetzt wirklich erstaunt. Omar war zurzeit nie ohne seinen Schatten zu sehen. Hatte sie Grund, beunruhigt zu sein?

Er führte sie quer durchs Lager und an den zum Großteil bereits schlafenden Kriegern vorbei. Robin fiel auf, dass seine und Mussas Männer sich nicht gemischt hatten. Die Krieger des Sklavenhändlers bildeten in der Mitte des weitläufigen Hofes eine kleine Gruppe, die ihrerseits von der deutlich größeren Anzahl Söldner eingekreist war. Das Bild war nicht ganz eindeutig. Robin hätte in diesem Moment nicht zu sagen vermocht, wer nun wen beschützte und wer wessen Herr oder Gefangener war.

Omar zumindest schien das im Moment auch nicht zu interessieren. Das brennende Holz wie eine Fackel erhoben, sodass ihnen ein stetiger Schauer winziger roter Funken folgte, führte er sie zu einem verfallenen Gebäude, das nur noch aus wenigen Wänden und Torbögen bestand, die auf spiralförmig gedrehten Säulen ruhten. Es gab keine Decke mehr, sondern nur den Nachthimmel, der mit Tausenden winziger, leuchtender Diamanten übersät zu sein schien. Es war kalt.

Nachdem sie das Gebäude betreten hatten, blieb Omar stehen, drehte sich zu ihr herum. Er sah sie auf eine Art an, die Robin erschauern ließ. Sie fragte sich, ob sie Grund hatte, sich Sorgen zu machen. Trotz allem hatte sich Omar ihr gegenüber bisher als ein Mann von Ehre erwiesen, aber wie er gerade selbst gesagt hatte: Sie waren weit weg von allem, irgendwo im Nichts, an einem Ort, der vielleicht nicht einmal von Gott bewohnt war. Sie gab sich Mühe, sich nichts von ihren Gefühlen anmerken zu lassen. Aber ganz schien es ihr nicht zu gelingen, denn plötzlich trat ein verzeihendes Lächeln auf Omars Lippen, als erahnte er ihre Gedanken.

Und nicht zum ersten Mal registrierte Robin voller Schrecken, dass unter all dem Hass und all der Verachtung, die sie für diesen Mann empfand, noch etwas anderes war. Ein Gefühl, das sie am liebsten verbannt hätte, das jedoch vom allerersten Moment vorhanden gewesen war und langsam wuchs, ob sie es nun wollte oder nicht.

»Warum... habt Ihr mich hierher geführt, Herr?«, fragte sie stockend.

»Ich wollte dir das hier zeigen.« Omar hob seine Fackel und drehte sich langsam einmal im Kreis, sodass der flackernde rote Lichtschein auf die kunstvollen Reliefs und Bildhauerarbeiten fiel, mit denen die Wände geschmückt waren. Anders als draußen am Tor waren die Gesichter der abgebildeten Gestalten nicht gewaltsam zerschlagen worden. Die einzige Zerstörung, die sie sah, hatte die Zeit angerichtet.

»Ist das nicht wunderbar?«, fragte Omar.

Im ersten Moment überraschte Robin diese Frage. Wenn sie irgendetwas von Omar nicht erwartet hätte, dann wäre es Sinn für Schönheit oder Kunst. Doch nachdem sie neben ihn trat und die in die Wände gemeißelten Bilder etwas genauer betrachtete, musste sie ihm Recht geben. Trotz der Spuren, die die Jahrhunderte unübersehbar hinterlassen hatten, blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass sie selten Arbeiten von größerer Kunstfertigkeit gesehen hatte.

»Das hier sind die Ruinen von Qasr al-Hir al-Gharbi«, sagte Omar mit veränderter, sonderbar ehrfürchtig klingender Stimme. »Heute sieht man es ihnen vielleicht nicht mehr an, aber einst war das hier ein prächtiger Palast. Er ist uralt und wurde von einem der ersten Kalifen errichtet, Hisham. Einem Herrscher aus dem Geschlecht der Omayyaden. Es heißt, sie hätten sich noch darauf verstanden, die Dschinn der Wüste und andere Geister zu rufen.«

Robin wurde immer verwirrter. Worauf wollte Omar hinaus? Hatte er sie mitten in der Nacht hierher geführt, um ihr Geschichtsunterricht zu erteilen?

»Komm!« Omar wedelte aufgeregt mit der Hand und führte sie zu einer Mauer, auf der man die leuchtenden Farben eines uralten Freskos erkennen konnte. Das Bild zeigte einen Mann mit einem spitzen Bart und einem Turban, bekleidet mit einem mit Gold und Perlen bestickten Kaftan und den üblichen, Robin immer noch etwas albern anmutenden Schuhen mit nach oben gebogenen Spitzen. Die Gestalt kniete vor einer Frau nieder, die ein schlichteres, dunkles Gewand und ein Kopftuch trug. Sie war unverschleiert, was sehr ungewöhnlich war, und ihr Gesicht war fein geschnitten, mit vollen Lippen und großen, dunklen Augen. Sie war eindeutig keine Araberin.

»Wer ist das?«, hörte sich Robin fast gegen ihren Willen fragen.

»Einst«, begann Omar, während er langsam seine Fackel schwenkte, sodass Licht und Schatten über das Fresko huschten und die uralten Bilder und Linien zu Leben zu erwecken schienen, »reichte die Macht des Kalifen Hisham von den Bergen, die die Welt tragen, bis zu den christlichen Königreichen, die weit im Westen hinter der Meerenge liegen. Er war mächtiger als jeder andere seiner Zeit. Der Segen des Propheten lag auf seiner Sippe. Selbst die Fürsten der Geister neigten ihr Haupt vor Hisham dem Gewaltigen. Es gab niemanden auf der Welt, dem er nicht befehlen, und nichts, was er nicht besitzen konnte. Gern ging er mit seinen Freunden auf ausgedehnte Jagdausflüge, und einmal, als sie einem Löwen nachstellten, der in die Wüste geflohen war, stießen sie auf ein Lager wandernder Beduinen. Ein armseliges Zeltlager, zu dem nur eine kleine Herde gehörte. Und doch fand Hisham hier den größten Schatz, dem er je begegnete.«

Er schwenkte die Fackel zurück, sodass das Licht nun auf der unverschleierten Frauengestalt ruhte.

»Es war Melikae, die Tochter des Scheichs Bahram. Sie war von solcher Schönheit, dass neben ihr selbst die Sonne verblasste. Hisham umwarb sie, doch sie, die ihr Leben nur im Wüstensand und unter Ziegen und Schafen verbracht hatte, wies ihn zurück. Hisham hätte mit einer Handbewegung für jeden der Männer des Scheichs Bahram hundert seiner Krieger aufbieten können, und er hätte vermocht, sich mit Gewalt zu holen, was er wollte, aber er tat es nicht. Er wollte Melikaes Herz gewinnen.«

»Dann war er ein sehr ungewöhnlicher Mann«, sagte Robin.

Omar schüttelte den Kopf, während er das Bildnis der vor Jahrhunderten verstorbenen Melikae ansah. »Oh, so ungewöhnlich nun wieder nicht. Ich glaube, er war eher ein sehr kluger Mann. Nur Dummköpfe glauben, dass sie sich alles mit Gewalt nehmen können, nur weil sie in der Lage dazu wären. Was nutzt dir der größte Schatz, den du dir mit Gewalt nimmst, wenn du das kleine Geschenk, das du haben möchtest, nie bekommst?«

Das war deutlich, dachte Robin, doch vermied sie es, Omars Geschichte zu deuten.

Der Sklavenhändler wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort, dann fuhr er mit seiner Erzählung fort: »Unglücklich kehrte er in seinen Palast zurück. Doch seit er Melikae erblickt hatte, vermochte er keine Schönheit ohne Makel mehr zu sehen, denn er hatte Vollkommenheit erblickt, das Reinste und Edelste, was Allah in seiner Weisheit je erschaffen hat, und so musste ihm von nun an alles andere fade und hässlich erscheinen. In seinem Unglück ritt er in die Einsamkeit der Wüste hinaus. Dort traf er einen alten Mann, den die Weisheit Allahs erleuchtet hatte, und klagte ihm sein trauriges Los. Der Alte hörte ihm geduldig zu, dann erklärte er ihm, Melikae hätte wohl allein aus Angst das Werben des Kalifen ausgeschlagen. Das Volk der Wüste sei seltsam und anders als alle anderen Menschen. So, wie normale Männer es nicht überleben, wenn sie sich zu lange dem Atem der Wüste aussetzen, so können Beduinen nicht in Städten leben. Sie würden dort eingehen, wie eine Blume, der man das Wasser verwehrt.

Darauf ritt Hisham noch tiefer in die Wüste und nutzte seine Macht, um den König der Dschinn herbeizurufen. Und von diesem verlangte er, dass er einen Palast mit Gärten inmitten der Wüste erschaffen solle, damit er, Hisham, einen Palast habe, von wo aus er regieren könne, wie es sich für den Beherrscher aller Gläubigen gezieme, und zugleich Melikae ihre geliebte Wüste nicht verlassen müsste. Der König der Dschinn willigte ein. Doch Hisham musste - wie jeder, der einen Handel mit den Geistern abschließt - einen Preis entrichten.

Und sein Preis war, dass von nun an jeder mit falscher Zunge von ihm und seinen Taten reden würde. Alles Gute, was er bewirkt hatte, sollte als verwerflich empfunden werden, seine Gnade aber als Grausamkeit. Ein wahrhaft hoher Preis, doch Hisham dachte sich, dies sei ein geringes Übel, verglichen mit dem Glück, das aus seiner Liebe zu Melikae erwachsen würde. Also kehrte Hisham in das Lager der Beduinen zurück und bat Melikae, ihm ein Stück weit in die Wüste zu folgen. Dort zeigte er ihr den wunderbaren Palast mit Kuppeln im zarten Blau des Morgenhimmels, Säulen weiß wie Elfenbein und Gärten so weitläufig, dass man sie an einem Tag nicht ganz durchwandern konnte. Und er erklärte ihr feierlich, all dies bedeute ihm nichts im Vergleich zu ihrer Schönheit, und er wolle ihr den Palast und die Gärten schenken und sei der glücklichste Mann auf Erden, wenn sie dort an seiner Seite leben würde. Doch wenn sein Anblick ihr unerträglich sei und sie in ihrem Herzen keine Liebe für ihn empfinden könnte, dann wollte er dorthin ziehen und sie nie wieder mit seinem Liebeswerben behelligen.

Daraufhin gestand Melikae ihm, dass auch sie vom ersten Augenblick an von seiner Schönheit und Kraft gerührt gewesen sei, doch Angst gehabt habe, ihm in die Stadt zu folgen, denn von alters her sei es so, dass das Volk der Wüste dort vergehen müsse. Doch nicht den eigenen Tod hätte sie gefürchtet, sondern ihre schlimmste Angst sei es gewesen, den Beherrscher aller Gläubigen nach ihrem allzu frühen Tod mit gebrochenem Herzen zurückzulassen.

Nachdem nun auch Melikae ihm ihre Liebe eingestanden hatte, feierten die beiden Hochzeit, und sie lebten in vollkommenem Glück. Doch mit der Zeit berichtete man dem Kalifen, wie sich sein Volk gegen ihn empörte, und dass man ihn einen Ungläubigen und einen Tyrannen nannte. So weit kam es, dass sich sein eigener Bruder gegen Hisham erhob und den Thron in Bagdad forderte. So musste Hisham schließlich sein verwunschenes Schloss in der Wüste verlassen und zog mit einer großen Heeresmacht gegen seinen eigenen Bruder.

Vor den Toren von Bagdad kam es zur Schlacht und so gewaltig waren die Heerscharen, die die verfeindeten Brüder ins Feld führten, dass die Kämpfe drei Tage und Nächte dauerten und es lange ungewiss blieb, wer als Sieger hervorgehen würde. In der Hitze der Schlacht verlor Hisham sogar das grüne Banner des Propheten, das stets an der Seite des Kalifen in den Kampf getragen wird. Dies sah Bahram, der Vater Melikaes, und voller Verzweiflung, weil er alles verloren glaubte, kehrte er in die Wüste zurück und berichtete seiner Tochter, das Banner des Propheten sei gefallen und der Kalif von Verrätern erschlagen.

Wie von Sinnen vor Schmerz zerriss sich Melikae ihre seidenen Gewänder und flüchtete in den Garten, den Hisham ihr geschenkt hatte. Nur wenigen Stunden nach Bahram trat der siegreiche Hisham in seinen Palast ein, und als er hörte, was geschehen war, da lief er voller Angst in die Gärten und suchte nach seiner Geliebten. Er fand sie bei einer Quelle, an der ein Rosenbusch wuchs. Sie hatte sich einen goldenen Dolch ins Herz gestoßen, und ihr Blut hatte sich mit dem kristallklaren Wasser vermengt.

Es heißt, dass auch Hisham starb, als er seine tote Geliebte in den Armen hielt, und auch, wenn sein Körper noch lange auf Erden wandelte, so war er doch nicht mehr er selbst. Er sandte das grüne Banner des Propheten seinem Bruder und überließ ihm auch den Thron in Bagdad. Dann sammelte er seine Getreuen um sich und wählte sich als neues Feldzeichen ein schwarzes Banner, und schwarz waren auch die Gewänder, die er und seine Krieger von nun an trugen. Sie zogen Richtung Abend und drangen bis tief in die Königreiche der Franken ein. Doch obwohl Hisham stets dort focht, wo die Schlacht am blutigsten war, fand kein Speer, kein Schwert und kein Pfeil sein Herz, um ihm endlich Frieden zu schenken.

Und als er begriff, dass der Tod nur jene aufsuchte, die an seiner Seite ritten, fanden seine Getreuen an einem Morgen sein Zelt leer, und niemand weiß, wohin Hisham gegangen ist. Nur manchmal erzählen Reisende, die mit knapper Not dem Wüstentod entronnen sind, sie hätten dort, wo die Wüste am tödlichsten für einen Menschen ist, wo es nicht einmal mehr Schlangen und Skorpione gibt, in der Ferne einen schwarz gewandeten Reiter gesehen. Einen alten Mann mit unendlich traurigem Gesicht, der ihnen in der Stunde zwischen Leben und Tod verraten habe, wo sie Wasser finden könnten.«

Omar war zu Ende gekommen und schwieg. Für eine Weile breitete sich eine sonderbare, fast vertraute Stille zwischen ihnen aus, als hätte Omar mit dieser kleinen Geschichte eine Tür zwischen ihnen aufgestoßen, deren Vorhandensein Robin ganz tief in sich stets gespürt, die zu sehen sie sich aber stets geweigert hatte. Alles in ihr sträubte sich gegen die Einsicht, aber sie konnte nicht anders: Sie hasste und verabscheute Omar noch immer, aber zugleich begriff sie, dass er trotz allem auch ein sehr empfindsamer Mann war, jemand, der Liebe und Vertrauen brauchte wie andere Menschen auch und der vielleicht sogar in der Lage war, das Gleiche zu geben.

»Das ist... eine sehr traurige Geschichte«, sagte sie endlich. »Aber auch eine sehr schöne.«

Omar nickte. Er schwieg. Er sah sie immer noch nicht an.

»Warum habt Ihr sie mir erzählt?«

»Dies sind die Ruinen von Qasr al-Hir al-Gharbi, dem Palast, den Hisham einst der wunderschönen Melikae schenkte«, antwortete Omar, »Und so, wie der Zauber Melikaes einst das Herz Hishams berührt hat, so hat auch vielleicht der Zauber eines kleinen Christenmädchens das des Mannes berührt, der sich selbst bisher für hart und unberührbar gehalten hat.«

Robin schloss die Augen. Sie hasste sich dafür, dass ein Teil von ihr von Anfang an auf genau diese Worte gewartet hatte.

Omar drehte sich zu ihr herum. Er ließ die Fackel sinken und sah ihr ruhig in die Augen. »Vom allerersten Moment an, in dem er sie in einem kleinen Fischerdorf an der Küste gesehen hat.«

»Omar Khalid, Ihr seid...«

»Ich weiß, was ich bin«, unterbrach sie Omar - weder in zornigem noch in herrischem Ton, sondern leise und fast bedauernd. Und traurig. »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, wenn es das ist, was du hören willst, Robin. Ich weiß, was ich getan habe, und ich weiß, was ich vielleicht noch tun werde. Nichts davon tut mir Leid. Nichts außer dem, was ich dir angetan habe. Könnte ich es ungeschehen machen, indem ich mir meine rechte Hand abschneide, glaube mir, ich würde es tun.« Er schien es wirklich ernst zu meinen. »Ich... ich war verwirrt. Erschrocken über das, was du in mir geweckt hast, und ich wollte wohl nicht zugeben, mich in eine Sklavin und obendrein in eine Ungläubige verliebt zu haben.«

»Ihr übertreibt, Herr«, sagte Robin. »Ich bin Eurer nicht würdig. Ihr könnt Frauen haben, die...«

»... hundertmal schöner sind als du, ich weiß. Frauen von edler Herkunft, Frauen die reich sind, oder beides. Ich kann sie mir kaufen. Die meisten kann ich mir einfach nehmen, aber dich nicht.«

»Und deshalb glaubt Ihr, in mich verliebt zu sein?«, hörte sich Robin sagen. »Vielleicht begehrt Ihr mich nur, weil Ihr alles begehrt, was Ihr nicht haben könnt.«

Ihre Worte hatten ihn nicht wütend gemacht. Er sah sie nur weiter auf diese seltsam traurige, vorwurfsvolle Art an - ein Vorwurf, der nicht ihr, sondern ihm selbst galt -, schüttelte den Kopf und seufzte wieder. Er hob die Fackel, hielt die andere Hand über die Flammen und schien nicht einmal zu spüren, wie die Hitze seine Haut versengte. Erst nach etlichen Sekunden ballte er die Hand ruckartig zur Faust und zog sie zurück.

»Ich wollte, es wäre so. Aber das ist nicht die Wahrheit. Ich wollte dich verkaufen, um mich selbst von diesem Fluch zu befreien, aber nicht einmal das ist mir gelungen. Vielleicht, weil ich es nicht wirklich wollte. Um ehrlich zu sein: Ich war froh, als der Verkauf scheiterte.«

»Weshalb er wohl auch misslungen ist«, vermutete Robin.

»Ja«, sagte Omar. »Ich hätte dich niemals Arslan ausgehändigt, und wenn er hunderttausend Denar geboten hätte. Eher ertrage ich für den Rest meines Lebens den Zorn der Assassinen.«

»Aber warum habt Ihr mir das nie gesagt?«, fragte Robin.

»Weil ich es nicht wusste«, antwortete Omar. »Ich musste erst hierher kommen, an diesen einsamsten aller Orte, mitten ins Herz der glühendsten Wüste, um zu begreifen, dass ich die gleiche Wüste in mir getragen habe und du allein die Macht hast, sie in einen blühenden Garten zu verwandeln.«

»Das habe ich nicht, Omar«, sagte Robin fast sanft. Sie schüttelte den Kopf, als er widersprechen wollte. »Ich bin nicht das, wofür Ihr mich haltet. Ich bin nur ein einfaches Mädchen, nicht von hoher Geburt, weder reich noch gebildet. Was ich dem Johanniter gesagt habe, war die Wahrheit.«

»Welchen Unterschied macht das?«, erwiderte Omar. Er kam einen halben Schritt näher und verharrte mitten in der Bewegung, als er sah, wie Robin erschrocken zusammenzuckte. »Ich schwöre dir, ich werde für dich mein Leben ändern. Ich werde sicher nie ein Heiliger werden und kann nicht auf Vergebung für das hoffen, was ich getan habe, aber was in meiner Macht steht, werde ich tun. Ich habe es bereits veranlasst. Unsere Reise führt uns nicht nach Damaskus, wie alle glauben. Wir reiten direkt nach Bagdad. Der Kalif selbst hat mir gestattet, dort das Geschäft des Seidenhandels zu führen. Erinnerst du dich an die Taube, die mir in unserer letzten Nacht in Hama eine Nachricht gebracht hat?«

Robin nickte.

»Es war die Antwort des Kalifen. Der Seidenhandel ist ein Geschäft, das jeden, der es gut führt, in wenigen Jahren so reich wie einen Sultan machen kann. Fast so reich wie einen Sklavenhändler.«

»Ihr würdet damit nicht leben können«, sagte Robin. Ihre Stimme zitterte. Sie gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, warum.

Omar wischte ihr Argument mit einer unwilligen Bewegung zur Seite. »Ich werde niemals wieder mit Sklaven handeln«, versprach er. »Wenn du es wünschst, werde ich allen Sklaven, die sich noch in meinem Besitz befinden, die Freiheit schenken. Ich werde noch mehr tun. Wenn du mich erhörst und mich zum Manne nimmst, dann verspreche ich, an jedem Jahrestag unserer Hochzeit einhundert Sklaven auf dem Markt zu kaufen, um ihnen die Freiheit zu schenken.«

Diese sonderbare Liebeserklärung traf Robin wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass ein Mann so etwas zu ihr sagte, und sie war vollkommen verwirrt.

»Ihr wollt mich mit einem Märchen beeindrucken, Omar Khalid?«, fragte sie. »Und mit Versprechen, ohne Beweise?«

»Die Geschichte von Hisham und Melikae ist kein Märchen«, antwortete Omar. »Komm.«

Mit widerstreitenden Gefühlen - sie war gleichermaßen verwirrt wie von einer sonderbaren Erregung ergriffen - folgte sie Omar aus dem ummauerten Geviert heraus. Sie gingen nicht zu den anderen zurück, sondern in einen noch weiter abseits gelegenen, zur Wüste hin offenen Teil der Festungsruine. Die Nacht machte es schwer, genau zu erkennen, wo der sandfarbene Stein aufhörte und die gleichfarbene Wüste begann. Sie hörte ein feines, wisperndes Rascheln, das nur das Geräusch der Sandkörner war, die der kaum spürbare, aber eisige Wind aneinander rieb; in ihrer Fantasie wurde es jedoch zum Flüstern längst vergangener Stimmen, die Geschichten erzählten und ein vielleicht vor Jahrhunderten erloschenes Lachen an ihr Ohr trugen. Sie folgte Omar in größerem Abstand, als nötig gewesen wäre, als könnte sie sich auf diese Weise Klarheit über ihre Gefühle verschaffen.

Schließlich blieb Omar stehen und hob seine Fackel ein wenig höher. Sofort griff der Wind nach den Flammen und spielte mit ihrem Licht, sodass ringsum Bewegung entstand und mit ihr die Illusion von Leben zurückkehrte. Er schien noch etwas zu suchen und auch Robin sah sich neugierig um. Unter ihren Füßen war jetzt Sand, kein Stein mehr; überall ragten die Reste zerborstener Säulen hervor, erhoben sich kniehohe, fast regelmäßig geformte Mauerreste, deren Kanten von Wind und Jahreszeiten rund geschliffen worden waren. Und dann hatte Omar gefunden, wonach er gesucht hatte.

Er ging noch einige Schritte, blieb dann stehen und begann, mit dem Fuß den Sand zur Seite zu scharren. Es war nur eine dünne, vergängliche Schicht, unter der ein nahezu unversehrter Mosaikfußboden zum Vorschein kam, der eine Jagdszene zeigte. Omar winkte sie heran und bedeutete ihr wortlos, sich seine Entdeckung genauer anzusehen. Seine Augen leuchteten vor Besitzerstolz, als sie es tat.

Nach einigen Minuten ehrfürchtigen Staunens führte Omar sie weiter durch die einst blühenden Gärten von Qasr al-Hir al-Gharbi, die den Kampf gegen die Wüste schon vor langer Zeit verloren hatten. Sie bewegten sich immer noch schweigend, als fürchtete Omar, diesen heiligen Ort durch den Klang seiner Stimme zu entweihen. Schließlich erreichten sie einen gut doppelt mannshohen Felsbrocken. An dieser von der Natur geschaffenen Mauer wuchs - geschützt vor Wüstenwind und Sand - ein Busch.

Im Licht der Fackel konnte Robin kleine, blutrote Rosenblüten an dem Busch erkennen und unter den dornigen Zweigen, von der Zeit gezeichnet und verwittert, ein geborstenes Marmorbecken. Aus winzigen Rissen im Fels, die teils natürlichen Ursprunges, teils künstlich erweitert worden waren, tropfte Wasser; ein unglaublicher Schatz in dieser Einöde aus Hitze, Wüstensand und Trockenheit.

»Aber du hast gesagt, hier gäbe es kein Wasser«, murmelte Robin.

Omar lächelte wissend. »Man kann dieses Wasser nicht trinken«, sagte er. »Außerdem weiß niemand davon. Niemand außer mir - und jetzt dir. Bewahre dieses Geheimnis für dich, wenn du nicht willst, dass dieser Ort seinen Zauber verliert.«

Robin begriff, was er meinte. Diese winzige Quelle stellte vielleicht den größten Schatz dar, den es in diesem Teil der Welt geben mochte. Aber sie sah nur Spuren von Feuchtigkeit auf dem Stein, hier ein flüchtiges Glitzern, dort einen einsamen Tropfen, der sich mühsam seinen Weg nach unten suchte - vermutlich lieferte die Quelle nicht einmal genug Wasser, um einen einzigen Menschen am Leben zu erhalten. Sie war wertlos für eine Karawane und doch würde das Wissen um ihre Existenz den Untergang dieses Ortes bedeuten.

»Das hier ist die Stelle, an der Melikae gestorben ist«, sagte Omar. Er hob die Fackel noch ein wenig höher, sodass das Licht sich auf dem Wasser im Inneren des Marmorbeckens brach. Es schimmerte dunkelrot.

»Von der Stunde ihres Todes an ist das Wasser, das aus dem Felsen tropft, so rot wie Blut geworden«, fuhr Omar fort. »Der Garten ist verdorrt, nur dieser eine Busch ist stehen geblieben. Aber auch seine Blüten vergehen binnen einer Stunde, wenn du sie pflückst.«

Tatsächlich war die Innenseite des einst weißen Marmors blutig rot verfärbt und an seinem Grund hatte sich rotes, schlammiges Wasser abgesetzt. Robin konnte einen eisigen Schauer nicht unterdrücken, der nichts mit der Nachtkälte und dem Wind zu tun hatte. Eine schwache Stimme in ihr versuchte ihr klar zu machen, dass es eine natürliche Erklärung für dieses Phänomen geben könnte, aber sie hörte nicht hin. In diesem Moment hatten Logik und Vernunft keinerlei Gewicht, war das Becken mit dem so unheimlich verfärbten Wasser für sie der Beweis, dass Omar die Wahrheit gesprochen hatte.

Beklommen stellte sie sich vor, dass Melikae vielleicht genau an der Stelle gestorben war, an der sie jetzt gerade stand. Vor ihrem geistigen Auge entstanden die prachtvollen Gärten, die es hier einst gegeben haben musste. Das Wispern des Windes wurde endgültig zum Lachen spielender Kinder in der Ferne, der matte Schein der Lagerfeuer hinter ihr zum prachtvollen Glanz der Feste, die hier gefeiert worden waren - und dann wurde auch Omar zu Hisham, dem Mann, der alle Schätze der Welt aufgegeben hatte, um einen noch größeren zu erlangen.

»Warum hast du mir diese Geschichte erzählt?«, fragte sie traurig.

»Weißt du das denn wirklich nicht?«

Natürlich wusste sie es. Gegen ihren Willen sah sie Omar plötzlich mit anderen Augen. »Und du...« Sie verbesserte sich. »Ihr... würdet wirklich alles für mich tun?«, fragte sie.

Omar nickte. »Ich schwöre, dir keinen Wunsch abzuschlagen. Ganz egal, was es ist.«

In seiner Stimme war mit einem Male ein Unterton von Trauer und Bitterkeit, den sie im ersten Moment nicht verstand. Erst als sie sich selbst ihre Bitte äußern hörte, wurde ihr klar, dass er ganz genau diese Worte erwartet hatte. »Dann wünsche ich mir, frei zu sein und gehen zu dürfen, wohin ich will.«

Omar schwieg. Der Wind frischte auf und eine einzelne starke Böe ließ die Fackel in seiner Hand so stark flackern, dass sie zu erlöschen drohte. Das zuckende rote Licht ließ den Schmerz auf seinem Gesicht jäh hervortreten. Nach einem langen, endlos währenden inneren Kampf, so leise, dass sie seine Worte mehr erahnte als wirklich verstand, und ohne sie anzusehen, sagte er schließlich: »Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen, selbst wenn ich mein eigenes Unglück damit besiegele.«

»Ihr meint, ich... ich bin frei?«, fragte Robin ungläubig.

»Ja«, stieß Omar hervor. Er kämpfte sichtlich um seine Fassung. »Aber noch nicht sofort. Es wäre dein sicherer Tod, wenn ich dich jetzt ziehen ließe. Doch sobald wir in Palmyra angekommen sind, werde ich dich mit allem ausstatten, damit du so Weiterreisen kannst, wie es einer Prinzessin geziemt, und wohin immer du willst. Ich... werde dich von einer Eskorte begleiten lassen, die dich in eine christliche Stadt geleitet.«

Robin war sprachlos. Seine Worte hatten sie getroffen wie ein Schlag. Nach allem, was ihr in den letzten Tagen und Wochen widerfahren war, war das das Letzte, womit sie gerechnet hätte. Und doch spürte sie, dass Omar Khalid sein Angebot nicht vorgebracht hatte, um sie zu quälen und sich hinterher an ihrer um so tieferen Enttäuschung zu weiden.

Es war sein voller Ernst, so schmerzhaft für ihn diese Entscheidung auch war. Plötzlich wurde ihr klar, was sie bedeutete: Er schenkte nicht nur einfach einer Sklavin die Freiheit, er besiegelte auch sein eigenes Schicksal. Omar Khalid setzte damit endgültig alles aufs Spiel, was er jemals erreicht und jemals besessen hatte. Von einem wohlhabenden, einflussreichen und gefürchteten Mann war er bereits zu einem Flüchtling geworden, der sich mit Söldnern und Wegelagerern abgab, vom Herrn über Hunderte von Sklaven zu dem über eine Karawane, die sich auf einer verzweifelten Flucht vor einem Feind befand, vor dem man nicht fliehen konnte. Er hatte all das weggegeben, um das Herz einer Frau zu gewinnen, die er sich einfach hätte nehmen können. Und nun, wo er am Ende war, verlor er auch noch das, um dessentwillen er dieses Opfer gebracht hatte. Sie versuchte sich bewusst an all das Schreckliche zu erinnern, das er getan hatte, all das Leid, das von ihm ausgegangen war, all den Hass und die Wut, die sie ihm entgegengebracht hatte. Nichts davon wurde durch das ungeschehen gemacht, was sie gerade gehört hatte, und trotzdem war alles, was sie in diesem Moment für diesen großen, gebrochenen Mann empfand, Mitleid.

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