11. KAPITEL


Es kam, wie es kommen musste. In die Geräusche der verängstigen Sklavenschar, die den Ausbruch wagen wollte, mischten sich andere, eindeutig von oben kommende Laute. Robin bedeutete ihren verängstigten Begleitern mit einer energischen Geste zu warten und stieg als Erste die Treppe zum Erdgeschoss hoch. So leise und vorsichtig wie möglich schlich sie in die Halle. In ihrer überreizten Fantasie hatte sie sich bereits ausgemalt, dass sie hier auf durch den Lärm im Keller aufgeschreckte Wächter stoßen würde, aber zu ihrer Erleichterung war die Halle vollkommen menschenleer. Allerdings vernahm sie nun deutlich gedämpfte Gespräche hinter der nach außen führenden Tür, überlagert vom Plätschern des Springbrunnens im hinteren Hof.

Unendlich behutsam schob sie die Tür weiter auf, wobei die Angeln aus uraltem, halb verrostetem Eisen ein erbärmliches Quietschen ausstießen, das ebenso ungehört verhallte wie die anderen Geräusche bisher. Dann trat sie mit einem vorsichtigen Schritt durch den Spalt und huschte nach rechts, auf die Tür zu, hinter der sich der kurze Gang nach draußen verbarg. Robin betete stumm darum, dass alle Gefangenen sich so leise zu bewegen imstande waren wie sie - und dass kein Kind schrie. Am meisten Angst hatte sie davor, dass Mustafa unten im Keller auf die Idee kam, sich an ihr zu rächen, indem er durch lautes Geschrei Omar Khalid auf ihre Flucht aufmerksam machte. Sie hätte ihn niederschlagen oder wenigstens in seiner Zelle wieder einsperren sollen. Doch jetzt war es zu spät, um noch einmal in den Keller zurückzukehren. Sie musste die Sklaven so schnell wie möglich aus dem Haus bekommen. Sich auf ihr Glück zu verlassen und darauf zu bauen, dass niemand ihren Fluchtversuch bemerkte, wäre töricht.

Unbehelligt erreichte sie die Tür, schlüpfte hindurch und tastete sich durch den stockdunklen Gang bis zu seinem jenseitigen Ende. Ihre Finger berührten das raue Holz der massiven Tür, die ihn zum Hof hin abschloss. Durch die schmalen Ritzen zwischen den Brettern drang das rote Flackerlicht mehrerer Fackeln. Wie viele Wächter standen dort draußen auf dem Hof? Robin hatte den ganzen Tag über mit fast nichts anderem als damit zugebracht, auf den Hof hinabzusehen, aber jetzt konnte sie sich nicht erinnern. Waren es zwei oder drei?

Sie schloss die Augen, atmete so tief ein wie möglich und zwang ihre Gedanken zur Ruhe. Tatsächlich ließ die Panik sogleich ein Stück weit nach - nicht so weit, wie sie es gerne gehabt hätte -, und sie war sich schlagartig sicher, dass es zwei gewesen waren.

Das düstere Zwielicht im Korridor wich absoluter Dunkelheit, als der letzte Flüchtling den Gang erreichte und die Tür hinter sich zuzog. Die Tür knallte so laut zu, dass das Geräusch wie ein Gongschlag durch das Haus hallte. Robin zuckte erschrocken zusammen, tastete aber im nächsten Moment im Dunkeln nach dem Bronzegriff der Pforte zum Hof und zog mit der anderen Hand den Schleier vors Gesicht.

Sie hatte auch jetzt noch keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Das Einzige, was sie jetzt vorantrieb, war ihr unbändiger Freiheitstrieb und Salims wiederholt geäußerte Bemerkung, dass kein noch so gut aufgestellter Schlachtplan der ersten Begegnung mit dem Gegner standhält.

»Ich brauche zwei oder drei Männer«, flüsterte sie Saila zu, die unmittelbar hinter ihr war. »Die Kräftigsten. Aber seid leise!«

Die Araberin gab ihre Anweisung im Flüsterton weiter und nur einen Augenblick später hörte Robin, wie sich mehrere Gestalten durch den hoffnungslos überfüllten Gang drängten, um hinter ihr Aufstellung zu nehmen.

»Ich versuche, sie hereinzulocken«, sagte sie. »Ihr müsst sie überwältigen.« Nach kurzem Zögern und in verändertem Tonfall fügte sie hinzu: »Aber bitte keine Toten mehr.«

Sie glaubte nicht daran, dass die Männer ihr diesen Wunsch erfüllen würden, aber sie konnte nicht anders, als diese Bitte zu äußern. Noch immer hatte sie den Blick des sterbenden Mannes vor Augen, den sie beim Ausbruch aus ihrem Zimmer so gnadenlos überrumpelt hatte, und wahrscheinlich würde sie seinen fürchterlichen Todeskampf ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Dabei war das vielleicht nur eine Anzahlung auf den Preis gewesen, den sie für ihren verzweifelten Fluchtversuch bezahlen musste. Sie war nicht nur aus ihrem Gefängnis ausgebrochen, sondern hatte mit ihrer Bluttat eine Lawine aus Gewalt und Tod losgetreten, die möglicherweise noch viele Unschuldige unter sich begrub.

Sie schüttelte diese düsteren Gedanken ab, drückte die Klinke vorsichtig herunter und öffnete dann schwungvoll die Tür, um im selben Moment auf den Hof hinauszutreten. Zuerst sah sie im unsteten Licht der Fackeln nur tanzende Schatten. Dann nahm sie rechts von ihr eine Bewegung wahr, und als sie in die entsprechende Richtung blickte, erkannte sie die beiden Wächter, die ihre Posten verlassen und es sich auf dem Podest des Sklavenverkäufers gemütlich gemacht hatten. Das Geräusch der Tür ließ sie ihr Gespräch unterbrechen und neugierig, aber auch ein bisschen alarmiert, die Köpfe in ihre Richtung drehen.

»Omar Khalid schickt mich«, sagte sie. »Ich soll euch Wasser und Essen bringen.«

Einer der beiden Männer sah sie mit einem Ausdruck an, der vermutlich nichts anderes als gelangweilt war, in den Robin in ihrer Angst aber Misstrauen hineindeutete. Der andere richtete sich dagegen ein wenig auf und lachte leise. »Omars Geschäfte müssen gut gelaufen sein, wenn er sich so ungewohnt großzügig zeigt«, sagte er. »Bring es nur her.«

Robin deutete ein Nicken an, trat wieder in den Schatten des Hausflures zurück und rief: »Das Tablett ist schwer. Könnt Ihr mir helfen?«

Mit leeren Händen trat sie wieder auf den Hof hinaus und stellte mit Erschrecken fest, dass sich nur einer der beiden Männer erhob, um ihrer Bitte nachzukommen, während der andere nun doch ein wenig misstrauisch wirkte; zumindest aber überrascht. Sie war plötzlich sehr froh, den Schleier wieder angelegt zu haben, und das nicht nur, weil ihre helle Haut und ihre abendländischen Züge sie sonst sofort verraten hätten. Damit der Krieger nicht an ihr vorbei in den Gang hineinsehen konnte, trat sie rasch vor ihm ins Haus zurück und presste sich dann mit einer hastigen Bewegung an die Wand. Der Wächter blieb mitten im Schritt stehen und sog überrascht die Luft ein, aber das war auch alles, wozu er kam. Drei, vier starke Hände griffen aus der Dunkelheit heraus nach ihm, rissen ihn in den Gang hinein und zerrten ihn zu Boden. Robin hörte ein Ächzen, dann das dumpfe Klatschen von drei oder vier Schlägen.

»Was ist da los?«, drang die Stimme des zweiten Kriegers vom Hof herein.

Robins Herz machte einen Sprung. »Lasst das!«, rief sie. »Nein, habe ich gesagt! Ich will das nicht!«

Ein dumpfes Poltern, dann das Geräusch schneller Schritte, die die kurze Treppe herabkamen. »Muhamed, lass das sein!«, rief der Krieger. »Du weißt, dass Omar es nicht schätzt, wenn...«

Einer der Männer, die den Wächter zu Boden gezerrt hatten, sprang an Robin vorbei durch die Tür. Metall blitzte auf, und sie hörte den Ansatz eines Schreies, der aber nicht lange genug währte, um jemanden alarmieren zu können. Dann folgte der schreckliche, nur zu vertraute Laut, mit dem Stahl durch Fleisch schnitt. Robin schloss entsetzt die Augen. War es der dritte oder schon der vierte Tote? Und wie viele Leben würden noch auf ihrem Gewissen lasten, bis dieser Albtraum endlich vorüber war? Sie vermied es ganz bewusst, in die Richtung zu blicken, aus der das Keuchen und das Geräusch eines zu Boden stürzenden Körpers zu ihr gedrungen waren, als sie neben Saila und ihrer Tochter auf den Hof hinaustrat.

Zwei der Fischer waren mittlerweile bereits am Tor und machten sich an der schweren Kette zu schaffen, die auf Omars Geheiß hin vorgelegt worden war. Robin fuhr erschrocken zusammen, als sie das Klirren der eisernen Glieder hörte, einen Laut, der in der Stille der Nacht weithin zu hören sein musste. »Hört auf!«, befahl sie im scharfen Flüsterton. Sie beschleunigte ihre Schritte, stieß einen der Sklaven, der ihre Worte missachtete und ebenso sinnlos wie lautstark weiter an der Kette herumzerrte, grob beiseite und hob den Schlüsselbund des toten Wächters, den sie mitgenommen hatte. »Vielleicht passt einer hiervon.«

Während sich der Hof hinter ihr mit Menschen füllte, die sich trotz aller Mühe nicht annähernd so leise verhielten, wie Robin gehofft hatte, probierte sie hastig einen Schlüssel nach dem anderen aus. Keiner passte. Sie schaffte es gerade, den Bart eines einzigen Schlüssels in das schwere Vorhängeschloss zu schieben, das die Kette zusammenhielt, aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nicht bewegen.

»Dann steigen wir über die Mauer«, murmelte Saila.

Robin warf ihr einen mutlosen Blick zu, bevor sie mit wenig Zuversicht die Wand aus gebrannten Ziegeln musterte, die den Hof an drei Seiten umschloss. Sie war gut drei Meter hoch und so glatt verputzt, dass nicht einmal eine Fliege daran Halt gefunden hätte. Wer immer sie erbaut hatte, musste mit Fluchtversuchen gerechnet haben. Als sie ihr Mut endgültig verlassen wollte, fiel ihr Blick auf das Podest, und plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das sie am Morgen bemerkt hatte - an die gut vier Meter langen, gehobelten Balken, die hinter ihm an der Wand lehnten.

»Dort!« Sie deutete aufgeregt auf das Podest. »Die Balken! Schnell!«

Ohne zu zögern lief sie los und griff nach einem Balken. Um ein Haar wäre er ihr sofort wieder aus den Händen gerutscht, denn er war viel schwerer, als sie geglaubt hatte; doch einer der Männer sprang im letzten Moment hinzu und fing ihn auf, bevor er polternd zu Boden fallen und der Lärm sie alle verraten konnte. Sie brauchten kein Wort zu wechseln, um zu wissen, was zu tun war.

In aller Eile schleppten sie den Balken zur Mauer und lehnten ihn so dagegen, dass er als Kletterhilfe zu gebrachen war. Die Frage war nur, wer außer ihr sowie ein paar halbwegs bei Kräften gebliebenen Sklaven es schaffen würde... Sie kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Denn jetzt geschah etwas, das sie die ganze Zeit über befürchtet hatte.

Eines der Kinder begann zu weinen. Seine Mutter versuchte sofort, es zu beruhigen, aber sie erreichte damit genau das Gegenteil: Das Jammern und Wehklagen steigerte sich noch.

Robin war sofort klar, dass es jetzt um alles oder nichts ging. Ohne zu zögern kletterte sie an dem schräg gestellten Balken nach oben. Die Angst schien ihr Flügel zu verleihen, denn schon nach wenigen Augenblicken erreichte sie die Mauerkrone - und zuckte erneut zusammen.

Die Mauer war mit in harten Lehm gedrückten Tonscherben gespickt. Doch sie war nicht gewillt, sich von diesem weiteren Hindernis aufhalten zu lassen. Mit zitternden Händen streifte sie ihren Mantel ab und legte ihn über die verwitterten und gottlob ohnehin nicht mehr allzu scharfen Scherben. Sie konnte nur hoffen, dass er die Kinder vor Hand- und Fußverletzungen bewahren würde.

Ein viel größeres Hindernis war die Mauer selber, denn ein Sprung auf die Straße aus dieser Höhe war alles anders als ungefährlich. Salim hatte sie gelehrt, wie man mit federnden Knien und einer Rolle über die Schulter einen solchen Sprung dämpfen konnte. Doch die meisten der entkräfteten und ausgezehrten Sklaven würden den Aufprall kaum unverletzt überstehen.

Die Gasse unter der Mauer lag in vollkommener Dunkelheit. Hinter den meisten Fenstern der angrenzenden Häuser brannte kein Licht. Es gab etliche Türen, doch von denen würde sich für sie gewiss keine öffnen, um ihnen Zuflucht zu gewähren. Sie brauchten eine Leiter, ein Seil, irgendetwas, woran sie hinabklettern konnten.

Oder etwas, wo sie hinaufsteigen konnten.

Robins Blick blieb für einen Moment am schwarzen Schattenriss des Aquädukts hängen, das sich jenseits des Tores auf der anderen Seite der Gasse erhob. Es war nur wenig höher als das Dach des Gebäudes, neben dem es vorbeiführte. Robin hatte lange genug am Fenster ihres Zimmers gestanden, um sich jedes noch so kleine Detail der Dachlandschaft ringsumher eingeprägt zu haben. Sie wusste, dass das Aquädukt nach wenigen Metern einen scharfen Knick machte und in einen anderen, ihr unbekannten Teil der Stadt führte.

Irgendwo im Haus erscholl ein Schrei.

Robin fuhr entsetzt zusammen und klammerte sich für einen winzigen Moment wider besseres Wissen an die Hoffnung, dass es weder Mustafa war, der Zeter und Mordio brüllte, um Omars Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, noch die Wachablösung, die über die Leiche ihres toten Kameraden gestolpert war. Gleich darauf jedoch ertönte ein weiteres aufgeregtes Brüllen, dann das Geräusch schwerer, hastiger Schritte.

»Die Tür!«, schrie Robin. »Verriegelt die Tür!«

Sie überzeugte sich nicht davon, dass die Männer ihrer Aufforderung nachkamen, sondern ließ sich, so schnell sie konnte, in den Hof hinabgleiten. »Schafft die Balken auf das Podest!«, schrie sie, während sie mit einer hastigen Bewegung herumfuhr und auf die andere Seite des Tores deutete. »Wir brauchen sie als Brücke zwischen Mauerkrone und Aquädukt!«


Die meisten Fischer starrten sie nur verständnislos an, aber der Mann, der ihr gerade geholfen hatte, packte sich ganz alleine einen der Balken und stolperte mit ihm vorwärts und zwei oder drei seiner Kameraden taten es ihm nach. Mit einem Blick zur Tür überzeugte sich Robin, dass sie mittlerweile geschlossen und der massive Riegel vorgelegt worden war. Dass Omar sein Haus in eine Festung verwandelt hatte, die vor allem dazu gedacht war, ihre Bewohner drinnen zu halten, verschaffte ihnen jetzt vielleicht eine letzte Gnadenfrist.

»Zum Aquädukt?«, fragte Saila. Sie blickte sie an, als zweifelte sie an ihrem Verstand. »Aber was...?«

»Auf der Straße sitzen wir in der Falle«, unterbrach sie Robin hastig. »Wenn sie die Tür nicht aufbrechen, dann kommen sie über den hinteren Hof hinaus. Schnell!«

Mittlerweile hatten die Sklaven gehorsam das knappe Dutzend Balken zur anderen Seite des Hofes geschafft und die längsten davon benutzt, um eine - erschreckend steile - Rampe zur Mauerkrone hinaufzubauen. Zwei oder drei von ihnen befanden sich schon auf der Mauer und winkten den anderen zu, ihnen die übrig gebliebenen Balken anzugeben. Gleichzeitig verbarrikadierten einige Männer die Tür zum Haus mit Bänken und losgerissenen Brettern aus dem Podest.

Und keinen Moment zu früh, wie es aussah. Die schwere Tür erzitterte unter einem harten Schlag und drinnen wurde ein zorniges Brüllen laut. Immer wütendere und heftigere Säbel- und Faustschläge trafen die Tür. Auf dem Hof begannen jetzt auch noch andere Kinder vor Angst zu weinen. Robin begriff, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, wenn ihre Flucht nicht schon im Hof enden sollte.

Robin eilte zu den Männern, die mittlerweile in aller Hast dabei waren, die Balken auf die Mauerkrone hinauf zuhieven. Der Versuch, eine Brücke zum Aquädukt hinüberzubauen, erwies sich als weitaus schwieriger, als sie erwartet hatte. Der erste Balken war zu kurz und stürzte mit gewaltigem Getöse die Gasse hinab. Auch den nächsten, ein gutes Stück längeren Balken hätten die Männer um ein Haar fallen lassen, doch nach endlosen Augenblicken des Hinundhermanövrierens schlug das Holz mit einem dumpfen Poltern auf den oberen Rand des Aquädukts.

Als einer der Männer sich unverzüglich daran machen wollte, mit ausgebreiteten Armen über den kaum eine Hand breiten Steg zu balancieren, packte Robin ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. Ihr selbst und wahrscheinlich noch einer Hand voll anderer Sklaven würde es gelingen, auf diese Weise über die Gasse zu entkommen. Für die meisten jedoch konnte ein solcher Versuch nur mit einem Sturz enden.

Sie warf einen raschen Blick über die Schulter. Das Holz hielt dem wütenden Angriff von der anderen Seite immer noch Stand, und die Bänke, die die Sklaven hinter der Tür verkeilt hatten, verliehen der Barrikade zusätzliche Festigkeit. Hinter fast allen Fenstern im Hause brannte nun Licht; die Tatsache, dass sie mit einer einzigen Ausnahme allesamt vergittert waren, würde nun vielleicht ihre Rettung bedeuten.

»Wir brauchen noch mehr Balken«, sagte Robin hastig. »Mindestens zwei, besser drei.«

Es kam ihr in diesem Moment gar nicht in den Sinn, dass die Männer irgendetwas anderes tun könnten, als ihr zu gehorchen. Sie war nicht mehr das Christenmädchen, nicht mehr die Sklavin, die Omar als Spielzeug für irgendeinen reichen Kaufmann oder Sultan auserkoren hatte, sondern wieder Bruder Robin, der Tempelritter, den man auch gelehrt hatte, ganz selbstverständlich wie ein Anführer aufzutreten, und dem niemand widersprach. Vielleicht übertrug sich etwas von dieser Selbstverständlichkeit auch auf ihre Stimme, denn zwei oder drei der Sklaven sahen sie zwar verwirrt und unentschlossen an, dann aber beeilten sie sich, ihrem Befehl nachzukommen.

Auch in den Zimmern im oberen Geschoss des Hauses wurde es nun hell. Robin sah, wie Nemeth neben ihr erschrocken zusammenfuhr. Sie hob den Blick und sah in eines jener Fenster, hinter denen sie einen Großteil der vergangenen Woche verbracht hatte, um sehnsüchtig auf die so nahe und doch unerreichbare Stadt zu blicken. Flackerndes rotes Fackellicht erfüllte nun den Raum, und Omar Khalid, nur in ein schmuckloses weißes Gewand gekleidet, stand hoch aufgerichtet dort oben am Fenster und starrte zu ihnen herab. Das rote Licht, noch verstärkt durch Robins Angst, verlieh seinem Gesicht etwas Dämonisches. In diesem Moment wurde sich Robin bewusst, dass sie von diesem Mann keine Gnade mehr zu erwarten hatte.

Eine zweite Gestalt erschien neben Omar, und jetzt war es Robin, deren Gesicht sich vor Zorn verdüsterte. Es war keiner von Omars Kriegern, sondern niemand anders als Mustafa, Sailas Mann. Gegen ihren Instinkt hatte sie sich bisher noch immer an die Hoffnung geklammert, dass nicht er es gewesen war, der sie verraten hatte, und sei es nur, um seine Frau und Tochter vor dem sicheren Tod zu bewahren. Aber er hatte die Gunst der Stunde erkannt und ohne Rücksicht auf seine eigene kleine Familie genutzt!

Noch während sie versuchte, mit dem kalten Entsetzen fertig zu werden, das diese Erkenntnis in ihr auslöste, erschien ein zweiter Mann neben Omar am Fenster. Es war der schwarz gekleidete Riese, der Robin den Großteil der zurückliegenden Woche bewacht hatte. Statt Schild und Säbel hielt er nun einen kurzen, geschwungenen Bogen in Händen, mit dem er ohne zu zögern auf einen der Männer oben auf der Mauerkrone anlegte.

Als er den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, schlug Omar seine Hand nach unten. Statt sein wehrloses Opfer zu treffen, prallte der Pfeil harmlos gegen die Mauer und zerbrach. Der Krieger legte kein zweites Geschoss auf die Sehne, sondern zog sich hastig zurück, als Omar eine befehlende Geste machte. Robin glaubte jedoch nicht einen Augenblick daran, dass der Sklavenhändler aus Mitleid oder Rücksicht gehandelt hatte. Vielmehr war Omar wohl daran gelegen, seinen Besitz möglichst unbeschadet wieder zurückzubekommen. Doch ganz gleich aus welchen Gründen, er hatte ihnen eine weitere, vielleicht die entscheidende Atempause verschafft. Robin blickte zur Mauerkrone hinauf und sah, dass die Sklaven mit ihren Vorbereitungen fast fertig waren. Genau in diesem Moment legten sie den letzten, vierten Balken an. Das Geräusch, mit dem er auf dem Stein aufschlug, war noch nicht ganz verklungen, da machte sich der Erste bereits mit ausgebreiteten Armen und wie ein Seiltänzer auf einem Pfingstmarkt balancierend auf den Weg zur gegenüberliegenden Seite.

»Schnell jetzt!«, rief Robin. »Die Kinder und Alten zuerst!«

Die Männer oben auf der Mauer mussten ihre Worte gehört haben, aber diesmal dachte niemand daran, sich an ihren Befehl zu halten. Schon machte sich der Nächste auf den Weg, dann ein Dritter, Vierter, und wäre die Kletterpartie nach oben nicht so mühsam und zeitraubend gewesen, wäre auf der Mauerkrone zweifellos ein Handgemenge entstanden.

Hinter ihr erscholl ein dumpfer Aufprall, gefolgt von einem Schrei und den Geräuschen eines beginnenden Kampfes. Robin fuhr herum. Das Fenster, hinter dem Omar stand, lag gute vier Meter über dem Hof, aber dennoch hatte einer seiner Krieger offensichtlich den Sprung in die Tiefe gewagt. Doch das bezahlte er mit dem Leben. Auf dem Hof befanden sich noch immer mehr als zwei Dutzend Sklaven, und einige davon warfen sich auf den Krieger, noch bevor dieser auch nur dazu kam, sich aufzurappeln oder nach seiner Waffe zu greifen. Robin musste kein zweites Mal hinsehen, um zu begreifen, dass ihn das Schicksal seiner beiden Kameraden ereilen würde.

Auch Omar, der noch immer wie zur Salzsäule erstarrt oben am Fenster stand und hasserfüllt auf sie herabblickte, schien dies begriffen zu haben, denn als ein weiterer Krieger an seine Seite trat und den Sprung in die Tiefe wagen wollte, schüttelte er nur den Kopf.

Robin wusste, dass sie damit keineswegs gerettet waren. Omar würde wohl kaum enttäuscht mit den Schultern zucken und zur Tagesordnung übergehen, um den Verlust am nächsten Tag als unerwartete Ausgabe in seinen Büchern zu verzeichnen. Die Männer würden jetzt Seile holen und etliche von ihnen waren vermutlich schon auf dem Weg, um das Haus durch den hinteren Ausgang zu verlassen und ihnen den Weg abzuschneiden. Sie hetzte zum Tor zurück. Wie durch ein Wunder fand sie auf Anhieb den einzigen Schlüssel, der in das schwere Vorhängeschloss passte, und schob ihn in das Schlüsselloch. Er rührte sich jetzt so wenig wie zuvor, aber als Robin ihn mit beiden Händen ergriff, absichtlich verkantete und sich dann mit dem ganzen Körpergewicht dagegen warf, brach er mit einem hellen Klirren ab. Selbst wenn Omars Krieger es schaffen sollten, auf den Hof herauszukommen, würden sie ihnen durch dieses Tor so schnell nicht folgen.

Mittlerweile hatte gut die Hälfte der Sklaven das Aquädukt auf der anderen Seite der Straße erreicht und war bereits in der Nacht verschwunden. Robin hastete zu dem schräg gestellten Balken, wobei sie jetzt rücksichtslos einen Weg für sich, Saila und Nemeth bahnte, die ihr wie zwei ungleiche Schatten folgten. Sie kletterte mit einer Schnelligkeit zum Mauerkamm hinauf, wie getrieben von der schieren Todesangst. Dort drehte sie sich herum, um Nemeth die Hand entgegenzustrecken.

Das Mädchen zögerte. Offensichtlich hatte es Angst und auch seine Mutter wirkte für einen Moment wieder unentschlossen. Dann aber erscholl hinter ihnen ein vielstimmiger Schrei, und als Robin hochsah, erkannte sie, dass vier Seile gleichzeitig aus dem unvergitterten Fenster auf der anderen Seite geworfen wurden. Gegen so viele bewaffnete und zu allem entschlossene Krieger hatten die halb verhungerten Sklaven nicht die geringste Chance. Jetzt blieben ihnen buchstäblich nur noch Augenblicke.

Saila schien wohl zu dem selben Schluss gekommen zu sein, denn sie packte ihre Tochter mit einer energischen Geste und hob sie hoch, ohne auf ihre erschrockenen Schreie und ihr Strampeln zu achten. Robin ergriff Nemeths dünne Handgelenke und zog sie zu sich hoch.

Das Mädchen schien fast nichts mehr zu wiegen. Robin war klar, dass sie ihm wehtat, als sie es zu sich heraufzerrte, aber auch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Behutsam richtete sie sich auf der schmalen Mauerkrone auf, sah zum gegenüberliegenden Rand der Straßenschlucht, die ihr plötzlich zehnmal tiefer und hundertmal breiter vorkam als noch kurz zuvor, dann legte sie Nemeth beide Hände auf die Schultern und zwang sie mit sanfter Gewalt, vor sie zu treten.

»Geh einfach los«, sagte sie. »Und sieh nicht nach unten.«

Das Mädchen weinte vor Angst und zitterte wie Espenlaub, aber es setzte gehorsam einen Fuß vor den anderen und balancierte langsam, zugleich aber mit erstaunlicher Sicherheit über die nebeneinander gelegten Balken. Robin folgte ihr mit heftig hämmerndem Herzen. Sie wagte es nicht, nach unten zu sehen, so wenig wie sie es wagte, in den Hof hinabzublicken. Aber was sie hörte, reichte vollkommen aus, um sie davon zu überzeugen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren. Die Schreie hinter ihr gellten lauter und dann vernahm sie das Klirren von Waffen und wütende Kampfgeräusche. Omars Männer waren im Hof.

Robin hatte noch nicht die Hälfte der Straße überquert, als sie unter sich Schreie und hastige Schritte hörte. Sie widerstand dem Impuls hinabzusehen, bemerkte aber, wie die ersten Verfolger unter ihr versuchten, mit ihren Speeren nach den Flüchtlingen auf der improvisierten Brücke hoch über ihren Köpfen zu stechen.

»Mama!«, wimmerte Nemeth. »Wo ist meine Mama?«

»Deine Mutter ist hinter uns«, versicherte Robin. »Geh weiter. Wir haben es gleich geschafft.«

Der Kampflärm auf dem Hof schwoll an. Kurz bevor sie das Aquädukt erreichten, sah Robin noch einmal in die Gasse hinab. Unter ihnen befanden sich mindestens fünf oder sechs von Omars Kriegern, und weitere Verfolger rannten mit weit ausgreifenden Schritten aus allen Richtungen heran. Überall in der Gasse wurde hinter den Fenstern Licht angezündet, und hier und da hatte sich bereits eine Tür geöffnet oder blickte ein verschlafenes Gesicht aus einem Fenster. Jemand war hinter ihr, aber sie wagte es nicht, sich herumzudrehen, um sich davon zu überzeugen, dass es tatsächlich Saila war.

Dann, endlich, hatten sie es geschafft. Vor ihr machte Nemeth einen letzten, großen Schritt und versank dann bis an die Waden im langsam fließenden Wasser des Aquädukts. Nur einen Augenblick später trat Robin von der notdürftig errichteten Brücke herunter und drehte sich sofort herum. Sie atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass es tatsächlich Saila war, deren Atemzüge sie hinter sich gehört hatte.

Aber nur für einen winzigen Moment. Dann wandelte sich ihr erleichtertes Seufzen in einen erschrockenen Schrei, als sie die Gestalt entdeckte, die sich weniger als zwei Schritte hinter der Araberin vorsichtig auf dem Balken aufrichtete. Es war kein weiterer Flüchtling, sondern einer von Omars Männern. Die Krieger hatten es aufgegeben, die Brücke mit nutzlosen Sprüngen erreichen zu wollen, sondern schließlich das getan, was Robin sofort in den Sinn gekommen wäre: Zwei von ihnen hatten die Hände auf die Schultern des jeweils anderen gelegt, sodass ein Dritter ihren Körper als Kletterhilfe benutzen und daran emporsteigen konnte. Saila taumelte an Robin vorbei, machte noch einen ungeschickten Schritt und fiel dann der Länge nach ins Wasser des gut meterbreiten Aquädukts, aber sie kam augenblicklich wieder auf die Füße, als sie Robins erschrockenes Keuchen hörte. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck zwischen Entsetzen und so vollkommener Mutlosigkeit, wie Robin ihn selten zuvor im Antlitz eines Menschen gewahrt hatte.

Der Krieger kam mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Er war ein wahrer Riese von einem Mann; der Säbel steckte in seinem Gürtel und sein Gesicht zeigte Wut und grimmige Entschlossenheit. Robin wusste, dass sie ihm nicht gewachsen sein würde. Dennoch versuchte sie, auf dem von Algen und Schlamm glitschigen Boden des gemauerten Kanals einigermaßen festen Stand zu finden, um den Angreifer in Empfang zu nehmen. Doch sie kam nicht dazu.

Saila kam ihr zuvor. So schnell, dass Robin die Bewegung kaum sah, geschweige denn begriff, was sie vorhatte, sprang sie in die Höhe, fuhr herum und warf sich dem Krieger mit weit ausgebreiteten Armen entgegen.

Der Angriff kam für den Mann völlig überraschend. Im letzten Moment duckte er sich leicht und versuchte zurückzuweichen, aber seine Reaktion war viel zu langsam. Saila prallte mit aller Wucht gegen ihn, riss ihn von den Füßen und umschlang ihn noch im Sturz mit den Armen. Hilflos und voller Entsetzen musste Robin mit ansehen, wie die beiden aneinander geklammerten Körper drei Meter tiefer auf dem harten Stein der Straße aufschlugen. Der Krieger rollte sich stöhnend zur Seite und krümmte sich, um mit beiden Armen seinen Leib zu umklammern. Saila rührte sich nicht mehr.

»Mama«, wimmerte Nemeth. »Was ist mit ihr?«

Robin blieb nicht einmal Zeit, ihr zu antworten. Die schmale Balkenbrücke hinter ihr war für einen Moment leer geblieben; Saila schien tatsächlich die letzte Sklavin gewesen zu sein, der die Flucht aus dem Hof gelungen war. Die Männer unten auf der Straße zögerten, Robin auf die gleiche Weise zu verfolgen, nachdem ihr Kamerad so unrühmlich von einem Weib niedergeworfen worden war. In diesem Moment erschien auf der gegenüberliegenden Mauerkrone der Schatten eines weiteren Kriegers, der sich hochstemmte, flüchtig zu ihr herübersah - und dann mit einem entschlossenen Schritt auf die Balken hinaustrat, den Säbel bereits in der rechten Hand.

»Mama!«, wimmerte Nemeth. »Du hast mir versprochen, dass sie mitkommt! Wo ist sie?«

»Jetzt nicht!«, sagte Robin. »Deine Mutter wird zu uns kommen, das verspreche ich dir. Aber nicht jetzt.« Sie machte eine beruhigende Geste in Nemeths Richtung, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von der näher kommenden Gestalt zu wenden. Bisher war nur dieser eine Krieger auf die Balken hinausgetreten. Vielleicht trauten seine Kameraden der Festigkeit der notdürftigen Brücke nicht, vielleicht glaubten sie aber auch, dass ein einzelner Mann alleine wohl ein paar flüchtende, halb verhungerte Sklaven zusammentreiben konnte.

Robin wartete, bis der Mann genau über der Straßenmitte war, dann versetzte sie den auf dem Sims aufliegenden Balkenenden einen heftigen Tritt. Der Wächter blieb erschrocken stehen, ruderte einen Moment wie wild mit beiden Armen und fand seine Balance im letzten Augenblick wieder. Er ließ jetzt alle Rücksicht fahren und versuchte, mit einem weiten Satz zu Robin zu gelangen.

Ein zweiter Tritt Robins ließ die ungleich langen Balken so weit verrutschen, dass einer von ihnen von seinem Halt glitt und auf die Straße hinabstürzte. Die Männer unten ihr sprangen schnell zur Seite und auch der Krieger brach seinen Angriff ab. Mit geradezu grotesk aussehenden Ruderbewegungen kämpfte er um sein Gleichgewicht. Der Säbel fiel ihm aus der Hand und prallte klirrend auf den Boden der Gasse.

Robin gab dem Mann nicht die Gelegenheit, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Ein letzter, noch wuchtigerer Tritt ließ einen zweiten Balken von der Mauer rutschen. Der Krieger stürzte mit einem keuchenden Laut nach unten, schlug schwer auf dem Rücken auf und wurde von einem der beiden letzten Balken, die Robin wütend zur Seite fegte, getroffen.

Robin zögerte keine weitere Sekunde und fasste Nemeth bei der Hand; sie stürmte nach links, nicht in die Richtung, in der die meisten Sklaven verschwunden waren, sondern genau entgegengesetzt. Das Mädchen wehrte sich heftig, versuchte sich loszureißen und schrie immer lauter nach seiner Mutter, und auch die Schreie und Rufe hinter ihnen wurden heftiger. In dem Durcheinander glaubte sie, Omars Stimme auszumachen, der wütend Befehle erteilte. Ohne sich noch einmal umzublicken, stürzte sie davon, so schnell es ihr auf dem glitschigen Boden möglich war.

Das Wasser war nicht einmal kniehoch und doch erstaunlich kühl. Die steinerne Rinne hatte kein starkes Gefälle, sondern war gerade ausreichend geneigt, um das Wasser in eine bestimmte Richtung fließen zu lassen. Aber ihr Boden war so schlüpfrig, dass Robin mehrmals strauchelte. Einmal fiel sie auf Hände und Knie herab, wobei sie Nemeth um ein Haar losgelassen hätte. Irgendwie gelang es ihr, das Mädchen fest zu halten und sich wieder auf die Beine zu kämpfen. Sie spürte, wie rasch ihre Kräfte jetzt schwanden. Ihr Herz hämmerte, als wollte es aus ihrer Brust springen, und jeder einzelne Schritt schien ihr mehr Mühe abzuverlangen als der vorige.

Und die Verfolger kamen eindeutig näher. Das Aquädukt musste mittlerweile eine Höhe von fünf Schritt oder mehr erreicht haben und stieg sanft, aber stetig weiter an. So sicher sie hier oben auch für den Moment vor ihren Verfolgern sein mochte, so deutlich zeichneten sich die Umrisse von ihr und Nehmet vor dem Nachthimmel ab. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis einer von Omars Kriegern auf das Aquädukt hinaufkletterte, um sie auf dem gleichen Weg zu verfolgen - falls Omar nicht endgültig der Geduldsfaden riss und er seinen Männern gestattete, ihrer Flucht mit einem wohl gezielten Pfeil ein Ende zu bereiten.

Plötzlich fasste sie neuen Mut: Vor ihnen stieg das Aquädukt noch ein Stück weiter an und verschwand dann hinter einer Mauerkrone. Fünf oder sechs Meter darunter endete die Straße vor einer massiven Wand. Ihre Verfolger würden auf diesem Weg nicht weiterkommen, und auf der anderen Seite wäre sie wenigstens für einige Momente ihren Blicken entzogen.

Ohne darauf zu achten, dass sie auf dem glitschigen Untergrund ausrutschen und stürzen könnte, beschleunigte Robin ihre Schritte, bis sie den höchsten Punkt des Aquädukts erreicht hatte. Vor Freude hätte sie fast aufgeschrien, als sie sah, dass die künstliche Wasserstraße dahinter einen scharfen Knick machte und dann dicht an den flachen Dächern mehrerer zweigeschossiger Häuser vorbeiführte. Ohne innezuhalten zog sie das Mädchen hinter sich her und stürmte noch gut zwanzig oder dreißig Schritte weiter, ehe sie stehen blieb und sich umsah.

Robin konnte die wütenden Schreie der Verfolger hören, zu sehen waren sie jedoch nicht mehr. Auch die Wasserrinne des Aquädukts hinter ihnen blieb leer. Überall ringsum in den Straßen waren Rufe zu hören und hektischer Lärm. In vielen Häusern bemerkte sie das gelbe Licht frisch entzündeter Öllampen, aber Robin und das Mädchen schienen noch niemandem aufgefallen zu sein.

Robin blickte einen Moment lang nachdenklich auf die Spur aus Wassertropfen, die rechts und links auf dem steinernen Sims des Aquädukts im Mondlicht schimmerten. Wer immer hier heraufkam, würde diese Tropfenspur bemerken. Aber vielleicht war das auch ganz gut so.

Robin lief noch ein weiteres Dutzend Schritte, bis sie das Dach eines Hauses erreichten, das kaum einen Meter unter ihnen lag. Hastig ließ sie sich in die Hocke sinken, sodass sich ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem Nemeths befand. »Du musst jetzt ganz genau tun, was ich dir sage«, verlangte sie. »Sie werden gleich hier sein. Wenn wir auch nur einen winzigen Fehler machen, dann werden sie uns wieder einfangen und bestrafen. Hast du das verstanden?«

Das Mädchen blickte sie starr aus ihren großen, vor Tränen schimmernden Augen an. Erst nach einer schieren Ewigkeit nickte es.

»Gut«, sagte Robin erleichtert. »Ich lasse dich jetzt los. Du wirst nicht weglaufen?«

Nemeth schüttelte den Kopf.

Robin war nicht ganz sicher, ob sie diesem Versprechen Glauben schenken sollte, aber welche Wahl hatte sie schon? Schweren Herzens ließ sie Nemeths Arm los, ließ sich noch weiter in die Hocke sinken und schöpfte mit beiden Händen Wasser, um es auf den Rand des Aquädukts und vor allem auf das Dach des nächsten Hauses zu spritzen. Sie bedeutete dem Mädchen, ihr zu helfen, und Nemeth begann sofort, es ihr gleichzutun. Schließlich war Robin sich sicher, eine Pfütze geschaffen zu haben, die nun wirklich nicht mehr übersehen werden konnte.

Dann richtete sie sich auf, gab Nehmet ein Zeichen und lief noch ein ganzes Stück weiter, bis sie eine Stelle erreichten, an der ein Haus unmittelbar an das Aquädukt grenzte. Ganz vorsichtig stieg sie aus dem Wasser und riss sich den Schleier ab. Mit dem kostbaren Stück Stoff verwischte sie die silbern schimmernden Tropfen, die sie als Spur auf den Steinen des Aquädukts hinterlassen hatte. Anschließend reichte sie ihn Nehmet und suchte dann mit beiden Händen nach festem Halt am steinernen Sims des Aquäduktes, um sich auf das unter ihr liegende Hausdach gleiten zu lassen. Doch als sie sich an ihren ausgestreckten Armen ganz in die Tiefe sinken ließ, pendelten ihre Füße noch immer ein gutes Stück über dem fest gestampften Lehm des Daches.

Sie schloss die Augen und zählte in Gedanken bis drei, dann ließ sie los. Der Sturz dauerte nur Bruchteile einer Sekunde, und er war weit weniger hart, als sie erwartet hatte, aber als sie aufkam, rutschte sie seitlich weg. Instinktiv ließ sie sich über die Schulter abrollen und nutzte den Schwung, um sogleich wieder auf die Füße zu kommen. Rasch lief sie die zwei Schritte zu Nemeth zurück und streckte die Arme in die Höhe.

»Spring!«, befahl sie.

Nemeth zögerte. Robin konnte ihr Gesicht nur als hellen Schemen in der Dunkelheit über sich ausmachen, aber die Angst in den Augen des Mädchens konnte sie deutlich erkennen - eine ganz andere, viel handfestere Furcht nun, die sie durchaus nachvollziehen konnte.

»Keine Angst«, sagte sie. »Ich fange dich auf. Das verspreche ich!«

Zwei, drei quälend lange Herzschläge vergingen, dann raffte Nemeth all ihren Mut zusammen, stieg auf den Sims und ließ sich mit geschlossenen Augen in Robins ausgestreckte Arme fallen.

Diesmal war der Aufprall sehr viel härter, als sie erwartet hatte. Das Mädchen mochte noch um die dreißig Pfund wiegen, aber aus zwei Metern Höhe herab riss sein Gewicht Robin dennoch von den Füßen. Mit ihrer zerbrechlichen Last in den Armen hatte sie keine Möglichkeit, den Aufprall abzufedern. Sie kam schwer auf der Seite auf, fühlte einen stechenden Schmerz, der durch ihren Ellbogen bis in die Schulter hinaufschoss und in ihrem Rückgrat zu explodieren schien, und schrie nur deshalb nicht vor Qual auf, weil ihr Nemeths Gewicht alle Luft aus den Lungen presste.

Ganz in der Nähe erklangen Schreie, Rufe, und das Trappeln näher kommender Schritte. Aus den Augenwinkeln gewahrte Robin das hektische Tanzen von rotem Fackellicht in einer nahen Gasse. Halb benommen richtete sie sich auf und stellte Nemeth behutsam auf die Füße.

Das Hausdach und der schwarze Schlagschatten der Mauer boten ein gutes Versteck. Sie bedeutete Nemeth mit einer Geste, ihr den Schleier zurückzugeben und sich dann in den Schatten zu kauern. Robin dagegen richtete sich halb auf und versuchte mit dem Schleier, die gröbsten Wasserflecken fortzuwischen, die Nemeth und sie bei ihrer unsanften Landung auf dem Dach hinterlassen hatten. Mit ein wenig Glück würde die falsche Spur, die sie weiter vorne gelegt hatte, ihre Verfolger davon abhalten, sich dieses Dach hier genau anzusehen.

Robin legte den Umhang wieder an, überzeugte sich davon, dass der Schleier sicher vor ihrem Gesicht befestigt war, und huschte dann zu Nemeth hinüber. Die Wahl ihres Versteckes, so erbärmlich es auch sein mochte, war richtig gewesen. Selbst sie hatte Mühe, das Mädchen in der Finsternis, die im Schlagschatten der Wand herrschte, zu finden. Es war nur ein leises Weinen, das ihr den Weg wies.

»Hast du dir wehgetan?«, flüsterte Robin. Sie sah nervös nach oben. Ringsherum schwollen Lärm und Licht auf der Straße an, aber die steinerne Brücke über ihnen blieb immer noch leer.

»Wo ist meine Mama?«, schluchzte Nemeth. »Du hast gesagt, sie wird kommen.«

»Das wird sie auch«, antwortete Robin. »Es wird vielleicht eine Weile dauern, aber du wirst sie wiedersehen.«

»Das ist nicht wahr«, schluchzte Nemeth. »Sie haben sie gefangen. Sie werden sie bestrafen oder vielleicht sogar töten.«

»Bestimmt nicht«, antwortete Robin. Sie kam sich richtig schäbig vor bei diesen Worten, - eine weitere Lüge, die zu plump war, als dass auch nur ein siebenjähriges Kind darauf hereinfallen konnte. Dennoch fuhr sie mit leiser, sehr ernster Stimme fort: »Wir werden deine Mutter suchen und befreien, das verspreche ich dir. Omar wird ihr nichts zuleide tun.«

Und noch ein Versprechen, das sie nicht würde halten können. Robin musste sich plötzlich mit aller Macht beherrschen, um nicht selbst in Tränen auszubrechen. Sie fragte sich, wie viele der Männer und Frauen, die sie zu diesem irrsinnigen Fluchtversuch überredet hatte, ihren Mut bisher schon mit dem Leben bezahlt hatten, und wie viele es noch werden würden, bis diese Nacht vorüber war.

»Warum nicht?«, fragte Nemeth.

»Weil er weiß, dass ich ihn dann töten würde«, sagte Robin. Sie hatte das gar nicht sagen wollen. Sie wollte in Gegenwart dieses Kindes nicht weiter von Gewalt und Tod und Sterben reden. Aber die Worte waren fast ohne ihr Zutun über ihre Lippen gekommen, und es lag eine solche Entschlossenheit darin, dass selbst Nemeth sie spüren musste, denn sie stellte keine weitere Frage mehr und hörte sogar auf zu weinen.

»Wir müssen jetzt ganz leise sein«, sagte Robin. »Sie werden gleich hier sein, um nach uns zu suchen. Bleib hier. Ganz egal, was geschieht, gib keinen Laut von dir, bis ich zurück bin. Versprichst du mir das?«

Nemeth starrte sie nur an und Robin deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Sie sah erneut zum Aquädukt hoch, dann ließ sie ihren Blick aufmerksam über das flache Dach des zweigeschossigen Gebäudes schweifen. Sie musste nicht lange suchen: eine gut einen Meter im Quadrat messende, hölzerne Klappe mit einem schweren eisernen Ring, um sie aufzuziehen. Darunter musste eine Treppe ins Haus hinabführen. Robin hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie dort erwarten würde, aber bisher war es unter ihnen still geblieben. Niemand schien das Geräusch gehört zu haben, mit dem Nemeth und sie auf dem Dach aufgeprallt waren.

Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als sie über sich verräterische Geräusche wahrnahm: hastige Schritte, die durch das Wasser des Aquädukts platschten. Erschrocken prallte sie zurück, presste sich neben Nemeth mit dem Rücken gegen die Wand und blickte mit angehaltenem Atem nach oben.

Das Mondlicht warf die Schatten von zwei, drei und schließlich vier Männern vor ihnen auf das Dach, die in der Wasserrinne des Aquädukts rasch näher kamen. Ihr Herz schien mitten im Schlag auszusetzen, als sie zu sehen glaubte, wie eine der Gestalten im Schritt verhielt und zu ihnen herabsah. Aber es war nur ein böser Streich, den ihr ihre überreizten Nerven spielten. Die Männer stürmten ohne innezuhalten weiter und folgten damit wohl der falschen Spur, die sie gelegt hatte.

Robin wagte kaum zu hoffen, dass der simple Trick mit der vorgetäuschten Wasserspur Erfolg haben könnte, aber sie wurde eines Besseren belehrt. Am Dach des Hauses angelangt, auf das sie Wasser verspritzt hatten, wechselten die Männer ein paar hastige Worte und sprangen dann ohne zu zögern in die Tiefe. Einen kurzen Moment lang konnte Robin noch ihre Silhouetten erkennen, dann hatten sie eine Klapptür gefunden und verschwanden einer nach dem anderen im Haus.

»Schnell jetzt!« Robin war mit zwei weit ausgreifenden Schritten bei der Dachluke, packte mit beiden Händen nach dem eisernen Ring und zerrte ihn in die Höhe. Die Angeln quietschten hörbar und in der vollkommenen Dunkelheit unter der Dachluke gaukelten ihr ihre Nerven Bewegung und Lärm vor. Doch es war noch immer still.

Aber das würde nicht lange so bleiben. Ihre Verfolger würden schon sehr bald begreifen, dass ihre Beute sie an der Nase herumgeführt hatte. Und spätestens dann würden sie ein Haus nach dem anderen durchsuchen.

Robin verwarf den Gedanken, sich in dem Gebäude unter ihnen zu verstecken, ebenso rasch wieder, wie er ihr gekommen war. Sie hatten nicht mehr als eine weitere, winzige Gnadenfrist gewonnen. Aber vielleicht ergaben viele kleine Chancen ja eine große.

Sie bedeutete Nemeth mit einer Handbewegung, ihr ohne ein Wort zu folgen, dann wandte sie sich um und tastete mit dem Fuß in die Dunkelheit unter sich hinein. Es gab keine Treppe, sondern nur eine Leiter, die hörbar unter Robins Gewicht ächzte. Ohne auf verräterische Geräusche zu achten, stieg Robin die unsichtbaren Sprossen hinab, trat einen Schritt zurück und sah ungeduldig zu Nemeth hoch. Das Mädchen schien sich davor zu fürchten, ihr in die Dunkelheit hinab zu folgen.

»Bitte, beeil dich!«, flüsterte Robin. »Wir müssen hier weg!«

Hinter ihr polterte etwas. Robin fuhr erschrocken herum und riss die Augen auf. In der fast vollkommenen Dunkelheit konnte sie jedoch rein gar nichts erkennen. Einen Moment später wiederholte sich das Poltern, dann fragte eine ebenso verschlafen wie auch leicht beunruhigt klingende Frauenstimme: »Was ist los, Said? Kann man denn niemals seine Ruhe haben?«

Robins Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit in der Kammer. Sie sah noch immer nur Schemen und ungleich verteilte Bereiche von hellem und dunklerem Grau und nicht weit entfernt glaubte sie, ein regelmäßig geformtes Rechteck auszumachen, das eine Tür sein konnte.

»Wer ist da?« Die Frauenstimme klang jetzt wacher und deutlich beunruhigt.

Doch Robin beachtete sie nicht weiter und tastete sich mit unsicher ausgestreckten Armen durch die Dunkelheit. Dabei stieß sie etwas mit dem Knie um. Im selben Moment hörte sie auch schon, wie ein Krug umstürzte und seinen Inhalt auf den Boden ergoss.

Irgendwo links von ihr stieß die Frauenstimme einen entsetzlich lauten Schreckensschrei aus.

»Nemeth! Zu mir!« Robin sprang blindlings vor, tastete mit fliegenden Fingern über die Tür und fand einen eisernen Ring. Einen Moment lang rüttelte sie vergeblich und mit aller Kraft daran. Schließlich kam sie auf die Idee, daran zu ziehen, und die Tür schwang mit einem erbärmlichen Quietschen in den Raum hinein.

Das Zimmer dahinter besaß zwei große Fenster, durch die das Mondlicht und der flackernde rote Schein der Fackeln draußen auf der Straße hereindrangen, sodass sie endlich wieder etwas sehen konnte. Die Frau hinter ihr schrie noch immer. Robin betete, dass ihre Schreie im Straßenlärm untergingen und sie niemand bemerkte.

Im Haus selbst wurde ihr dieses Glück jedoch nicht vergönnt. Robin war noch nicht ganz ins Zimmer getreten, da flog eine weitere Tür auf der anderen Seite der Kammer auf und ein Mann mittleren Alters mit zerzaustem Haar und einem struppigen Bart stürmte herein. Er hatte nichts weiter als ein Tuch um die Hüften geschwungen und war barhäuptig. In der linken Hand trug er eine kleine Öllampe, deren gelbe Flamme mehr Ruß als Licht verbreitete, aber seine Rechte umklammerte einen gekrümmten, zweischneidigen Dolch.

Robins Anblick schien ihn mindestens ebenso zu überraschen wie sie der seine, aber er wirkte nicht wirklich erschrocken, sondern eher verwirrt. Augenscheinlich hatte er mit einem Dieb gerechnet, keineswegs mit einer verschleierten Haremsdame und einem Kind. Allein die Art, in der er den Dolch hielt, machte Robin klar, dass dieser Mann kein ernst zu nehmender Gegner für sie war. Er hielt das Messer wie jemand, der lieber Zwiebeln damit schnitt, statt sich auf eine Messerstecherei einzulassen.

Trotzdem blieb sie auf der Hut. Sie hatte an diesem Tag schon zu viele Fehler gemacht, um sich noch einen weiteren leisten zu können. »Verzeiht die späte Störung, edler Herr«, sagte sie, in einem ängstlichen, unsicheren Ton. Wie beiläufig zog sie Nemeth hinter sich ganz durch die Tür und schob sie ein Stück zur Seite, während sie selbst einen Schritt auf den Bärtigen zutrat. »Ist das hier nicht das Haus des edlen Mustafa?«

»Mustafa?« Das Misstrauen in den Augen des Arabers wich nun endgültig Verblüffung und Hilflosigkeit. Er starrte sie einen kurzen Moment sprachlos an, dann machte er eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Nicken und einem Achselzucken lag. »Mustafa der Tapfere?«

Robin deutete ein Nicken an. Sie hatte bewusst einen Namen gewählt, der gewöhnlich genug war, damit mit einiger Wahrscheinlichkeit irgendjemand in dieser Straße so hieß. »Mein Herr Omar Khalid hat mich geschickt, um den Herrn des Hauses zu erfreuen«, sagte sie. »Ihr seid nicht...?«

»Omar Khalid, der Sklavenhändler?« Es fiel ihrem Gegenüber sichtlich schwer, den Sinn dieser Worte zu erfassen, aber darauf kam es nicht an. Robin war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt, und er schöpfte keinen Verdacht. Auch nicht, als sie demütig zu Boden blickend und mit gesenktem Haupt noch näher kam.

»Mustafa wohnt zwei Häuser weiter, aber ich glaube nicht, dass er...«

Sie war nahe genug. Der Mann sah den Tritt nicht einmal kommen, der sein Handgelenk traf und ihm den Dolch aus den Fingern prellte. Noch bevor die Waffe klirrend gegen die Wand donnerte, rammte ihm Robin den Ellbogen in den Magen. Der Araber fiel auf die Knie und japste nach Luft. Robin grub die Finger beider Hände in sein gelocktes Haar und schmetterte seine Stirn mit genügend Kraft auf den Boden, sodass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor.

Bevor sie sich aufrichtete, tastete sie nach der Ader an seinem Hals. Sie pochte heftig. Er würde bald wieder erwachen und vielleicht am nächsten Tag die schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens beklagen, ansonsten aber bestimmt keinen großen Schaden davontragen.

Als sie aufstand und sich zu Nemeth herumdrehte, erstarrte sie. Das Mädchen war dort stehen geblieben, wo sie es zurückgelassen hatte. Seine Augen waren weit aufgerissen, und ihr Ausdruck ließ Robin einen eisigen Schauer über den Rücken laufen.

»Was hast du getan?«, flüsterte Nemeth.

»Nicht jetzt«, sagte Robin. »Wir müssen weg!«

Sie streckte die Hand aus, aber Nemeth schüttelte nur den Kopf und wich einen Schritt vor ihr zurück. »Nein... mein Vater hatte Recht«, stammelte sie. »Du... du bist ein Dschinn! Ein böser Geist!«

»Unsinn«, widersprach Robin. »Ich bin kein Dschinn, nur eine ganz normale Frau.« Sie brauchte all ihre Kraft, um ihre Stimme wenigstens einigermaßen ruhig klingen zu lassen. Was sie in Nemeths Augen las, das schien ihr Herz wie ein glühender Messerstich zu durchbohren. Es war nackte Angst. Hatte sie jetzt auch noch das Vertrauen dieses Kindes verloren?

Wieder schüttelte Nemeth heftig den Kopf. »Mein Vater hatte Recht!«, beharrte sie. »Keine Frau auf der Welt kann so etwas!«

»Da, wo ich herkomme, können es alle Frauen«, behauptete Robin. Ihre Stimme wurde schärfer. »Komm jetzt! Wenn sie uns wieder einfangen, dann ist es auch um deine Mutter geschehen.«

Die Furcht stand Nemeth noch immer ins Gesicht geschrieben, als sie sich von ihrem Platz löste und auf Robin zutrat. Sie wich aber zugleich zur Seite, als Robin sie am Arm ergreifen wollte. Eine Geste, die sie empfindlich schmerzte.

Doch für ihren Schmerz hatte sie im Moment keine Zeit. In der Kammer hinter der offen stehenden Tür brüllte die unbekannte Frau nun lauthals, dass Mörder im Haus seien. Robin war klar, dass sie womöglich den allerletzten Rest von Vertrauen verspielte, den Nemeth ihr noch entgegenbrachte, aber sie hatte keine Wahl. Sie hob den Dolch auf, den der Bärtige ebenso wie die Öllampe fallen gelassen hatte (sie war zerbrochen, und brennendes Öl breitete sich in einer langsam größer werdenden Lache auf den hölzernen Dielen aus), kehrte ins dunkle Nebenzimmer zurück und ging auf die schreiende Frau zu, die jetzt vom flackernden Licht des um sich greifenden Feuers schemenhaft erhellt wurde. So hart sie konnte, packte sie die Frau bei der Schulter, presste sie aufs Bett zurück und setzte die Messerspitze an ihre Kehle.

»Ich will dich nicht töten, ich werde es jedoch tun, wenn du noch einen einzigen Laut von dir gibst«, sagte sie. »Said ist nichts geschehen, aber du musst ihn hier rausbringen. Euer Haus brennt. Und kein Wort, keinen Laut mehr, hast du das verstanden?«

Tatsächlich verstummte die Frau schlagartig. Robin konnte in der Dunkelheit nur ihre Augen erkennen, die von einer womöglich noch größeren Furcht erfüllt waren als die des Mädchens, aber es war eine Art von Furcht, die sie kannte. Die Frau würde nicht weiter schreien, sondern gehorchen.

Sie zog das Messer zurück und richtete sich auf. »Wir gehen jetzt«, sagte sie. »Bring deinen Mann in Sicherheit und versuch, das Feuer zu löschen. Danach kannst du meinetwegen um Hilfe rufen, so viel du magst.«

Sie kehrte zu Nemeth zurück, schob den Dolch unters Gewand und führte das Mädchen durch die Tür hinaus, durch die der Bärtige zuvor hereingekommen war. Dahinter lag eine steile hölzerne Treppe, die ins Erdgeschoss des Gebäudes hinabführte. Von draußen drangen Schreie und das Geräusch rascher Schritte herein und trotz der vorgelegten Fensterläden war der Raum von flackerndem rotem Licht zahlreicher Fackeln erfüllt.

Robin hoffte, dass sich nicht bald auch der lodernde Schein eines brennenden Hauses dazu gesellen würde. Sie bezweifelte, dass es der Frau gelingen würde, das Feuer ohne fremde Hilfe zu löschen. Bei einem sich eventuell ausbreitenden Brand konnten weitere Unschuldige zu Schaden kommen oder zumindest ihr Hab und Gut verlieren. Aber bei all der Schuld, die sie an diesem Abend schon auf sich geladen hatte, fiel das wohl kaum noch ins Gewicht, dachte sie bitter.

Um sich zu orientieren, blieb sie einen Herzschlag lang auf der letzten Stufe stehen. Die untere Etage des Hauses schien aus einem einzigen großen Raum zu bestehen - zumindest konnte sie nur eine Tür entdecken, die offensichtlich ins Freie führte. Die Möblierung war spärlich, um nicht zu sagen karg. Es gab einen Tisch und mehrere niedrige Hocker, eine offene Feuerstelle und zwei große Truhen, in denen die Hausbewohner wohl ihre persönliche Habe aufbewahrten. An der Wand direkt gegenüber des Eingangs hingen ein mit Leder bezogener Rundschild und ein Krummsäbel in einer Scheide, die mit rotem Stoff bespannt war.

Robin starrte Schild und Säbel einige Sekunden lang nachdenklich an, dann bedeutete sie Nemeth mit einer Geste, dort stehen zu bleiben, wo sie war, und durchquerte mit schnellen Schritten den Raum, um eine der beiden großen Truhen zu öffnen.

»Was tust du?«, fragte Nemeth. Vielleicht hielt sie sie jetzt zu allem Überfluss auch noch für eine Diebin, dachte Robin. Und damit würde sie der Wahrheit sogar ziemlich nahe kommen.

Die Truhe war mit Töpfen und Geschirr gefüllt, dazu mit einigen kleineren metallbeschlagenen Kästchen, die möglicherweise etwas von Wert enthielten, aber bestimmt nicht das, was Robin jetzt suchte. Ohne den Deckel wieder zu schließen, trat sie an die zweite heran, öffnete auch sie und atmete erleichtert auf.

»Was hast du vor?«, fragte Nemeth. Sie lief ein paar Schritte in Richtung Tür, machte dann mitten in der Bewegung kehrt und kam zu Robin zurück. »Was tust du da?«

»Sie suchen ein Mädchen und eine Frau in einem schwarzen Mantel«, antwortete Robin rasch. »Wenn wir so auf die Straße gehen, fangen sie uns schneller, als ich meinen Namen buchstabieren kann.«

Nemeth starrte sie nur verständnislos an und ihr Gesichtsausdruck wurde noch fassungsloser, als sie sah, wie Robin ihren Umhang zu Boden warf und stattdessen in einen schäbigen grauen Kaftan schlüpfte, den sie in der Truhe gefunden hatte. Er war ihr ein gutes Stück zu groß und vor allen Dingen viel zu weit, aber bei dem Chaos, das mittlerweile draußen herrschte, würde das vermutlich niemandem auffallen. Mit fliegenden Fingern grub sie in der Truhe, fand endlich einen gut zwei Meter langen Stoffstreifen, der irgendwann einmal weiß gewesen sein mochte, und versuchte, ihn sich um den Kopf zu wickeln.

»Was tust du?«, fragte Nemeth erneut.

»Die halbe Stadt sucht wahrscheinlich schon nach mir«, erwiderte Robin. »Einen Mann, der seinen halbwüchsigen Sohn in Sicherheit bringt, werden sie vielleicht nicht so genau ansehen.«

»Du willst dich als Mann verkleiden?«, keuchte Nemeth.

»Nicht nur mich«, antwortete Robin knapp. Während sie sich damit abmühte, den Schal so um ihren Kopf zu wickeln, dass er einen halbwegs passablen Turban abgab, hätte es nicht erst Nemeths vielsagenden Stirnrunzelns bedurft, um ihr klar zu machen, wie lächerlich das Ergebnis aussehen musste. Schließlich schüttelte das Mädchen den Kopf und forderte Robin mit einer Geste auf, in die Hocke zu gehen.

»Du kannst einen Turban binden?«

»Ich habe meinem Vater oft genug dabei zugesehen«, antwortete Nemeth. »Es ist ganz leicht.«

»Alles ist leicht, wenn man es kann«, knurrte Robin. Behutsam tastete sie mit den Händen nach dem Turban. Was sie ertastete, fühlte sich gut an. »Danke«, sagte sie. »Nur einen Moment noch.«

Rasch eilte sie zur anderen Seite des Raumes, nahm Schild und Säbel von der Wand und schob den linken Arm durch die Halteschlaufen des Schildes. Der Säbel fühlte sich sonderbar in ihrer Hand an, viel zu leicht, um wirklich eine Waffe zu sein, und für ihren Geschmack schlecht ausbalanciert. Und in diesem Moment geschah etwas, das ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Kaum hatte sie die Waffen angelegt, da spürte sie, wie sie ein neues Selbstbewusstsein erfüllte. Von einem Herzschlag auf den anderen schien sie nicht mehr die Sklavin Robin zu sein, sondern der Tempelritter Robin. Und auch wenn sie wusste, wie trügerisch dieses Gefühl sein mochte - es tat gut, sich wenigstens für einen Moment einbilden zu können, nicht mehr auf der Seite der Verlierer zu stehen.

Über ihnen im Haus erscholl ein dumpfes Poltern und wieder das spitze Schreien der Frau; die Laute rissen Robin in die Wirklichkeit zurück. Sie eilte zur Tür, winkte Nemeth herbei und streckte gleichzeitig die andere Hand nach dem Griff aus.

»Robin!«, sagte Nehmet leise.

Sie hielt inne und drehte sich ungeduldig zu dem Mädchen herum: »Was ist denn noch?«

Nemeth schüttelte den Kopf und hob die Hand ans Gesicht. »Dein Schleier.«

Ein jäher Schrecken durchfuhr Robin, als sie die Hand hob und feststellte, dass sie tatsächlich vergessen hatte, den schwarzen Schleier abzunehmen. In Nemeths Augen blitzte es kurz und amüsiert auf, aber Robin fand dieses kleine Versehen nicht im Geringsten komisch. Ein Fehler wie dieser konnte sie draußen auf der Straße den Kopf kosten. Sie sah in ihrer Verkleidung ohnehin vermutlich ziemlich lächerlich aus und konnte nur darauf hoffen, dass draußen in den Gassen der Stadt mittlerweile genug Durcheinander herrschte, um ihr prüfende Blicke zu ersparen. Aber ein kleinwüchsiger Mann in einem viel zu großen Kaftan und einem Schleier vor dem Gesicht würde selbst dem dümmsten ihrer Verfolger auffallen. Mit einer zornigen Bewegung riss sie das unnütze Ding ab, bedankte sich mit einem wortlosen Nicken bei Nemeth und öffnete die Tür.

Schon der erste Schritt aus dem Haus wurde zur Nagelprobe für ihre Verkleidung. Sie hatte ihn noch nicht einmal ganz zu Ende gebracht, als eine Gestalt von links herangestürmt kam und so wuchtig gegen sie prallte, dass sie das Gleichgewicht verlor und schwer gegen den Türrahmen stürzte. Auch der andere strauchelte, fand mit einem hastigen Ausfallschritt jedoch seine Balance wieder und wirbelte wütend zu ihr herum. Robins Herz machte einen Sprung, als sie einen von Omars Kriegern erkannte.

»Pass doch auf, Dummkopf!«, schrie der Araber. Seine Augen flammten vor Wut, und einen kurzen, aber schrecklichen Moment war Robin davon überzeugt, dass er sie erkannt hatte. Dennoch zwang sie sich, seinem Blick Stand zu halten. Kaum einer von Omars Kriegern hatte jemals ihr Antlitz zu Gesicht bekommen und plötzlich spürte sie eine flüchtige Sympathie für die Sitten dieses Landes, die sie genötigt hatten, dem anderen Geschlecht nur verhüllt unter die Augen zu treten.

Genau das rettete sie jetzt. Nach einem letzten wütenden Blick wandte sich der Mann ab und rannte weiter. Robin richtete sich vorsichtig am Türrahmen wieder auf und atmete erleichtert aus. Sie spähte aufmerksam nach rechts und links, bevor sie zum zweiten Mal dazu ansetzte, das Haus zu verlassen.

Die Gasse, die kaum breiter als einen Meter war und auf der gegenüberliegenden Seite von einer gut sechs Meter hohen Wand begrenzt wurde, war leer, aber an beiden Enden erkannte sie flackernden roten Feuerschein und zahlreiche, hin und her hastende Gestalten. Sie versuchte noch einen Moment lang, sich zu orientieren, musste sich dann aber eingestehen, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, welche Richtung sie nun einschlagen sollte. Vermutlich war das sowieso egal. Sie ergriff Nemeths Hand und ging so schnell wie möglich, ohne wirklich in einen Laufschritt zu verfallen. Das Mädchen sah mehrfach verstört zu ihr hoch, aber es schien jetzt wenigstens seine Angst vor ihr verloren zu haben.

»Wohin gehen wir?«, fragte Nemeth nach einer Weile.

»Still!«, zischte Robin. Nach einem Moment und leiser fügte sie hinzu: »Ich weiß es noch nicht. Erst einmal weg hier. Irgendwohin, wo es ruhiger ist. Vielleicht aus der Stadt heraus.«

»Aber du hast versprochen...«

»Wir werden deine Mutter holen«, unterbrach sie Robin. »Aber das können wir nicht, wenn sie uns vorher erwischen, verdammt noch mal!«

Nemeth erwiderte nichts, und Robin hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Die Worte hatten ihr schon Leid getan, noch ehe sie sie ganz ausgesprochen hatte. Wollte sie es diesem Kind wirklich verdenken, dass es verunsichert war und ihr nicht mehr traute?

Dann hatten sie das Ende der Gasse erreicht. Vor ihr lag ein weiterer, an drei Seiten von dicht stehenden Häusern begrenzter Platz, auf den gleich ein halbes Dutzend Straßen hinausführte. Das Durcheinander war unbeschreiblich. Hunde kläfften und knurrten, dass einem das Blut in den Adern gefror. Robin hörte das Klirren von Waffen, das wütende Geschrei von Männern sowie hektischen Hufschlag, und gerade als sie aus der Gasse heraustrat, sprengte ein Trupp von vier Reitern auf den Platz heraus, angeführt von Omar Khalid selbst und seinem ganz in Schwarz gekleideten Leibwächter.

Der martialische Auftritt des Sklavenhändlers ließ die Stimmung überkochen. Weder Omar noch seine Begleiter schienen geneigt, auch nur die geringste Rücksicht auf die Menschen vor ihnen zu nehmen. Robin musste mit ansehen, wie zwei Männer nicht schnell genug zur Seite sprangen und einfach niedergeritten wurden, doch dann blieben die Pferde hoffnungslos in der Menschenmenge stecken. Schmerzensschreie gellten auf. Eines der Tiere stieg mit einem schrillen Wiehern auf die Hinterbeine und warf seinen Reiter ab. Einer der beiden Sklaven, die mittlerweile überwältigt worden waren, nutzte das Durcheinander, um sich loszureißen und in der Menge unterzutauchen. Bevor er verschwand, sah Robin noch, dass er aus einem tiefen Schnitt quer über die Stirn blutete.

»Dort!« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die andere Seite des Platzes, wo sich die schmale Gasse fortsetzte, durch die sie gekommen waren. Hinter dem flackernden Licht, das den Platz erhellte, wirkte sie wie eine Schlucht aus schwarzer Nacht. Die Dunkelheit dort drüben war im Moment vermutlich ihr sicherster Verbündeter. Sie ließ Nemeths Arm los, trat hinter das Mädchen und legte ihm die Hand auf die Schulter, um es mit sanfter Gewalt vor sich her zu dirigieren.

Schnell, aber ohne zu rennen und damit vielleicht aufzufallen, drängten sie über den Platz und steuerten die Fortsetzung des schmalen Mauerweges an. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, wohin er führte, aber ein Weg, der sie hier wegbrachte, verhieß Rettung. Vielleicht gelang es ihr womöglich, den Fluss zu erreichen, um dort ein kleines Boot zu stehlen, mit dem sie schneller und vor allem ungesehen aus der Stadt herauskamen. Mit sehr viel Glück schafften sie es vielleicht sogar bis zum offenen Meer.

Sie hatte den Platz fast überquert, als hinter ihr ein scharfer Ruf erklang. Die Nacht war voller Schreie und Lärm und dennoch wusste sie, dass man sie gemeint hatte. Trotzdem ging sie stur weiter und irgendwie gelang es ihr sogar, den Impuls zu unterdrücken, sich Nemeth einfach unter den Arm zu klemmen und loszurennen.

»Du sollst stehen bleiben, habe ich gesagt!« Die Stimme klang jetzt eindeutig wütend. Robin glaubte, inmitten des Lärms schwere Schritte zu hören, die sich an ihre Fersen geheftet hatten. Aber die rettende Gasse lag jetzt so dicht vor ihr. Noch zwei Schritte, dann einer. Sie erreichte die schützende Dunkelheit im selben Augenblick, in dem sich eine harte Hand auf ihre Schulter legte und sie wütend herumriss.

»Wo du hin willst, habe ich dich gefragt! Wieso läufst du mit einem Kind durch die Straßen? Weißt du denn nicht, dass es einen Sklavenaufstand gegeben...«

Der Mann verstummte mitten im Wort, als sich Robin gänzlich herumgedreht hatte und er in ihr Gesicht starrte. Auch er gehörte zu Omars Wächtern - und nicht nur Robin hatte ihn, sondern er hatte auch sie erkannt. Auf seinem breiten, groben Gesicht erschien ein Ausdruck ungläubiger Überraschung. Dann ließ er ihre Schulter los. Robin trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück, hob den Schildarm etwas höher und wischte mit einer schnappenden Bewegung aus dem Handgelenk heraus die Hülle aus Ziegenfell von der Klinge des Krummsäbels. Sie begriff mit einem Male, dass ihre Flucht hier und jetzt zu Ende war, und sie wollte diesen Mann so wenig töten wie den Wächter oben auf ihrem Zimmer, aber sie würde lieber im Kampf sterben, als sich erneut gefangen nehmen zu lassen.

Die Reaktion des Kriegers war jedoch völlig anders, als sie erwartet hatte. Er trug ein blank gezogenes Schwert in der rechten sowie eine heftig flackernde Pechfackel in der linken Hand, und er stand in der eindeutig besseren Position für einen Angriff da, aber er stürzte sich weder auf sie, noch schrie er nach seinen Kameraden. Robin war nicht ganz sicher, ob die Verblüffung auf seinem Gesicht eher den Männerkleidern galt, die sie trug, oder ihren Waffen, aber gleichwie: Sie verschaffte ihr die winzige Zeitspanne, die sie brauchte. Sie ließ den Säbel fallen, hob die plötzlich frei gewordene Hand an seine Brust und zerrte ihn zu sich in die Gasse herein. Er schien so überrascht, dass er nicht einmal auf die Idee kam, Widerstand zu leisten, - er machte nur einen ungeschickt stolpernden Schritt, um nicht zu stürzen.

Robin rammte ihm die Schildkante in den Leib, genau an jene Stelle zwischen die Rippen, die Salim ihr gezeigt hatte, und mit solcher Wucht, dass der Krieger das Bewusstsein verlor, noch bevor er zusammenbrach. Ungeschickt fing Robin ihn auf, taumelte unter seinem Gewicht zwei Schritte weiter in die Gasse hinein und prallte schließlich mit dem Rücken hart gegen die Wand. Das Gewicht des schlaffen Körpers ließ sie auf die Knie fallen, und sie wäre sicherlich ganz gestürzt, wäre Nemeth nicht hinzugesprungen und hätte ihr geholfen. Keuchend arbeitete sich Robin unter dem bewusstlosen Mann hervor, schenkte Nemeth ein dankbares Nicken und griff dann unter seine Achseln, um ihn noch weiter in die Gasse hineinzuziehen, bis sie sicher war, dass er von außen nicht mehr gesehen werden konnte.

Er hatte Fackel und Schwert fallen gelassen. Robin hob es auf, wog es einen Moment prüfend in der Hand und beschloss dann, es anstelle des Krummsäbels zu behalten, der ohnehin kaum mehr als ein Spielzeug gewesen war. Diese Waffe war schwerer, dafür nicht so lang, und sie lag fast so gut in ihrer Hand wie ihr eigenes Breitschwert, das sich jetzt vermutlich mit allen anderen Beutestücken irgendwo in Omars Schatzkammer befand. Als Letztes hob sie die Fackel auf, die dem Krieger entglitten war. So gab sie zwar den Schutz der Dunkelheit preis. Aber ein Mann, der eine Fackel trug und in ihrem flackernden Schein die Gasse absuchte, würde im Moment vermutlich weniger auffallen als eine Gestalt, die sich im Dunklen herumdrückte.

Nemeth sah ihr mit einer Mischung aus Bewunderung und Staunen entgegen, als sie sich herumdrehte. »Und du bist ganz sicher, dass du kein Dschinn bist?«, fragte sie.

»Ganz sicher«, bestätigte Robin.

Das Mädchen nickte nachdenklich, sah auf den reglosen Krieger herab und dann mit gerunzelter Stirn in Robins Gesicht. »Es ist also bei euch Ungläubigen üblich, dass die Frauen ihre Männer verprügeln?«

Diesmal kostete es Robin Mühe, nicht laut loszulachen. Ihr war nicht nach Albernheiten zumute, und Nemeth hatte auch keineswegs einen Scherz machen wollen. Aber in diesem Moment beneidete Robin sie um diese kindliche Unverstelltheit wie um nichts anderes in der Welt. »Wir sprechen später darüber«, sagte sie. »Jetzt lass uns gehen. Ich glaube, dort hinten ist es ruhiger.«

Sie deutete mit einer Kopfbewegung in die Gasse hinein. Irgendwo an ihrem Ende brannte ebenfalls Licht, aber es war nur der gelbe Schein einer Öllampe, der aus einem Fenster fiel, nicht das hektische Hin und Her von Fackeln, die von rennenden Männern geschwenkt wurden. Sie erinnerte sich an die Worte des Kriegers, der von einem Sklavenaufstand berichtet hatte. Wenn man bedachte, dass wahrscheinlich nicht mehr als einem Dutzend Männern und Frauen die Flucht aus dem Hof gelungen war, so war das hoffnungslos übertrieben. Aber auf der anderen Seite wusste sie auch, wie schnell Gerüchte, gerade in einer Situation wie dieser, die Runde machten. Wenn die Bewohner von Hama wirklich glaubten, es mit einer ausgewachsenen Sklavenrevolte zu tun zu haben, dann würde bald die nackte Panik in der Stadt um sich greifen; eine bessere Gelegenheit zu entkommen konnte sie sich kaum wünschen.

Robin beschleunigte ihre Schritte und wandte ein paar Mal den Kopf, um die Gasse hinter sich im Auge zu behalten. Schließlich blieb sie wieder stehen. Sie mussten sich mittlerweile gut hundert Schritte vom Platz und damit von Omar und dem Großteil seiner Männer entfernt haben. Ohne zu zögern warf sie die Fackel zu Boden und trat sie aus. Die Dunkelheit schlug wie eine erstickende Woge über ihnen zusammen.

Für einen Moment drohte Robin in Panik zu geraten, als sie einen riesigen Schatten wahrzunehmen glaubte, der hinter ihr in der Gasse emporwuchs. Dann wurde ihr klar, dass es nur eine Täuschung war. Ein weiteres Wunder! Niemand hatte sie bemerkt, niemand verfolgte sie.

»Haben wir es geschafft?«, flüsterte Nemeth.

Robin zuckte mit den Schultern, obwohl ihr klar wurde, dass das Mädchen die Bewegung in der fast vollkommenen Dunkelheit nicht sehen konnte. Sie hätte ihre Frage bejahen müssen, schon um Nemeth zu beruhigen, aber es widerstrebte ihr, sie zu belügen. »Ich hoffe es«, sagte sie. »Kennst du den Weg zum Fluss hinunter?«

»Nein. Ich war niemals hier.«

Ebenso wenig wie Robin. Aber wie es aussah, waren sie zumindest für den Moment in Sicherheit, und Robin gedachte, diese Atempause zu nutzen, bevor sie sich einer neuen Herausforderung zuwandte. Ihr ganzer Körper fühlte sich zerschlagen an und dort, wo der Krieger ihren Oberschenkel getroffen hatte, war der Schmerz fast unerträglich. Sie musste sich eingestehen, dass sie mit ihren Kräften beinahe am Ende war, und Nemeth konnte es kaum besser ergehen. Es war überhaupt erstaunlich, dass das Mädchen sich noch so gut hielt - schließlich hatte es eine ganze Weile im Sklavenverlies hinter sich. Robin bewunderte im Stillen die Tapferkeit dieses Kindes und sie betete, dass sie auch weiter anhalten möge. Ebenso wie ihre eigene.

Plötzlich erwachte die Dunkelheit vor ihr zum Leben. Der Hund hatte nicht den geringsten Laut von sich gegeben, kein Bellen, kein Knurren, kein verräterisches Hecheln oder Schnüffeln, nicht einmal das Scharren harter Krallen auf gepflastertem Boden; er war von einem Herzschlag auf den anderen einfach da, als hätte sich die Dunkelheit selbst zu schwarzer Materie zusammengeballt und den riesigen Bluthund ausgespien. Nemeth stieß einen gellenden Schrei aus und wich zurück; Robin fand gerade noch Zeit, das Mädchen hinter sich zu zerren und den Schildarm schützend vor ihr Gesicht zu heben.

Alles ging viel zu schnell, als dass sie auch nur noch einen einzigen klaren Gedanken hätte fassen können. Selbst wenn die Gasse nicht zu eng gewesen wäre, um das erbeutete Schwert zu schwingen und den Angriff des Hundes damit abzuwehren, so wäre ihr nicht annähernd genug Zeit dazu geblieben. Der Hund, ein riesiges, mindestens sechzig oder siebzig Pfund wiegendes Tier, stieß sich mit einer kraftvollen Bewegung ab und prallte mit solcher Wucht gegen Robins hochgerissenen Schild, dass er sie einfach von den Füßen gerissen hätte, wäre sie nicht gegen die Wand geschleudert worden. Auch so verlor sie den Halt und stürzte mit so unglücklich verdrehtem Bein nach hinten, dass ihr für einen Moment vor Schmerz übel wurde.

Das Schwert entglitt ihrer Hand und verschwand irgendwo klappernd und unerreichbar in der Dunkelheit. Dann war der Bluthund wieder über ihr, ein knurrendes, geiferndes Ungeheuer, dessen Krallen wie stumpfe Dolche über ihren Schild fuhren und das zähe Leder zerfetzten, als wäre es nichts weiter als Papier.

Seine gewaltigen Kiefer schnappten nach ihrer Kehle, die sie nur verfehlten, weil Robin im allerletzten Moment verzweifelt den Kopf so weit in den Nacken warf, wie sie konnte. Dabei knallte ihr Hinterkopf abermals und noch viel härter diesmal auf das Straßenpflaster. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie spürte, wie ihre Kräfte wichen und sie das Bewusstsein zu verlieren drohte. Hinter ihr schrie Nemeth schrill auf und dann hörte sie das Knurren eines zweiten, vielleicht sogar eines dritten Hundes sowie das Klacken rasiermesserscharfer Krallen, die sich in rasendem Tempo näherten.

Es war dieses Geräusch, das sie zwang, bei Bewusstsein zu bleiben. Das zweite Tier würde Nemeth angreifen. Robin hatte oft und lange genug bei der Ausbildung von Bluthunden zugesehen, um zu wissen, wie die Tiere vorgingen. Ähnlich einer domestizierten Wolfsmeute griffen sie meistens in Gruppen von zweien oder dreien an, - dabei waren sie geschulter, intelligenter und ungleich bösartiger als ihre wilden Vorfahren. Das zweite Tier würde sich auf das hilflose Mädchen stürzen und es zerreißen. Nemeth hatte nicht die allergeringste Chance.

Panik und Todesangst verliehen ihr schier übermenschliche Kräfte. Robin bäumte sich auf, achtete nicht auf den grausamen Schmerz, der wie flüssige Lava durch ihr rechtes Bein tobte, und stieß den Hund mit einer gewaltigen Kraftanstrengung von sich. Das Tier heulte vor Wut schrill auf, fiel auf die Seite und schnappte noch im Sturz nach dem Schild, mit dem Robin es davongeschleudert hatte. Ein entsetzlicher knirschender Laut erscholl und Robin fühlte sich zu Eis erstarrt, als sie sah, wie die Kiefer des Tieres ein fast handgroßes Stück aus dem Schildrand herausbissen. Und dann wuchs hinter der Bestie ein zweiter Schatten heran, klein, gedrungen, mit glühenden Augen und schnell, unglaublich schnell.

Robin warf sich blindlings nach vorne, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil nachzudenken. Ihr hochgerissener Schild und der Hund trafen im Flug zusammen. Das Tier wurde zurückgeschleudert und schlug winselnd auf dem Boden auf, aber auch sie stürzte - und landete unmittelbar auf dem ersten Hund, der sich in diesem Moment wieder hochgerappelt hatte!

Das Tier brach unter ihrem Gewicht zusammen und heulte auf, während Robin versuchte, sich herumzuwerfen und an den Dolch zu gelangen, den sie unter dem Gewand trug.

Sie schaffte es nicht. Noch während sie sich auf den Rücken wälzte und den Schild hochriss, war die andere Bestie mit unglaublicher Schnelligkeit wieder auf die Füße gekommen und attackierte sie erneut. Wieder schnappten ihre Zähne nach ihrem Gesicht. Übel riechender Speichel troff aus ihrem Maul. Robin nahm noch einmal all ihre Kräfte zusammen, um den Hund mit dem hochgestemmten Schild von sich wegzudrücken. Doch vergebens. Es gelang ihr nur wenige Fingerbreit, kaum genug, um seine schnappenden Kiefer von ihrer Kehle fern zu halten.

Mit der anderen Hand versuchte sie ein letztes Mal, an den Dolch heranzukommen, aber ihre Finger verhedderten sich in den Falten des gestohlenen Gewandes und sie war plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob sie das Messer nicht schon längst irgendwo verloren hatte. Blindlings trat sie aus. Aber der Schmerz, der dabei durch ihr verletztes Bein pulsierte, war zehnmal schlimmer als der, den sie dem Hund zufügen konnte. Das Tier heulte wütend auf, warf sich erneut gegen sie - und schließlich geschah, was Robin die ganze Zeit über befürchtet hatte: Die scharrenden Pfoten der Bestie rissen ihren Schildarm zur Seite und plötzlich war zwischen seinem geifernden Maul und ihrer Kehle nichts mehr. Spitze, gekrümmte Reißzähne bleckten nach ihrem Gesicht und das Heulen des Hundes klang mit einem Mal fast triumphierend.

Sie wusste, dass es wahnsinnig war, was sie nun tat. Mit einem verzweifelten Satz warf sie sich dem Hund entgegen, umschlang ihn mit beiden Armen und presste das Gesicht an seinen Hals, so fest sie nur konnte. Der Bluthund strampelte und wand sich unter ihrem Griff. Er war fast so schwer wie sie, doch doppelt so stark. Dennoch umklammerte Robin das Tier mit aller Kraft; gleichzeitig spürte sie, wie lächerlich ihre Anstrengung gegen die Gewalt dieser tobenden Bestie war. In einer letzten Kraftanstrengung warf sie sich herum, begrub den Hund unter sich und riss seinen Kopf zur Seite.

Ein trockenes Knacken erklang, ähnlich dem Geräusch eines brechenden Astes. Der Hund heulte noch einmal gellend auf, ehe er in ihren Armen erschlaffte. Keinen Augenblick zu früh, denn auch Robins Kräfte waren endgültig erschöpft. Ihre Hände öffneten sich. Sie rollte seitwärts von dem Hund herunter und auf den Rücken, wo sie sekundenlang bewusstlos liegen blieb.

Das Erste, was sie sah, als sich die schwarzen Schleier vor ihren Augen lichteten, war Nemeths Gesicht mit vor Schreck geweiteten Augen. Und dann war auch der Schmerz in ihrem Bein wieder so stark, dass sie laut wimmerte.

»Robin!«, keuchte Nemeth. »Was... was hast du?«

Robin war zu erschöpft, um zu antworten. Mit zusammengebissenen Zähnen richtete sie sich halb auf, drehte sich zur Seite und kroch ein Stück weit von dem Hund fort. Die Kreatur lag lang ausgestreckt und reglos neben ihr.

»Du... du hast ihm das Genick gebrochen«, stammelte Nemeth. »Aber wie... wie hast du das... gemacht?«

Das erzähle ich dir, wenn ich es selbst weiß, dachte Robin. Sie antwortete nicht laut auf Nemeths Frage, sondern kroch noch ein Stück weiter von dem toten Hund fort, ehe sie sich auf die Knie hochstemmte und schließlich die rechte Hand ausstreckte, um sich mühsam an der Wand in die Höhe zu ziehen. Sie konnte kaum stehen. Ihr rechtes Bein schien zwar nicht gebrochen zu sein, aber es schmerzte unerträglich, und ihr Schildarm, mit dem sie zweimal den Anprall des riesigen Hundes aufgefangen hatte, war nahezu taub. Sie blickte benommen auf das tote Tier hinab und der Anblick kam ihr irgendwie unwirklich vor. Nemeth hatte völlig Recht: Sie hatte dem Hund das Genick gebrochen, aber etwas in ihr weigerte sich einfach zu glauben, was ihre Augen sahen.

»Du hast sie beide getötet«, flüsterte Nemeth.

»Beide?«, murmelte sie verständnislos.

Nemeth nickte, und erst diese Geste brachte Robin wieder in Erinnerung, dass der Hund nicht allein gewesen war. Sie hatte das zweite Tier zurückgeschleudert, dann aber aus den Augen verloren.

Robin bedeutete Nemeth, das Schwert aufzuheben und ihr zu reichen, dann biss sie die Zähne zusammen und belastete vorsichtig ihr rechtes Bein. Es schmerzte, aber sie konnte gehen, auch wenn sie jeden einzelnen Schritt wie einen glühenden Dolch spüren würde, der sich in ihre Hüfte bohrte.

Erst nachdem sie das beruhigende Gewicht des Schwertes wieder in der rechten Hand spürte, wagte sie es, mit einem unbeholfenen Schritt über den toten Hund hinwegzusteigen und nach dem zweiten Tier Ausschau zu halten. In der fast vollkommenen Dunkelheit der Gasse sah sie den schwarzen Kadaver erst, als sie nur noch einen Schritt davon entfernt war. Der Hund lag reglos auf der Seite. Sie hörte kein Atmen, kein Knurren. Als sie ihn vorsichtig mit der Spitze des Schwertes anstieß, reagierte er nicht. Unendlich behutsam, das Schwert zum Zustoßen bereit am Hals des Tieres, ließ sie sich in die Hocke sinken.

»Du hast auch ihn getötet«, sagte Nemeth. »Du hast ihn mit dem Schild erschlagen.«

Robin antwortete nicht. Sie starrte aus weit aufgerissenen Augen auf den Kadaver des Hundes hinab, aber sie begriff nicht, was sie sah. Ein unheimlicher, eisiger Schauer kroch ihren Rücken hinab. Ihre Hand zitterte, als sie den Arm ausstreckte und den Metallgegenstand berührte, der aus der Kehle des Hundes ragte.

»Was ist das?«, murmelte sie. Sie musste eine Menge Kraft aufwenden, um das Ding, das den Hund getötet hatte, aus seinem Fleisch zu ziehen. Warmes Blut sprudelte aus der zerfetzten Kehle des Tieres, besudelte ihre Hand und ihren Kaftan.

Beunruhigt bewegte sie die Hand hin und her, um ihren Fund in der Dunkelheit besser erkennen zu können. Es war eine Waffe, ganz ohne Zweifel, aber eine, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Was sie in den Fingern hielt, war ein fünfzackiger geschmiedeter Stern aus schwarzem Metall, der rasiermesserscharfe Kanten und nadelscharfe Spitzen hatte. Sie hatte den Hund nicht getötet. Ihr Schildstoß hatte ihn zurückgeschleudert und ihm allenfalls wehgetan. Getötet hatte ihn dieser sonderbare Stern, den ihm jemand in die Kehle gerammt hatte.

»Was ist das?«, fragte sie noch einmal. Sie drehte sich ein wenig herum und streckte den Arm aus, damit Nemeth sehen konnte, was in ihrer Handfläche lag. Das Mädchen sog erschrocken die Luft ein und prallte so hastig einen Schritt zurück, als hätte Robin ihr einen giftigen Skorpion entgegengestreckt, nicht ein Stück Eisen.

»Bei Allah!«

»Du weißt, was das ist«, vermutete Robin.

Nemeth nickte zögerlich. Ihr Blick hing wie gebannt an dem fünfzackigen Stern und sie streckte eine Hand vor, als wollte sie fürchterliches Unheil von sich abwenden.

»Sag es mir«, verlangte Robin.

»Ich weiß nicht, wie... wie man so etwas nennt«, murmelte Nemeth. »Aber die Ismailiten benutzen so etwas.«

»Die Ismailiten?« Robin wurde hellhörig. »Was sagst du da? Du weißt von den Ismailiten? Wer sind sie?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Nemeth. Ihre Stimme zitterte vor Angst. Robin spürte, dass sie nicht die Wahrheit sagte. »Sie sind... man sagt, sie seien Geister. Böse Dämonen, die die Nacht in der Wüste wohnen und nur Unheil und Tod bringen.«

»Nemeth, bitte«, sagte Robin eindringlich. Sie zog die Hand zurück, als sie sah, dass das Mädchen noch immer voller Panik auf den Eisenstern in ihrer Handfläche starrte. »Das ist wichtig. Ich muss wissen, wer diese Leute sind. Was sie sind.«

»Ich weiß es nicht!«, behauptete Nemeth. »Niemand spricht über sie. Wenn man über sie redet, dann kommen sie, um einen zu töten oder einem noch Schlimmeres anzutun.«

Robin gab auf. Sie spürte, dass sie von dem Mädchen jetzt nicht mehr erfahren würde. Vielleicht war das auch gut so. Es war sowieso unglaublich, wie tapfer die Kleine die letzten Stunden überstanden hatte.

In trüben und gleichermaßen kraftlosen Gedanken gefangen, hätte sie die sonderbare Waffe beinahe eingesteckt. Doch dann legte sie sie angewidert wieder auf dem Boden ab, richtete sich auf und drehte sich mit einem entschlossenen Ruck um. Soweit sie beurteilen konnte, waren sie und Nemeth die einzigen lebenden Wesen hier. Aber das konnte täuschen, wie der Angriff der Hunde gerade bewiesen hatte. Und vor allem beunruhigte sie ein Gedanke: Wo Bluthunde waren, da waren im Allgemeinen auch Hundeführer.

»Komm!«, sagte sie. »Wir müssen weiter!«

»Und du bist ganz sicher, dass du auch wirklich kein Dschinn bist?«, fragte Nemeth fast unhörbar.

Robin lachte leise. »Diese Frage beantworte ich dir, wenn wir hier raus sind.«

Im selben Moment bedauerte sie bereits ihre Worte. Es war absolut unnötig, das Mädchen jetzt auch noch mit dummem Gerede zu verunsichern. Sie streckte die Hand aus, um ihm beruhigend über den Kopf zu fahren.

Als Nemeth erschrocken zurückzuckte, ließ Robin den Arm sofort wieder sinken. Plötzlich spürte sie einen bitteren Kloß in der Kehle. So unglaublich die Glückssträhne zu sein schien, die sie an diesem Abend hatte - vielleicht war der Preis, den sie dafür zahlen musste, am Ende doch zu hoch.

Ohne einen weiteren Zwischenfall erreichten sie das jenseitige Ende der Gasse. Einen verzweifelten Moment lang zögerte sie, den Schutz der menschenleeren Gasse zu verlassen, denn vor ihnen war die Nachtstille dem Flackern zahlreicher Lichter und nervös umherhastender Menschen gewichen. Wenigstens bemerkte sie keine Krieger, keinen von Omars Männern und auch sonst niemanden, der irgendwie verdächtig erschien - was vielleicht auch daran lag, dass diese Gegend weitaus ärmlicher wirkte als die, die sie bereits hinter sich gelassen hatten.

Unter diesen Bedingungen blieb ihnen kaum eine andere Wahl, als dem einmal eingeschlagenen Weg zu folgen. Wenn ihr Orientierungssinn sie nicht völlig im Stich gelassen hatte, dann mussten sie sich jetzt ungefähr auf halbem Wege zwischen Omars Haus und dem Fluss befinden, - somit auf halbem Weg zur Freiheit. Wenn ihre Glückssträhne auch nur noch so lange anhielt, dass sie den vor ihnen liegenden Platz überqueren und in das Labyrinth schmaler Sträßchen und Gassen dahinter eintauchen konnten, dann waren sie endgültig gerettet.

Sie hielt nicht an. Wenn es so etwas wie ein allmächtiges, lenkendes Schicksal wirklich gab, dann hatte sie ihren Kredit bei ihm in dieser Nacht eindeutig überzogen. Robin und Nemeth hatten gerade die Mitte des Platzes erreicht, als hinter ihnen ein erschrockener Ruf aus der Gasse drang. Vielleicht wäre alles gut gegangen, denn die Nacht war voller durcheinander schreiender Stimmen und hundertfachem anderem Lärm, aber Robin wusste nur zu gut, was dieser Schrei bedeutete - und diesmal tat sie das Falsche.

Sie fuhr erschrocken zusammen, packte Nemeth bei der Hand und rannte los. Natürlich erregte sie damit die Aufmerksamkeit des halben Dutzends Männer auf der anderen Seite des Platzes. Zwei oder drei von ihnen wichen überrascht zurück, als sie die Gestalt in dem zerfetzten, blutbesudelten Kaftan auf sich zurasen sahen, zwei andere, etwas beherztere Männer jedoch vertraten ihr den Weg. Obwohl sie nur mit Knüppeln und kurzen Messern bewaffnet waren, machte der grimmige Ausdruck auf ihren Gesichtern Robin sofort klar, dass sie nicht kampflos zurückweichen würden.

Und sie beging noch einen Fehler: Wäre sie einfach weiter gestürmt und hätte den Moment der Überraschung und den Schwung ihres Laufs genutzt, wäre es ihr vielleicht ein Leichtes gewesen, die beiden Männer zu überrumpeln und auszuschalten; wahrscheinlich sogar, ohne sie dabei ernsthaft zu verletzen. Aber sie blieb stehen. Ihre Fantasie spielte ihr einen bösen, alles entscheidenden Streich. Für einen Moment sah sie noch einmal das Gesicht des sterbenden Soldaten oben in ihrem Zimmer vor sich, glaubte wieder den Ausdruck verständnislosen Entsetzens in seinen Augen zu sehen und spürte erneut die schmerzende Erkenntnis, einen Menschen getötet zu haben, der nicht wirklich ihr Feind gewesen war.

Als der Moment vorüber war, hatte sich das Bild vor ihr vollends geändert. Zu den beiden Männern, die ihr den Weg in die Gasse hinein verwehrten, hatte sich ein dritter gesellt und die grimmige Entschlossenheit und Furcht war aus ihren Gesichtern gewichen. Einer der Männer blinzelte nur verstört, die beiden anderen blickten sie hin und her gerissen zwischen Verblüffung und einer Art hysterischer Heiterkeit an, die Robin im ersten Moment überhaupt nicht verstand. Die drei waren keine Krieger, sondern normale Männer aus der Stadt: Handwerker, Fischer, Bauern oder Händler. Kein Wunder, dass sie Angst hatten. Wenn auch jeder von ihnen Robin um mehr als Haupteslänge überragte, so trug sie doch einen Schild am linken Arm und ein gut meterlanges Schwert mit einer blutbesudelten Klinge in der rechten Hand.

Und einen weißen Turban, der sich im Verlauf des Kampfes mit dem Hund gelöst hatte und nun vollends von ihrem Haupt rutschte, sodass er wie ein Schal über ihrer rechten Schulter lag. Robins Haar war zwar noch immer so kurz geschnitten wie das eines Mannes, aber selbst in dem flackernden Licht, das auf dem Platz herrschte, konnte wohl niemand mehr übersehen, dass kein Krieger, sondern eine junge Frau vor ihm stand.

»Oje«, murmelte Robin. Laut sagte sie: »Gebt den Weg frei! Ich muss dieses Mädchen zu Omar Khalid bringen!«

Einer der drei Männer - der Einzige, der so etwas Ähnliches wie eine Waffe in der Hand hielt - legte den Kopf auf die Seite und trat einen halben Schritt auf sie zu, statt zurückzuweichen. »Omar Khalid?«, fragte er misstrauisch. »Was hast du mit Omar Khalid zu schaffen?«

»Was geht dich das an?«, fragte Robin unfreundlich. »Gib den Weg frei. Ich bitte dich kein drittes Mal.«

Sie machte eine drohende Bewegung mit dem Schwert, die ihre angestrebte Wirkung verfehlte. Die Waffe war blutig. Von ihrer Hand tropfte Blut, und ihre Kleider waren zerrissen. Ihr Gegenüber musste schon blind sein, um nicht zu sehen, dass sie einen Kampf auf Leben und Tod hinter sich hatte - und ganz offensichtlich als Siegerin daraus hervorgegangen war. Sie konnte erwarten, dass er erschrocken zurückzuckte. Aber das tat er nicht. Ganz im Gegenteil: Seine Augen funkelten plötzlich spöttisch, und er machte noch einen weiteren Schritt auf sie zu.

»Was soll dieser Mummenschanz, Weib?«, fragte er. »Wer hat dir erlaubt, in Männerkleidern herumzulaufen und eine Waffe zu tragen? Will sich dein Herr einen Scherz mit uns machen oder uns auf die Probe stellen?«

Und endlich begriff Robin. Eine - noch dazu bewaffnete - Frau in Männerkleidern, die ohne Schleier und nach Dunkelwerden auf die Straße ging, das war in der Welt dieser Menschen eine solche Unmöglichkeit, dass sie auch dann nicht die richtigen Schlüsse zu ziehen bereit waren, wenn sie mit eigenen Augen eine Kriegerin vor sich stehen sahen.

In der Gasse hinter Nemeth und ihr wurden wieder aufgeregte und zornige Rufe laut, dazu gesellten sich hastig trappelnde Schritte sowie das unverkennbare Klirren von Waffen. Ihre Frist lief ab.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte sie.

Ihr Angriff erfolgte weder überraschend noch sonderlich schnell. Ganz im Gegenteil: Sie schlug fast gemächlich zu, um ihrem Gegenüber jede nur erdenkliche Chance zu geben, dem Hieb auszuweichen. Aber der Mann stand einfach da, starrte sie blöde an und schien selbst dann noch nicht wirklich zu begreifen, was sie tat, als Robins Schwert ihn mit der flachen Seite gegen den Schädel traf und zu Boden schleuderte.

Die beiden übrig gebliebenen Männer wichen hastig zur Seite. Hinter ihr stürmten die Verfolger heran, und aus der Gasse, in die sie gerade hatte fliehen wollen, erscholl das Geräusch, vor dem sie sich am allermeisten gefürchtet hatte: Das metallische Hämmern eisenbeschlagener Pferdehufe.

Der Verzweiflung nahe, fuhr Robin auf der Stelle herum und sah ihre allerschlimmsten Befürchtungen bestätigt, ja sogar übertroffen. Zwei, drei, vier, schließlich ein halbes Dutzend von Omars Kriegern stürmten hinter ihr auf den Platz hinaus. Unter ihnen war auch der Mann, den sie kurz zuvor mit dem Schild niedergeschlagen hatte. Sein Gesicht war schmerzverzogen und er hatte alle Mühe, mit den anderen Schritt zu halten. Aber Robin zweifelte nicht daran, dass jetzt auch seine Kameraden wussten, dass sie es mit allem anderen als einer wehrlosen Frau zu tun hatten.

Mit einem raschen Schritt trat sie zwischen Nemeth und die Männer, hob den Schild so hoch, dass sie gerade noch über seinen Rand sehen konnte, und machte eine drohende Bewegung mit dem Schwert. Die Krieger unternahmen jedoch nicht einmal den Versuch sie anzugreifen, sondern verteilten sich rasch im Halbkreis um sie herum. Robin war im ersten Moment erleichtert, zugleich aber auch alarmiert. Ganz egal, was ihr Kamerad ihnen erzählt hatte, sie waren sechs gegen eine, und Robin hätte nicht einmal in ihrer vollen Rüstung und mit ihrem eigenen Schwert eine Chance gegen sie gehabt. Ebenso wenig wie ein Mann. Geschichten von Rittern, die allein gegen eine fünf- oder sogar zehnfache Übermacht bestanden, gehörten eher ins Reich der Legenden und Mythen als in die Wirklichkeit.

Warum also griffen sie nicht an?

Der Hufschlag hinter ihr schwoll an und dann sagte eine wohl bekannte, verhasste Stimme: »Bravo, Christenmädchen!«

Robin fuhr herum. Omar und sein schwarz gekleideter Leibwächter waren hinter ihr hoch zu Ross aus der Gasse gekommen. Die beiden Pferde tänzelten nervös, sodass ihre Reiter alle Mühe hatten, sie auf der Stelle zu halten, und der schwarz gekleidete Hüne hatte das Schwert griffbereit vor sich über den Sattel gelegt. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und man sah ihm an, dass er innerlich vor Zorn kochte. Omars Gesicht hingegen schien vollkommen ausdruckslos. Nur sein Blick wirkte so kalt, dass Robin erschauerte.

»Komm nicht näher!«, warnte sie. »Der Erste, der mich anrührt, stirbt.«

»Und ich bin ganz sicher, dass das keine leere Drohung ist, sondern du diese Worte durchaus in die Tat umsetzen kannst«, sagte Omar in sonderbar nachdenklichem Tonfall. Er schüttelte den Kopf. »Soll ich nun wütend sein, dass du mich so an der Nase herumgeführt hast, oder dir ein Lob aussprechen? Bisher ist es noch niemandem gelungen, mich so zu hintergehen.«

Robin schwieg. Sie ließ Omar und seinen Begleiter keinen Sekundenbruchteil aus den Augen, ebenso lauschte sie aufmerksam auf jeden verräterischen Laut hinter sich. All ihre Nerven und Muskeln waren bis zum Zerreißen angespannt. Aber sie machte sich nichts vor. Allein der Krieger neben Omar würde sie besiegen, wenn er es wollte. Salim hatte ihr eine Menge beigebracht. Sie nahm es an List und Fintenreichtum mit den meisten Männern auf, die sie kannte. Aber dieser schwarze Hüne war Omars persönlicher Leibwächter und war ein ebenso geschickter Krieger wie sie; überdies aber war er ihr an Körperkräften um ein Vielfaches überlegen.

»Immerhin weiß ich nun, dass du den Ring zu Recht trägst«, fuhr Omar fort. »Du hast dich wahrlich aller Geschichten, die man sich über deine Brüder erzählt, würdig erwiesen. Aber nun ist es vorbei. Leg deine Waffen nieder. Deine Flucht ist hier zu Ende.«

Robin schüttelte den Kopf. Sie starb innerlich fast vor Angst, aber ihre Miene wirkte fast so ausdruckslos und entschlossen wie die Omars. »Niemals. Ich kehre nicht wieder in deine Gefangenschaft zurück. Du kannst mich gehen lassen oder aber als Leiche heimbringen und dann mit mir tun, was immer du willst.«

Die Worte waren bitter ernst gemeint. Sie würde nicht wieder zurückgehen, ganz egal, welches Schicksal sie dann auch erwartete. Möglicherweise war Omar der Falke, der über ihr kreiste und nur auf den passenden Moment zum Zustoßen wartete, aber wenn dies ihr Schicksal war, dann würde sie es akzeptieren.

»Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen, Christenmädchen.« Omar hob fast beiläufig die Hand. Der schwarz gekleidete Riese schwang sich mit einer gleitenden Bewegung aus dem Sattel und machte einen halben Schritt zur Seite. Robin ergriff ihre Waffe fester, als er das Schwert hob. Omar wiederholte seine deutende Geste, schüttelte den Kopf und fügte fast traurig hinzu: »Dazu bist du zu wertvoll.«

Der Krieger schob sein Schwert in den Gürtel. Mit einer bedächtigen Bewegung trat er an sein Pferd und löste den geschwungenen Bogen vom Sattelzeug, mit dem er auf dem Hof schon einmal auf Robin angelegt hatte. Allein die Bewegung, mit der er einen Pfeil auf die Sehne legte und durchzog, zeigte Robin, wie meisterhaft er mit dieser Waffe umzugehen verstand. Und sie kannte die furchtbare Durchschlagskraft dieser Bögen. Auf diese kurze Entfernung würde der Pfeil ihren Schild vermutlich mit Leichtigkeit durchschlagen und sie töten.

»Dann erschieß mich«, sagte sie ruhig. »Lebend bekommst du mich nicht.«

Omar schüttelte den Kopf. »Faruk wird nicht auf dich schießen«, sagte er ruhig. Er deutete auf Nemeth. »Er wird das Mädchen töten.«

Robin erstarrte innerlich. Gerade weil Omar so ruhig und in fast beiläufigem Ton sprach, war ihr klar, wie ernst er diese Worte meinte. Und wie grausam der Streich war, den ihr das Schicksal gespielt hatte. Was sie bis vor wenigen Augenblicken noch für ein schier unvorstellbares Glück gehalten hatte, das erwies sich nun als das genaue Gegenteil. Sie sah in Omars Augen und begriff plötzlich, dass er nicht einmal wirklich zornig auf sie war. Ihre kämpferische Flucht hatte ihm nur bewiesen, dass sie noch viel wertvoller war, als er bisher angenommen hatte.

»Entscheide dich, Christenmädchen«, sagte Omar kalt. »Leg das Schwert nieder und komm zu mir, oder deine kleine Freundin stirbt vor deinen Augen.«

Robin wusste, dass sie verloren hatte. Langsam legte sie den Säbel, den Schild und als Letztes den Dolch vor sich auf den Boden. Und kaum hatte sie sich aufgerichtet, da stürmten auch schon Omars Krieger heran. Fast panisch griffen sie nach den Waffen und brachten sie aus ihrer Reichweite, dann wurden Robins Arme brutal gepackt und auf dem Rücken zusammengebunden. Das Letzte, was sie sah, war ein schwarzes Tuch, das einer der Männer herbeitrug und es ihr in Ermangelung eines Schleiers über Kopf und Schultern warf. Dann traf sie ein harter Schlag in den Nacken, der ihr Bewusstsein augenblicklich auslöschte.

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