Das Licht, das durch die hauchzarten Vorhänge ihres Bettes fiel, hatte den Farbton von geschmolzenem Gold, das noch nicht ganz abgekühlt war, und sie konnte sein Streicheln wie die Berührung zärtlicher Lippen auf den Wangen fühlen.
Robins Blick war noch verschleiert und trübe vom Schlaf. Sie fühlte sich zerschlagen und in ihrem rechten Oberschenkel pochte ein hässlicher Schmerz von der Art, die im Laufe des Tages immer schlimmer werden und schließlich jede Bewegung zur Qual machen würde. In ihrem Kopf wechselten sich die quälenden Erinnerungen an die vergangene Nacht mit denen an schreckliche Albträume ab, in denen sich die Bilder der vergeblichen Flucht mit schrecklichen Visionen und Gestalt gewordener Furcht vermengten. Dennoch fühlte sie sich auf einer anderen, viel machtvolleren Ebene ihres Bewusstseins erholt und gestärkt. Sie bezweifelte ernsthaft, ob sie die Kraft haben würde, auch nur aufzustehen, geschweige denn, einen Schritt zu tun, aber sie hatte dem Schicksal getrotzt, dem Tod, der sie nun zweifellos erwartete, gezeigt, dass sie ihn nicht fürchtete, und ein allerletztes Mal die Freiheit gekostet. Und welchen Preis auch immer sie für diese wenigen Stunden würde zahlen müssen - sie waren es wert gewesen.
Robin schloss die Augen wieder, drehte den Kopf auf dem weichen Kissen und genoss für einen Moment das warme Streicheln des Sonnenlichtes. Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr, das Plätschern des Springbrunnens draußen auf dem hinteren Hof und das dumpfe, an- und abschwellende Summen der Stadt. Sie brauchte nicht viel Fantasie, um eine andere Erinnerung heraufzubeschwören, die sich vollkommen von diesem Augenblick und diesem Ort unterschied und ihm doch auf sonderbare Weise glich: Es war das letzte Mal gewesen, dass sie mit Salim zusammen war, im vergangenen Herbst, irgendwo in der Nähe von Nürnberg und nur wenige Tage bevor der Winter hereinbrach und Bruder Abbé und die anderen entschieden, dass sie bis zum Frühjahr Quartier in der großen Stadt machen würden. Danach hatte es keine Möglichkeit mehr für Salim und sie gegeben, sich einen halben Tag oder auch nur eine Stunde zu stehlen. Sie erinnerte sich nicht mehr, worüber sie gesprochen hatten, nicht einmal mehr wirklich, was sie in all diesen Stunden allein im Wald getan hatten, aber es waren ihre letzten Stunden zusammen und allein gewesen, und das allein zählte. Sie spürte plötzlich, dass sie nicht allein im Zimmer war. Mit einem Schlag war sie hellwach und fuhr erschrocken hoch. Im selben Moment bemerkte sie auch schon einen Schatten neben dem Bett; riesig, verzerrt hinter den dünnen Seidenschleiern und so formlos und schwarz wie einer der Dämonen aus ihren Albträumen, der sie ins Erwachen begleitet hatte. Ihr Herz begann heftig zu hämmern. Sie streckte die Hand nach dem Vorhang aus, stockte einen Moment, als sie spürte, wie sich Furcht in ihr breit zu machen begann, und riss die dünnen Seidenschleier zur Seite.
Im nächsten Augenblick hätte sie fast erleichtert aufgeatmet. Es war kein Dämon, kein Fleisch gewordener Nachtmahr, sondern der Sklavenhändler, der, vollkommen in Schwarz gekleidet, hoch aufgerichtet und mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihrem Bett stand und auf sie herabsah. Aber vielleicht war ihre Erleichterung ja verfrüht. Ganz egal, wie schlimm sie waren, Albträume pflegten zu verschwinden, sobald man erwachte. Omar tat das nicht. Er stand einfach da und sah sie an, und der Gedanke, dass er sie vielleicht schon eine ganze Weile beobachtet hatte, erfüllte Robin mit Unbehagen.
»Wie lange steht Ihr schon da?«, fragte sie.
Omar antwortete nicht direkt, sondern tat etwas, was Robin noch mehr beunruhigte als seine bloße Anwesenheit: Er lächelte. »Weißt du, dass du recht hübsch aussiehst?«, fragte er. »Zumindest für eine Ungläubige, und wenn du nicht gerade mit einem Schwert in der Hand herumläufst und auf Menschenjagd gehst.«
»Da, wo ich herkomme«, erwiderte Robin trotzig, »hat jeder das Recht, mit dem Schwert in der Hand für seine Freiheit zu kämpfen.«
»Freiheit.« Omar betonte das Wort auf eine sonderbare Art, die sie nicht recht einordnen konnte. Sein Blick verharrte noch einen Moment auf ihrem Gesicht und schien sich dann in eine unbestimmte Weite zu verlieren. »Ein großes Wort. Du benutzt es oft und gerne, nicht wahr?«
»Nur, wenn ich es muss«, antwortete Robin. »Ist es nicht auch bei euch so, dass man am meisten über das spricht, was man am schmerzlichsten vermisst?«
Omar sah sie nur stumm an. Robins Stimme hatte nicht halb so selbstsicher oder gar verächtlich geklungen, wie sie es sich gewünscht hätte, und selbst in ihren eigenen Ohren hörten sich die Worte unbeholfen an, sie betonten ihre Unsicherheit mehr, statt sie zu verbergen.
»Freiheit«, sagte Omar Khalid noch einmal. Er wandte sich langsam um und trat ans Fenster. Mit in den Innenhof hinabgewandtem Blick und sonderbar veränderter Stimme fuhr er fort: »Du benutzt dieses Wort wirklich oft, Christenmädchen. Zumal für jemanden, der selbst mit dem Schwert in der Hand hierher gekommen ist, und unter dem Wappen derer, die es sich zu ihrem erklärten Ziel gemacht haben, einem ganzen Volk seine Heimat wegzunehmen - und damit die Freiheit.«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte Robin.
»Aber seid ihr nicht hierhergekommen, um das Banner des Christentums über Jerusalem aufzupflanzen? Haben eure Heere nicht unsere Städte verwüstet, um das, was ihr das Heilige Land nennt, von der Herrschaft der Heiden zu befreien?« Er drehte sich mit einem Ruck zu ihr herum. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie fast immer, aber sein Blick war durchbohrend. »Und was die Freiheit angeht, Christenmädchen, dieses hohe Gut, für das du offensichtlich zu sterben bereit bist - gibt es in eurem Land keine Sklaverei?«
»Nein!«, widersprach Robin im Brustton einer Überzeugung, die sie so gar nicht empfand.
Omar lachte. »Du musst entweder sehr dumm sein oder eine sehr gute Lügnerin... aber für dumm halte ich dich eigentlich nicht.«
»Niemand bei uns hält Sklaven!«
»Ihr nennt sie vielleicht nicht so«, erwiderte Omar. Er hob die Hand, als sie ihn unterbrechen wollte. »Ich war noch niemals in den Ländern der Christen, aber ich habe gehört, dort seien die Bauern und Viehzüchter das Eigentum ihrer Grundherren, der Adeligen. Du behauptest, sie seien frei, und doch nennen sie sich selbst Leibeigene. Sie müssen tun, was ihre Herren von ihnen verlangen, und wer sich gegen ihre Befehle auflehnt, der wird oft grausam bestraft. Sag mir, Christenmädchen, ist das alles falsch, was man mir erzählt hat?«
Robin schluckte die wütenden Worte, die ihr auf der Zunge lagen, herunter. Sie konnte nicht antworten, denn Omar hatte Recht. Vielleicht hatte er sogar in weitaus größerem - und schlimmerem - Maße Recht, als er selbst wusste. Sie starrte eine Weile an ihm vorbei ins Leere und wünschte sich, sich nicht so hilflos und auf eine fast absurde Weise schuldig zu fühlen. Als Omar nach einem tiefen Seufzen das Thema wechselte, war sie fast erleichtert.
»Du weißt, dass ich dich bestrafen muss.«
Auch diesmal nickte Robin nur stumm. Sie hatte weder vergessen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte, noch die Worte, mit denen er Naidas Strafe kommentiert hatte.
Omar wartete eine Weile vergeblich auf eine Entgegnung, dann fuhr er fort: »Deine Strafe wird sehr hart ausfallen. Ich wollte, ich müsste es nicht tun, aber ich habe keine Wahl.«
»Willst du mich auspeitschen lassen?«, fragte Robin spitz. »Du weißt doch, dass du deine kostbare Ware beschädigst und dadurch ihren Wert minderst.«
»Was du getan hast«, sagte Omar unbeeindruckt, »ist weit mehr als ein simpler Fluchtversuch. Damit habe ich gerechnet - schon zu einem viel früheren Zeitpunkt, wenn ich ehrlich sein soll - und ich hätte ihn dir nicht übel genommen. Auch ich an deiner Stelle hätte wohl versucht zu entkommen. Aber es war nicht nur eine Flucht. Du hast einen Aufstand angezettelt, der meinem Ruf in Hama sehr geschadet hat.«
Seltsamerweise stahl sich die Andeutung eines Lächelns auf seine Lippen, als er weitersprach. »Al Malik al Mustafa Omar, der Neffe des Sultans und Herrscher der Stadt, ist sehr beunruhigt über die Berichte, dass eine bewaffnete Frau den Aufstand angeführt und dabei gekämpft hat, als sei ihr der Sheitan persönlich in den Leib gefahren. Deshalb hat er mich heute Morgen in den Palast befohlen. Unser Herrscher hat sich erst wieder beruhigt, nachdem ich geschworen habe, es sei nichts anderes als ein verwirrter Mann gewesen, der sich für die Flucht mit Frauenkleidern getarnt habe.«
»Und er hat Euch geglaubt?«, fragte Robin.
»Das wird er müssen, denn ich habe ihm mein Wort gegeben, dass dieser gemeingefährliche Aufrührer noch heute Morgen hingerichtet wird.« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete mit einer Handbewegung zum Fenster. »Überzeug dich selbst.«
Robin starrte ihn einen Moment lang mit klopfendem Herzen an, dann stemmte sie sich hastig in die Höhe und humpelte zum Fenster. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte sich abermals verändert. Das große Tor stand weit offen, und sowohl das Podest, auf dem die Sklaven zum Verkauf ausgestellt worden waren, als auch die Sitzbänke und Sonnensegel waren verschwunden. Dort, wo das hölzerne Podest gestanden hatte, ragte nun ein mehr als zwei Meter hoher Pfahl in die Höhe, an dessen Spitze ein menschlicher Kopf aufgespießt war. Der Hof war voller Menschen. Zahlreiche Männer, Frauen und zu Robins Entsetzen auch Kinder waren durch das offene Tor hereingeströmt. Sie drängelten und schubsten, um einen Platz zu ergattern, von dem aus sie die grausige Trophäe besser sehen konnten.
»Welcher unschuldige Sklave musste jetzt wieder sterben, um deine Grausamkeit zu befriedigen?«, flüsterte sie.
»Sieh genau hin«, antwortete Omar. »Du kennst ihn.«
Robin machte einen zögerlichen Schritt bis ganz ans Fenster heran und achtete dabei darauf, dass ihr Gesicht im Schatten blieb. Sie trug keinen Schleier und sie wollte Omar keinen Anlass liefern, irgendeinem der armen Teufel dort unten aus purer Grausamkeit die Augen ausstechen zu lassen.
Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie erkannte, wessen Kopf auf dem Pfahl steckte. Man hatte den bärtigen Mann rasiert und ihm die Haare geschnitten und in einem rotflammenden Ton gefärbt, aber es war dennoch ganz zweifelsfrei Mustafa, Sailas Mann und Nemeths Vater.
»Wir mussten ihn vor der Hinrichtung so weit wie möglich in dich verwandeln«, sagte Omar. »Danke Allah dafür, dass du in finsterer Nacht geflohen bist, und nicht am helllichten Tage.«
Robins Hände begannen zu zittern. Der Anblick entsetzte sie wie kaum etwas zuvor und dennoch war sie nicht dazu in der Lage, ihren Blick von Mustafas schlaffen Zügen und seinen im Tod gebrochenen Augen zu nehmen. Sie hatte allen Grund der Welt gehabt, diesen Mann zu hassen, dennoch war sie schockiert von dem Anblick. Mustafa mochte den Tod dutzendfach verdient haben, aber das Verbrechen, für das er hingerichtet worden war, hatte sie begangen.
»Ist das Eure Art, Rache zu üben?«, fragte sie. »Wollt Ihr mich quälen, indem Ihr anderen die Schmerzen zufügt, die mir zustehen?«
Omar wirkte ehrlich überrascht. »Dieser Mann war dein Feind.«
»Das ist wahr«, sagte Robin leise. »Er hat uns verraten. Ohne ihn wäre uns die Flucht vielleicht gelungen.«
»Er hat gelebt wie ein Hund, und er ist gestorben wie ein Hund«, antwortete Omar. »Meine Männer haben ihn mit Knüppeln zu Tode geprügelt, und das war wohl noch eine Gnade für ihn, denn hätten sie ihn mir lebend übergeben, dann hätte sein Sterben sehr viel länger gewährt.«
»So bedankt Ihr Euch bei denen, die Euch einen Gefallen erweisen«, sagte Robin bitter.
»Verrat ist niemals ein Gefallen«, erwiderte Omar. »Er hat euch verraten, um dir zu schaden, nicht um mir einen Gefallen zu erweisen.« Er lächelte kalt. »Du siehst, welche Strafe ich Verrätern angedeihen lasse. Welche Strafe also meinst du wäre für dich angemessen?«
Robin straffte die Schultern und reckte kampflustig das Kinn vor. »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte sie. »Und auch nicht vor der Folter.« Zumindest der letzte Satz war eine glatte Lüge, und das kurze Aufblitzen in Omars Augen machte ihr klar, dass er das wusste.
Beunruhigend lange sah er sie nur an, dann wich er wieder zwei Schritte zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr sich nachdenklich mit der linken Hand über den Bart. »Du begreifst gar nichts«, murmelte er. Dann straffte er die Schultern und fügte in zugleich entschlossenem wie auch fast traurig klingendem Tonfall hinzu: »Du wirst noch heute Nachmittag bestraft werden. Bereite dich darauf vor.«
Einer quälenden Nacht war ein ebenso schrecklicher Tag gefolgt, der kein Ende zu nehmen schien. Weder die beiden Sklavinnen noch sonst irgendwer hatte sich bei ihr blicken lassen. Mit Ausnahme einer flachen Schale mit Wasser, die sie nach Omars Weggang auf dem kleinen Tischchen neben ihrem Bett vorgefunden hatte, hatte man ihr weder zu essen noch zu trinken gebracht. Auch frische Kleider hatte man ihr vorenthalten.
Robin hatte fast den gesamten Tag auf dem Bett gelegen, nicht nur, weil ihr Bein so entsetzlich schmerzte, dass sie sich nur humpelnd fortbewegen konnte und jeder Schritt zur Qual wurde, sondern auch weil ihr Zimmer auf schreckliche Weise geschrumpft zu sein schien. Sie hätte es nicht gewagt, auch nur in die Nähe des Fensters zu gehen, schon aus Angst, rein versehentlich einen Blick in den Hof hinabzuwerfen, in dem Mustafas abgeschlagener Kopf anklagend zu ihr heraufstarrte. Selbst der Tür wagte sie sich nicht zu nähern, so als hätte der tote Krieger vom vergangenen Abend dort etwas hinterlassen, das unsichtbar war, sie aber für alle Zeiten an ihre grausige Bluttat erinnerte. Obwohl sie innerlich vor Angst fast starb, wenn sie an das dachte, was ihr bevorstehen mochte, war sie zugleich fast erleichtert, als am späten Nachmittag endlich die Tür geöffnet wurde.
Omars schwarz gekleideter Leibwächter Faruk und zwei weitere Krieger waren gekommen, um sie abzuholen. Äußerlich mit unbewegtem Gesicht und so stolz aufgerichtet, wie es ihr schmerzender Oberschenkel und der humpelnde Gang nur zuließen, trat sie zwischen die drei Männer. Sie schenkte ihnen einen so eisigen Blick, dass keiner von ihnen es wagte, sie anzurühren, aber innerlich war sie einer Panik nahe. Was würde Omar ihr antun?
Trotz allem nahmen die Männer Rücksicht darauf, dass sie sich nur langsam und unter Schmerzen bewegen konnte, was aber nicht unbedingt zu Robins Beruhigung beitrug. Vielmehr vermutete sie, dass Omar seinem Leibwächter strikten Befehl erteilt hatte, ihr kein Haar zu krümmen, damit sie die ihr zugedachte Strafe auch wirklich bis zur Neige auskosten konnte. Robin versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte bereits zu viel über die Grausamkeit der Muselmanen gehört und beinahe ebenso viel mit eigenen Augen ansehen müssen. Dass Omar ihr nicht gesagt hatte, wie ihre Strafe aussehen würde, machte es noch schlimmer, und vielleicht war auch das schon ein Teil der Strafe. Zweifellos waren seine Folterknechte in der Lage, ihr Qualen zuzufügen, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte, und doch war vermutlich nichts so schlimm wie die Ungewissheit. Mit jedem Schritt, den sie tat, jeder Stufe, die sie sich weiter in die Tiefe quälte, steigerte sich ihre Panik.
Als sie sich der zweiten Treppe ins Erdgeschoss hinab näherten, war sie nahe daran, einen verzweifelten Fluchtversuch zu wagen; auch wenn er in ihrem erbärmlichen Zustand nur in einer Katastrophe enden konnte. Aber selbst dazu fehlte ihr jetzt der Mut. Ihre Welt bestand nur noch aus Angst.
Sie wurde jedoch nicht nach unten geführt, sondern in einen kleinen Raum unmittelbar neben der Treppe. Er war nicht viel kleiner als ihr Gemach, aber die Fenster waren schmaler und vergittert. Die Wände waren mit schmutzigem, halb abgeblättertem Putz bedeckt - es gab weder Gemälde, Teppiche noch einen Spiegel. Der Boden bestand aus fest gestampftem Lehm, der mit zahllosen dunklen Flecken besudelt war, über deren Herkunft sie lieber nicht nachdenken wollte. Es gab nur einen einzigen großen Tisch sowie einen Stuhl mit einer hohen Rückenlehne und geschnitzten Armstützen. Auf den ersten Blick kamen ihr diese Möbelstücke sonderbar vertraut vor, dann aber begriff sie, dass sie Ähnliches nur aus ihrer Heimat kannte. In diesem Teil der Welt und in dieser Umgebung wirkten Möbel dieser Art aber jedoch deplatziert. Möglicherweise hatte ein Europäer diesen Raum eingerichtet, bewohnte ihn vielleicht sogar. Aber auch dieser Gedanke vermochte sie nicht zu beruhigen.
Der schwarz gekleidete Hüne dirigierte sie mit wortlosen Gesten zu dem aufwändig gearbeiteten Stuhl und forderte sie schweigend auf, darauf Platz zu nehmen. Robin wollte der Aufforderung Folge leisten, aber ihre Knie zitterten so sehr, dass sie beinahe noch kurz davor gestürzt wäre. Sie versuchte, sich selbst einzureden, dass das Zittern von den Anstrengungen der vergangenen Nacht und ihren Schmerzen im Bein herrührte - aber etwas in ihr wusste es besser.
Kaum hatte sie Platz genommen, verließen die beiden Krieger den Raum, und Omars Leibwächter baute sich breitbeinig sowie mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Tür auf. Er sah in ihre Richtung, vermied es aber, ihrem Blick zu begegnen. In Robins Hals saß jetzt ein bitterer, harter Klumpen, den sie vergeblich herunterzuschlucken versuchte.
Eine Ewigkeit verging, die sich für Robin zu einem Vorgeschmack der Hölle ausdehnte, in Wirklichkeit vermutlich aber nur wenige Minuten dauerte. Endlich näherten sich von draußen Schritte. Omars Leibwächter wich von der Tür zurück, die einen Augenblick später geöffnet wurde. Omar Khalid und der fränkische Medicus Ribauld van Melk traten ein - und hinter ihnen, mit schleppenden Schritten zwar und langsam, Naida. Die alte Sklavin trug den rechten Arm in einer Binde, ihr Gesicht war noch immer nicht verheilt und das linke Auge zugeschwollen, doch befand sie sich augenscheinlich auf dem Wege der Besserung. Wenigstens ein Mensch, dem sie nicht den Tod gebracht hatte, weil er ihr einen Gefallen hatte erweisen wollen!
»Es wird dir vermutlich Genugtuung bereiten, Christenmädchen«, sagte Omar, »dass fünf der Sklaven, die vergangene Nacht geflohen sind, noch immer nicht gefunden werden konnten.« Er wartete auf eine Antwort. Als Robin ihm diesen Gefallen nicht tat, sondern ihn nur wortlos anstarrte, deutete er ein Achselzucken an und wandte sich mit einer entsprechenden Kopfbewegung an den schwarz gekleideten Krieger. »Binde sie!«
Robin versteifte sich, als der Krieger auf sie zu und hinter ihren Stuhl trat, aber sie rührte keinen Muskel und auch ihr Gesicht blieb so unbewegt wie aus Stein gemeißelt, während er ihren Oberkörper mit einem groben Strick an die hohe Rückenlehne fesselte. Einmal zuckten ihre Lippen vor Schmerz, als der Mann ihre Handgelenke an den Armstützen des Stuhles festband und die Knoten dabei härter zuzog, als nötig war; trotzdem gab sie keinen Laut von sich. Sie war sicher, dass sie Omar zu einem nicht mehr allzu weit entfernt liegenden Zeitpunkt die Genugtuung bereiten würde, zu wimmern und zu schreien, doch noch war es nicht so weit.
Der Sklavenhändler wartete schweigend und mit unbewegter Miene, bis Faruk auch Robins Fußgelenke fest an den Stuhl gebunden hatte, dann gab er Naida einen Wink. Die alte Sklavin verließ den Raum sofort und kurz darauf hörte Robin sie auf dem Flur ein paar Worte mit ein paar Männern wechseln. Es dauerte nicht lange, bis sie begriff, welcher Art Anweisungen er Naida erteilt hatte. Die Männer schleppten eine ganze Sammlung bedrohlicher und Furcht einflößender Folterinstrumente heran und machten sich daran, die Vorbereitungen zu einer unvorstellbar grausamen Folter zu treffen, in deren Mittelpunkt ohne Zweifel sie selbst stehen würde.
Als sich die Männer schließlich zurückzogen, glühte nicht weit von Robins Stuhl entfernt ein dunkelrotes Feuer in einem Kohlebecken, über dem eine gusseiserne Schale mit kochend heißem Wasser hing. Auf dem Tisch vor dem fränkischen Arzt lag ein ganzes Sammelsurium unterschiedlich großer Messer und daneben andere, seltsam anmutende Folterwerkzeuge, dazu ein ganzer Stapel weißer Leinentücher sowie etliche Fläschchen und Tonkrüge mit Flüssigkeiten.
Es war Robin unmöglich, ihren Blick von diesem Sammelsurium des Schreckens loszureißen. Ihre Fantasie überschlug sich. Ihr Herz hämmerte wie verrückt und sie spürte, wie ihr am ganzen Leib der Schweiß ausbrach, obwohl sie gleichzeitig vor Kälte zitterte. Trotz ihrer Jugend hatte sie ihre Tapferkeit schon öfter beweisen müssen. Jetzt aber wühlte die Angst mit glühenden Krallen in ihren Eingeweiden. Sie war keine Heilige und sie war keine Heldin. Wie jeder Mensch hatte sie Angst vor Schmerzen und das, was Ribauld van Melk - der ihrem Blick im Übrigen ebenso auswich wie Omars Leibwächter - dort vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte, galt eindeutig keinem anderen Zweck als dem, Schmerzen zuzufügen.
»Was jetzt geschieht, ist allein deine Schuld, Christenmädchen«, sagte Omar. »Du hast mir keine andere Wahl gelassen.«
Er klatschte in die Hände, die Tür wurde geöffnet und einer der Wächter führte Rustan herein, den Jungen, den Ribauld vor ein paar Tagen erst vom Fieber geheilt hatte. Rustan wirkte verängstigt. Er war blass und zitterte, seine Augen waren weit aufgerissen und dunkel vor Furcht. Als er Robin sah, schien er für einen Moment wieder Mut zu fassen, und versuchte sogar, auf sie zuzulaufen, aber der Krieger packte ihn grob an der Schulter und riss ihn zurück. Jetzt, wo er sich halbwegs vom Fieber erholt hatte, fiel Robin erneut auf, welch ein schöner Knabe er war. Er hatte dunkle, fast bronzefarbene Haut, schwarze Augen und leicht gelocktes, schwarzes Haar. Wenn er weiter zu Kräften kam und vielleicht zehn oder zwölf Pfund zunahm, dann würde er ein ausnehmend hübsches Kind sein.
»Was bedeutet das?«, fragte sie alarmiert.
Omar schwieg und auch Ribauld wich ihrem Blick weiter aus. Nur Naida sah ihr ruhig in die Augen. Robin versuchte vergeblich, im Gesicht der alten Sklavin zu lesen, das etwas zu verbergen schien.
»Was... was habt Ihr vor?«, fragte Robin noch einmal. Sie riss vergeblich an ihren Fesseln.
Omar drehte sich mit einem Ruck herum und wandte sich brüsk an den Jungen. »Leg deine Kleider ab«, befahl er.
Rustan zögerte. Vielleicht schämte er sich wegen den beiden Frauen im Raum, sicherlich aber hatte er ebenso große Angst wie Robin. Erst als der Wächter ihm einen derben Stoß versetzte, zog sich Rustan aus und kletterte auf Omars Geheiß hin mit unsicheren Bewegungen auf den Tisch.
Ribauld füllte zwei verschiedene Flüssigkeiten in einen silbernen Becher und benutzte eines seiner scharfen Messer, um sorgsam umzurühren. Wortlos, aber mit einem beruhigenden Lächeln auf den Lippen, reichte er ihn dem Jungen. »Trink«, sagte er. »Hab keine Angst. Es ist nur die Milch der Mohnpflanze. Sie hat die Fähigkeit, Schmerzen zu lindern und dem Rastlosen Schlaf zu schenken.«
»Was bedeutet das?«, fragte Robin zum wiederholten Male. Ihre Stimme war schrill. Sie versuchte fast verzweifelt, Omars Blick einzufangen, oder den Ribaulds, aber keiner der beiden sah auch nur in ihre Richtung.
Der Junge zögerte noch immer, doch als Ribauld noch einmal aufmunternd nickte, setzte er den Becher an die Lippen und stürzte den Inhalt in einem einzigen Zug herunter. Als er dem fränkischen Arzt den Becher zurückgab, stahl sich sogar ein schüchternes Lächeln auf seinen Mund. Einen Moment später drehte er den Kopf und sah in Robins Richtung, und sein Blick brach ihr fast das Herz. Sie las keine Furcht mehr in den Augen des Jungen. Er hatte Angst gehabt, als er hereingeführt worden war, aber nun war davon nichts mehr zu sehen und sie begriff, dass allein ihre Anwesenheit dieses kleine Wunder bewirkt haben musste. Er vertraute ihr vorbehaltlos, weil sie ihm schon einmal geholfen hatte.
»Omar!«, wimmerte sie. »Ich flehe Euch an! Was immer Ihr mit diesem Jungen vorhabt, tut es nicht. Er ist von allen hier im Raum der am wenigsten Schuldige. Ich bin bereit, jede Strafe zu erdulden, aber ich werde nicht zusehen, wie Ihr dem Jungen ein Leid zufügt.«
Kühl, und ohne sich auch nur zu ihr herumzudrehen, erwiderte Omar: »Genau das ist deine Strafe, Christenmädchen. Hilflos zusehen zu müssen.«
»Ich werde Euch töten, Omar«, wimmerte Robin. »Wenn Ihr diesem Jungen etwas antut, werde ich Euch töten, das schwöre ich Euch!«
»Mach dich nicht lächerlich!«, sagte Omar.
»Irgendwie wird es mir gelingen«, antwortete Robin mit einer Stimme, die sie selbst erschreckte, einer Mischung zwischen Schluchzen, hilflosem Entsetzen und einer so gewaltigen Wut und Entschlossenheit, dass selbst Omar den Blick wandte und für einen kurzen Moment verwirrt aussah. »Ganz egal, an wen Ihr mich verkauft, ganz egal wie weit Ihr mich fortbringen lasst. Ihr habt es selbst gesagt: Ich werde die Gemahlin eines sehr einflussreichen, mächtigen Mannes werden. Und wenn es zehn Jahre dauert oder den Rest meines Lebens - irgendwann werde ich ihn dazu bringen, Euch töten zu lassen.«
»Du redest wirres Zeug, Christin«, antwortete Omar. Bildete sie es sich nur ein, oder klang er ganz leicht verunsichert?
»Vielleicht schon nach der ersten Nacht«, fuhr sie fort. »Vielleicht dauert es ein Jahr, vielleicht auch fünf oder zehn. Und vielleicht habt Ihr Recht, und es gelingt mir nie. Aber Ihr werdet nie wieder sicher sein, wer vor Euch steht, ob der Schatten hinter Euch wirklich nur ein Schatten ist, und die Schritte, die Ihr zu hören glaubt, wirklich nur eingebildet. Wollt Ihr den Rest Eures Lebens in Angst verbringen?«
Omars Verunsicherung war nun deutlich zu sehen. Sein Blick flackerte. Für einen kurzen Moment klammerte sich Robin an die verzweifelte Hoffnung, ihn mit ihren Worten tatsächlich beeindruckt zu haben. Dann aber schüttelte er den Kopf und lachte hart. »Ich habe mich nicht in dir getäuscht, Robin. Du bist wie eine Löwin. Eine Löwin im Körper eines Kindes, aber dennoch eine Löwin. Dein neuer Herr wird viel Gefallen an dir finden.« Er drehte sich mit einem Ruck wieder zu Ribauld herum. »Fahrt fort!«
Van Melk hatte mittlerweile den Becher aus der Hand gestellt und damit begonnen, Bauch und Oberschenkel des Jungen mit weißen Leinentüchern zu umwickeln, die so fest angelegt waren, dass sie ihm das Blut abschnüren mussten. Rustan ließ es klaglos geschehen, aber er sah dabei nicht den fränkischen Arzt an, sondern Robin, und in seinen Augen lag ein Flehen, dem sie nicht länger standhielt. Sie senkte den Kopf. Und immer noch spürte sie seinen Blick.
Sie hörte Schritte. Nur einen Moment später trat Omars Leibwächter hinter sie, legte die Hand unter ihr Kinn und zwang sie mit unerbittlichem Griff, den Jungen weiter anzusehen. Rustan wankte. Sein Blick begann sich zu verschleiern und sein Kopf fiel immer wieder auf die Seite, so, als kämpfte er mit aller Macht dagegen an einzuschlafen. »Wasser«, lallte er. »Ich habe... Durst. Gebt mir etwas... zu... trinken.«
»Später«, antwortete Ribauld. »Im Moment wäre es nicht gut für dich.«
Ribauld forderte den Jungen auf, sich auf dem Tisch auszustrecken. Langsam und mit unsicheren, wie schlaftrunken wirkenden Bewegungen kam Rustan der Aufforderung nach. Omar klatschte erneut in die Hände, und ein weiterer Mann betrat den Raum. Zusammen mit dem Krieger, der Rustan hereingebracht hatte, trat er an den Tisch. Halb wahnsinnig vor Entsetzen musste Robin zusehen, wie die beiden Rustans Hand- und Fußgelenke packten und gegen die Tischplatte drückten.
»Was habt Ihr vor?«, stammelte sie. »Ribauld... was bedeutet das?«
»Die Bandagen dienen nur dazu, den Blutverlust gering zu halten«, antwortete Ribauld, ohne sie anzusehen. Dann nahm er eine irdene Schale vom Tisch auf, trat damit an den Kessel, und füllte sie geschickt mit kochendem Wasser und trug sie behutsam zum Tisch zurück. Robin sah, wie er verschiedene Pulver und Tinkturen aus seinen mitgebrachten Fläschchen in das Wasser hineinrührte und schließlich mit einer fast zeremoniell anmutenden Geste einen ledernen Beutel öffnete, aus dem er ein feinkörniges Pulver schüttete, das er ebenfalls in das kochende Wasser rührte. »Pfeffer«, erklärte er. »Ein äußerst kostbares Gewürz aus dem fernen India. Es verfeinert nicht nur Speisen, es ist auch hervorragend dazu geeignet, bei Waschungen zu dienen und Wundbrand zu verhindern.«
Robin weigerte sich für einen Moment zu glauben, was sie hörte. Sie wusste immer noch nicht genau, was Ribauld mit dem hilflosen Jungen vorhatte (oder etwas tief in ihr weigerte sich einfach, es zu wissen); es musste jedoch etwas unbeschreiblich Grausames sein - und Ribauld sprach in einem Ton mit ihr, als unterhielten sie sich über die Zubereitung irgendeiner exotischen Speise!
Nachdem er eine Weile in der Schale herumgerührt hatte - Robin war fast sicher, dass er es nur so ausgiebig tat, um Zeit zu gewinnen -, tunkte er mit spitzen Fingern eines seiner Leinentücher hinein, beugte sich über Rustan und begann langsam und mit großer Sorgfalt, seinen Schambereich zu säubern. Robins Herz hämmerte. Der Junge war mittlerweile fest eingeschlafen, aber sein Körper reagierte auf die Bewegung. Seine Arme und Beine zuckten leicht, und die beiden Männer verstärkten ihren Griff. Auch wenn er es im Moment nicht spürte, würde er, wenn er erwachte, vermutlich vor Pein wimmern und Blutergüsse an Hand- und Fußgelenken haben.
»Was... was habt Ihr vor, Ribauld?«, flüsterte sie. »Wollt Ihr ihn zur Ader lassen?«
Niemand im Zimmer antwortete darauf. Ribauld beendete die Säuberung, nahm ein zweites Tuch, um den Jungen sorgsam abzutrocknen, und suchte dann mit großer Sorgfalt ein sichelförmiges Messer aus seinen Instrumenten heraus. Dann führte er eine einzige, blitzartige Bewegung aus. Er kastrierte den Jungen, dabei entfernte er ihm nicht etwa nur die Hoden, sondern auch das Glied. Blut spritzte in einer Fontäne aus der schrecklichen Wunde, besudelte die weißen Binden, Ribaulds Hände, Brust und Gesicht. Rustan erwachte mit einem gellenden Schrei aus seiner Betäubung und bäumte sich mit solcher Macht auf, dass selbst die beiden Männer alle Mühe hatten, ihn auf den Tisch niederzudrücken. Er kreischte in einer Tonhöhe und Lautstärke, wie Robin sie noch nie zuvor im Leben gehört hatte, und wand sich mit der Kraft eines Tobsüchtigen unter dem eisernen Griff der Krieger.
Ribauld legte das Messer aus der Hand und machte eine knappe Kopfbewegung, woraufhin Naida an den Tisch trat, rasch eines der Tücher ergriff, um es auf die heftig blutende Wunde zu drücken. Währenddessen nahm der fränkische Arzt eine Zange und ging damit zu dem Kessel mit kochendem Wasser. Mittels eines Werkzeuges zog er einen kleinen silbernen Zapfen aus dem Kessel und tauchte ihn kurz in die Schale mit dem kühleren Wasser, das er zuvor mit Pfeffer versetzt hatte. Dann befahl er Naida, das Tuch von der Wunde zu nehmen und schob den Pfropfen mit einer geübten Bewegung tief in die Wunde hinein. Rustan schrie noch einmal und noch lauter auf. Dann endlich erlöste ihn die Ohnmacht.
Völlig ungerührt davon, dass sich Robin wie rasend unter dem Griff des Muselmanen aufbäumte, der ihren Blick in Richtung des schrecklichen Geschehens zwang, fuhr Ribauld fort: »Der Zapfen muss in die Wurzel des abgetrennten Gliedes eingeführt werden, damit die Öffnung dort erhalten bleibt und der Körper auch weiterhin das überflüssige Wasser abführen kann. Täte man es nicht, würde sie sich verschließen und der Junge würde eines grausamen und qualvollen Todes sterben.«
Robin begann zu weinen. Sie wollte die Augen schließen, aber Omars Leibwächter ließ es nicht zu: Mit der linken Hand drückte er weiter ihr Kinn nach oben, sodass ihr Blick fest auf den Tisch geheftet blieb, und mit Mittel- und Zeigefinger der Rechten zwang er ihre Lider hoch. So musste sie auch weiterhin zusehen, wie Ribauld die Wunde rasch und geschickt mit in kaltes Wasser getauchten Leinentüchern verband und anschließend noch eine zweite, straffer sitzende Bandage anlegte. Er ging dabei geschickt und sehr ruhig zu Werke - und teilnahmslos. Wie konnten Hände, die imstande waren, so viel Gutes zu tun, zugleich auch so viel Unheil anrichten?
»Warum tut Ihr das, Ribauld?«, schluchzte Robin. »Von diesen Ungeheuern hier hätte ich nichts anderes erwartet, aber Ihr? Ihr seid ein Christ! Wie könnt Ihr so etwas tun?«
»Ich habe die Kunst der Kastration bei einem Medicus in Rom erlernt«, antwortete Ribauld ruhig, »der ausschließlich für Papst Alexander III. und den Klerus gearbeitet hat. Es wird dich vielleicht überraschen, Mädchen, aber der Papst hatte große Freude an den hellen Singstimmen von Knaben.« Er zuckte wie beiläufig mit den Schultern. »Und um diese Singstimmen zu erhalten, ist es meiner Meinung nach unumgänglich, sie in einem bestimmten Alter beschneiden zu lassen.« Er wechselte plötzlich in seine Muttersprache. »In diesem Teil der Welt dürfen nur christliche und jüdische Ärzte die Kastration vornehmen, musst du wissen. Die Worte des Propheten verbieten es den Gläubigen, einen Menschen auf diese Weise zu verstümmeln. Aber es gibt nun einmal großen Bedarf an Kastraten und so erteilt man die Aufgabe Ungläubigen wie mir.« Ein dünnes, bitteres Lächeln stahl sich auf seine Lippen, während er sorgsam den Sitz des Verbands überprüfte, den er dem Jungen angelegt hatte. »Nenn es doppelte Moral, Mädchen, aber nach den Buchstaben des Korans wird so gegen kein Gebot verstoßen.«
»Und nach denen der Bibel?«, fragte Robin bitter.
Die beiden Wachen hoben Rustan fast behutsam vom Tisch. Einer der Männer griff dem Jungen unter die Achseln und stellte ihn auf die Füße, der andere ließ sich vor ihm in die Hocke sinken und schlug ihm mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht; nicht wirklich fest, aber doch nachhaltig genug, dass er mit einem wimmernden Laut wieder erwachte. Er begann zu weinen und seine Beine zuckten unkontrolliert. Auf dem gerade erst frisch angelegten Verband bildete sich ein dunkelroter, rasch größer werdender Fleck.
»Warum quält Ihr ihn so?«, schluchzte Robin. »Lasst ihm doch wenigstens die paar Augenblicke ohne Qual.«
Der fränkische Arzt wandte sich langsam zu ihr um und schüttelte in ehrlichem Bedauern den Kopf. »Ich wollte, das wäre mir möglich. Aber er muss in Bewegung bleiben, damit sich keine üblen Säfte in der Wunde sammeln. Mach dir keine Sorgen. Er ist ein kräftiger Junge. Er wird es überleben. Wenn er die nächsten zwei Tage durchsteht, dann wird er wieder ganz gesund.«
»Du verfluchter Heuchler!«, keuchte Robin. Wieder bäumte sie sich gegen ihre Fesseln auf. Die Stricke waren so fest, dass sie sich dabei nur selbst Schmerz zufügte, aber zumindest ließ Omars Leibwächter ihren Kopf los. In sinnloser Raserei schlug sie ein paar Mal mit dem Hinterkopf gegen die hohe Lehne aus hartem Holz, dann sank sie in sich zusammen und begann haltlos zu weinen. »Ich dachte, du wärst der einzige Mensch hier, Ribauld, aber ich muss mich wohl getäuscht haben. Du bist das größte Ungeheuer von allen. Ich wünsche dir, dass du auf ewig im Fegefeuer brennst.«
Der Arzt zeigte sich von ihren Verwünschungen wenig beeindruckt. Einen Moment lang stand er noch da und sah sie auf eine Art an, als wäre ihm der Sinn ihrer Worte nicht ganz klar, dann zuckte er mit den Schultern, ging zum Tisch und begann, sorgfältig und scheinbar ganz auf seine Arbeit konzentriert, seine Instrumente zu säubern. Wie beiläufig und wieder in seiner Muttersprache fragte er: »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Mädchen, wer letzten Endes die Schuld an alledem hier trägt? Statt mich zu verfluchen, solltest du Gott dafür danken, dass das arabische Kind, an das du offensichtlich dein Herz verloren hast, ein Mädchen ist. Wäre es ein Knabe, dann hätte er jetzt hier gelegen, nicht dieser arme Junge.«
Ein bitterer Geschmack breitete sich auf Robins Zunge aus. So gerne sie Ribauld widersprochen hätte, ihn weiter verflucht und seine Seele in die tiefsten Abgründe der Hölle gewünscht hätte - so sehr wusste sie, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. Und deshalb taten sie so weh. Insgeheim hatte Robin sogar damit gerechnet, dass Omar Nemeth für ihre Verfehlung büßen lassen würde, um sie damit umso härter zu treffen. Und auch dieses Gefühl der Erleichterung, dass es nicht das Mädchen, sondern jemand anders getroffen hatte, schmerzte sie. Sie fühlte sich unendlich schuldig. Wäre sie nicht an den Stuhl gefesselt gewesen, sie wäre aufgesprungen und hätte eines der Messer vom Tisch genommen, um es sich ins Herz zu stoßen.
»Warum bringt Ihr ihn nicht gleich um?«, murmelte sie matt. »Das wäre barmherziger.«
Omar gab den beiden Wachen einen Wink und sie griffen Rustan unter die Arme und zwangen ihn, zwischen ihnen zur Tür zu gehen. Der Junge sackte immer wieder in sich zusammen. Er schien nicht einmal mehr die Kraft zum Weinen zu haben. Es war nur noch ein jämmerliches Schluchzen. Erst als sich die Tür hinter ihm und den beiden Kriegern geschlossen hatte, drehte sich der Sklavenhändler wieder herum und sah sie an.
»Meister Ribauld wird alles tun, damit der Knabe am Leben bleibt«, sagte er. »Schließlich übersteht nur einer von vier Jungen die Kastration. Die Überlebenden sind dafür umso kostbarer. Es liegt eine glänzende Zukunft vor ihm, denn Eunuchen tun nur in den vornehmsten Häusern Dienst und müssen niemals schwere Arbeit leisten. Du wirst sehen, Christenmädchen - wenn er stark genug ist zu überleben, dann wird er dir eines Tages dankbar sein.«
Robin war fassungslos, zumal sie spürte, dass diese Worte keineswegs höhnisch, sondern vollkommen ernst gemeint waren.
»Du hast nun gesehen, was denen geschieht, die sich meinem Willen widersetzen«, fuhr Omar ruhig fort. »Solltest du einen weiteren Fluchtversuch unternehmen - ob allein oder zusammen mit anderen -, dann werde ich vor deinen Augen alle Jungen aus dem Fischerdorf kastrieren lassen. Und deine kleine Freundin wird vor deinen Augen zu Tode gepeitscht. Verhältst du dich dagegen angemessen, so wird es ihr und auch all ihren Mitsklaven gut ergehen. Du ganz allein bestimmst über das Schicksal der Sklaven vor ihrem Verkauf.« Er wandte sich zu seinem Leibwächter, der noch immer hoch aufgerichtet und reglos hinter Robins Stuhl stand. »Bring sie zurück auf ihr Zimmer. Sie soll zu essen und saubere Kleider bekommen. Morgen bei Sonnenaufgang wünsche ich sie in tadellosem Zustand zu sehen.«
»Was sollte mich daran hindern, bei Sonnenaufgang nicht mehr zu leben?«, fragte Robin leise.
»Niemand«, erwiderte Omar. »Einzig vielleicht das Wissen, dass deine Freunde unten im Verlies dich nicht lange überleben würden. Und dass ihnen kein leichter Tod bevorsteht. Wie gesagt: Die Entscheidung liegt ganz allein bei dir.« Er sah Robin noch einen Moment lang durchdringend an, um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen, dann drehte er sich um und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer.