20. KAPITEL


Zwei Tage später ritt das spärliche Trüppchen, das von der Karawane noch übrig geblieben war, durch einen schmalen Bergpass in ein kleines Dorf ein, dessen Häuser aus hellem Sandstein erbaut waren. Das Erste, was Robin sah, waren flache, mitunter mit niedrigen Kuppeln oder kleinen Zinnenkronen geschmückte Dächer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier waren, ja, sie hätte nicht einmal zu sagen vermocht, in welche Richtung sie geritten waren oder wie weit und wie schnell. Ihr Trupp war auf weniger als ein Drittel seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft, wobei die Zusammensetzung jedoch gewechselt hatte.

Sie waren tatsächlich nach weniger als einer Stunde aufgebrochen, und noch im Laufe desselben Tages waren die Pferde der Assassinen eines nach dem anderen zusammengebrochen, sodass die Männer nach und nach auf die erbeuteten Kamele übergewechselt waren. Nur Harun selbst ritt noch eine Zeit lang sein gewaltiges schwarzes Schlachtross, doch auch die Kräfte dieses prachtvollen Tieres schwanden zusehends. Während des zurückliegenden Tages hatte Harun nicht mehr in seinem Sattel gesessen, sondern war ebenfalls auf ein Kamel gestiegen und hatte das Pferd am Zügel neben sich hergeführt. Zwei- oder dreimal hatten sie angehalten und gewartet, bis die Flanken des Tieres aufhörten zu zittern und von seinen Nüstern kein schaumiger Schweiß mehr tropfte.

Nach der Erbarmungslosigkeit, mit der Harun vor zwei Tagen befohlen hatte, die Gefangenen zu töten, war es Robin fast absurd vorgekommen, dass sich dieser riesige, harte Mann so sanft und mitfühlend um sein Pferd kümmerte wie eine Mutter um ihr Kind. Aber sie hatte ihn nicht darauf angesprochen, und auch Harun hatte es während der gesamten Reise bei ein paar Belanglosigkeiten und einem gelegentlichen Lächeln belassen. Ihre bohrenden Fragen nach dem Ring, seiner Bedeutung und vor allem seiner Herkunft hatte er ebenso übergangen wie ihre Bitte, sich um Nemeth und ihre Mutter kümmern zu dürfen. Die beiden gehörten, ebenso wie Omar, zu den Nachzüglern der Karawane, die nun das Dorf erreichten. Robin war die ganze Zeit über streng von ihnen getrennt worden und hatte auch während der Nacht in einem eigenen Zelt geschlafen, das von drei schweigsamen Assassinenkriegern bewacht wurde.

Sie fragte sich, was aus den anderen Männern geworden war. Am Abend des ersten Tages ihrer Reise hatten sie sich aufgeteilt. Die wenigen Pferde, die noch überlebt hatten, die Verwundeten sowie fast die Hälfte der unverletzt gebliebenen Krieger waren am Rande eines ausgetrockneten Wadis zurückgeblieben, damit Männer und Tiere wieder zu Kräften kommen konnten. Doch Robin versuchte vergeblich eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sie sich erholen sollten, ohne Schatten, ohne ausreichendes Wasser, ohne Hilfe. Keiner der Männer hatte aufbegehrt, es auch nur gewagt, zu murren oder missbilligend zu blicken, als der Alte vom Berge ihnen seine Entscheidung mitteilte, aber sie war ziemlich sicher, dass die meisten von ihnen wussten, dass sie zurückgelassen wurden, um zu sterben. Vielleicht würde Harun ja einen Trupp mit frischen Tieren, Wasser und Verpflegung zu ihnen schicken, sobald sie die geheimnisvolle Bergfestung der Assassinen erreicht hatten. Aber irgendwie glaubte sie nicht daran.

»Ich habe Durst«, beschwerte sie sich.

Harun, der wie üblich nur ein Stück neben ihr ritt, löste seinen Wasserschlauch vom Sattel und schwenkte ihn bedauernd hin und her. Er war leer. »Es tut mir Leid, meine Wüstenrose«, sagte er. »Diesmal kann ich dir mein Wasser nicht geben. Aber der Weg ist nicht mehr weit.«

Robin fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die noch rissiger und trockener waren als zwei Tage zuvor. Wenn sie sein Ende lebend erreichen wollten, durfte der Weg nicht mehr weit sein. Haruns Plan, seine Männer ihre Pferde zuschanden reiten zu lassen, um mit Omars Kamelen und seinen Wasservorräten an ihr Ziel zu gelangen, mochte grausam und unmenschlich, aber auch klug ausgedacht gewesen sein. Und er wäre sicherlich auch aufgegangen, wären sie nicht in den Sandsturm geraten, wo ein großer Teil ihres Wasservorrats verloren gegangen war. Die Hälfte davon hatte Harun obendrein den Männern gelassen, die in der Wüste zurückgeblieben waren. Robin hatte am Abend zuvor den letzten Schluck Wasser getrunken, und den anderen erging es vermutlich noch schlimmer. Vielleicht hatte das Schicksal in einem Akt besonders schwarzen Humors ja vor, sie am Ende dieses schrecklichen Weges doch noch verdursten zu lassen.

»Und wenn nicht?«, murmelte sie. »Versprichst du mir etwas, Harun?«

»Was immer du willst, Tochter der Morgenröte«, antwortete Harun.

»Falls wir verdursten, verrätst du mir dann vorher endlich, was du mit mir vorhattest?«

Harun lachte. Es klang böse, obwohl es vermutlich nicht seine Absicht war, denn auch seine Kehle war ausgedörrt und rau. »Nun, immerhin bist du mein Eigentum«, sagte er. »Und ich denke, dass ein Mann für eine so hübsche und vielseitige junge Frau, wie du es bist, immer eine Verwendung findet. Auch wenn sie nur eine Ungläubige ist.« Er lachte wieder und diesmal klang es sogar ehrlich amüsiert. »Aber so weit wird es nicht kommen. Wir sind fast da. Siehst du?«

Robin zwang sich, den Kopf zu heben und den Blick seinem ausgestreckten Arm folgen zu lassen. Das vor ihnen liegende Bergdorf bestand nur aus einer Hand voll Häuser, und die Sonne stand senkrecht über dem Tal, sodass es einen Moment dauerte, bis sich ihre Augen an das grelle Gegenlicht gewöhnt hatten. Dann aber begriff sie, was Harun ihr zeigen wollte.

Über ihnen lag Masyaf, die Festung der Assassinen. Sie erhob sich auf dem kahlen, nahezu unbesteigbaren Felsen unmittelbar über dem Dorf. Mit ihren hohen, verwinkelten Mauern sowie den vorspringenden Türmen und Erkern beherrschte sie das Tal in weitem Umkreis. Sie war aus hellem Sandstein gebaut und Banner aus schwarzem Tuch, ohne irgendein Emblem, wehten über ihren Zinnen. Trotz der hellen Farbe des Steins wirkte sie düster und bedrohlich, und Robin musste unwillkürlich an das Märchen vom Kalifen Hisham denken, das Omar ihr erzählt hatte. Auch seine Reiter hatten schwarze Banner getragen. Auch seine Festung hatte das Land in weitem Umkreis beherrscht.

Unwillkürlich drehte sie sich auf dem Rücken ihres Kameles herum und versuchte, einen Blick auf Omar zu erhaschen. Er war fast ans Ende der Karawane zurückgefallen. Noch aus dieser großen Entfernung konnte sie sehen, wie blass und kraftlos er auf dem Sattel hin und her schwankte.

Robin hatte trotz der Abschirmung durch die Assassinen mitbekommen, dass er die Nacht zuvor starkes Fieber bekommen hatte. Sie hoffte, dass es auf der Festung einen Heilkundigen gab, der sich um ihn kümmerte. Aber sie wusste auch, dass sie sich jede entsprechende Frage an Harun sparen konnte.

»Warum bitten wir nicht die Leute hier um Wasser?«, fragte sie. »Schließlich seid Ihr doch ihr Scheich, oder etwa nicht?«

Harun nickte. »Sheik Sinan, der Alte vom Berge, das ist richtig«, antwortete er mit sonderbarer Betonung. »Und eben darum werde ich diese Menschen hier nicht um Hilfe bitten. Ich dachte, dass du das verstehst.«

Das tat Robin sogar. Sie hätte sich im Gegenteil gewundert, wäre Harun auf die Idee gekommen, die Karawane anhalten zu lassen, damit die halb verdursteten Menschen und Tiere endlich Wasser bekamen. Harun war nicht nur irgendein Herrscher, sondern nach allem, was sie bisher gesehen und gehört hatte, ein Mann, dessen Macht vor allem durch seinen Ruf begründet war - und darauf, dass ihn die Menschen eher für einen Geist als für einen Menschen hielten. Schon sein Stolz musste es ihm verbieten, um Hilfe zu bitten.

Aber Stolz war eine sonderbare Sache. Manchmal konnte er hilfreich sein, meistens aber war er einfach hinderlich - und in diesem Fall sogar lebensgefährlich. Auch wenn sie wusste, dass Entfernungen im sonderbaren Licht dieses Landes manchmal täuschten, konnte es nicht mehr weit bis zur Festung hinauf sein; vielleicht eine halbe Stunde, wahrscheinlich weniger. Und dennoch war sie nicht sicher, ob alle Männer diese letzte Etappe ihrer Flucht vor der Wüste durchstehen würden.

Der Anblick der Bergfestung war ihr unheimlich, und sie riss den Blick davon los, um die Dorfbewohner, die ihnen entgegengekommen waren, zu mustern. Es waren nicht viele und die meisten von ihnen waren Kinder; überraschend viele Kinder, wenn man in Betracht zog, dass das Dorf aus kaum mehr als zwei Dutzend, noch dazu recht kleiner, gedrungener Häuser bestand, die sich regelrecht schutzsuchend in den Schatten der düsteren Burg duckten. Robin schätzte, dass es mindestens dreißig Jungen und Mädchen waren, die ihnen johlend entgegengelaufen kamen, den abgekämpften Reitern zuwinkten oder ihnen Scherzworte zuriefen. Andere wieder standen einfach nur da und musterten neugierig die schweigende Karawane abgekämpfter Gestalten. Nicht auf einem einzigen Gesicht entdeckte sie Furcht, nur Neugier oder auch Freude über die Abwechslung, und ihr fiel auch auf, wie wohlgenährt, sauber und gut gekleidet die Kinder ausnahmslos waren. Ganz und gar nicht das, was sie am Fuße von Masyaf erwartet hätte, der Felsenfestung des Alten vom Berge und seiner Assassinen, um die sich so viele düstere Legenden und blutige Geschichten rankten.

Auch das Dorf selbst machte einen erstaunlich gepflegten, ja wohlhabenden Eindruck. Die Häuser, obwohl klein, waren in gutem Zustand und umgeben von Obstgärten mit weiß blühenden Aprikosenbäumen, bunten Ziersträuchern und Granatapfelbäumen. Es gab gleich zwei Brunnen, die den Ort und die ihn umgebenden Felder mit ausreichend Wasser versorgten, und am Wegesrand grasten Ziegen. Ein kurzes Stück des Weges folgte ihnen ein Trupp struppiger, aber gut genährter Hunde, die die Kamele und ihre Reiter nicht aus Hunger, sondern vermutlich aus purer Langeweile verfolgten und währenddessen ständig ankläfften.

Die Luft war geschwängert von Blütenduft sowie von einem anderen, leicht süßlichen Aroma, das Robin von irgendwoher bekannt vorkam, ohne dass sie es genau hätte einordnen können. Neben den Kindern waren auch einige Erwachsene aus den Häusern getreten, doch im Gegensatz zu diesen versuchte niemand, sich der Karawane zu nähern oder einen der Männer anzusprechen. Sie kamen keinem Haus nahe genug, dass sie die Gesichter dieser Menschen wirklich in Ruhe hätte mustern können, und doch hatte sie das Gefühl, dass die Blicke dieser Menschen ihnen zwar durchaus freundlich, zugleich aber auch mit einer gewissen Reserviertheit folgten. Sheik Sinan, dachte sie, war mit Sicherheit kein unbeliebter Herrscher, ebenso wenig wie einer, der die Nähe zu seinen Untertanen suchte.

Quälend langsam zog das Dorf an ihnen vorüber. Robin musste all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht einfach aus dem Sattel zu springen und loszurennen, als sie einen der beiden Brunnen passierten und sie das frische Wasser sah, mit dem der darüber hängende Eimer gefüllt war. Sie nahm an, dass das Oberhaupt der Assassinen sie vermutlich nicht einmal daran hindern würde, aber er würde es als ein Zeichen von Schwäche auslegen, und noch war Robins Stolz stärker als ihr Durst.

Wie schon etliche Male in ihrem Leben verfluchte sie sich schon bald für ihre eigene Tapferkeit. Vom Dorf bis zu dem steinigen, steilen Pfad, der zum eigentlichen Tor der Festung hinaufführte, war es noch eine gute Viertelstunde. Er war so schmal, dass er nur für jeweils ein Kamel oder einen Reiter Platz bot, und wand sich in zahllosen, scheinbar vollkommen willkürlichen und sinnlosen Kehren und Serpentinen den sandfarbenen Felsen hinauf. An einigen Stellen wurde er von aus kräftigen hölzernen Balken gezimmerten Brücken unterbrochen, unter denen steile und scheinbar bodenlose Schlünde aufklafften. Manchmal war die Neigung so stark, dass selbst eine Bergziege Mühe gehabt hätte, den Pfad zu erklimmen; wie Haruns Pferd oder gar die Kamele die Wegstrecke schafften, blieb Robin ein Rätsel.

Sie hatte es aufgegeben, das Verstreichen der Zeit schätzen zu wollen. Vielleicht dauerte es nur wenige Minuten, vielleicht doch eine halbe Ewigkeit, ehe sie den kleinen Absatz erreichten, hinter dem das eigentliche Tor lag. Sie hatte erwartet, dass ihnen Diener oder zumindest Wachen entgegeneilten, doch die Festung wirkte auch aus der Nähe betrachtet ebenso gespenstisch und unheimlich wie von weitem.

Kein Mensch zeigte sich. Niemand rief ihnen ein Willkommen zu. Selbst das beständige Heulen des Windes, der sich an zahllosen Felsvorsprüngen und Graten brach und sie den ganzen Weg hier heraufbegleitet hatte wie ein Chor verdammter Seelen, schien verstummt. Doch als sich Harun dem geschlossenen Tor näherte, erscholl ein einzelner hoher Glockenton, und die beiden wuchtigen Flügel öffneten sich vor ihnen, wie von Geisterhand bewegt.

Dahinter lag kein Hof, sondern ein halbrunder hoher Tunnel, der offensichtlich direkt aus dem gewachsenen Fels herausgemeißelt war.

Harun glitt vor ihr aus dem Sattel. Seine Bewegungen waren noch immer kraftvoll, obgleich sie viel von ihrer Eleganz und Leichtigkeit eingebüßt hatten, - ein Anblick, der Robin eigentlich mit grimmiger Befriedigung hätte erfüllen müssen. In den letzten Tagen hatte sie sich mehr als einmal allen Ernstes gefragt, ob dieser Mann nicht tatsächlich etwas von einem Dschinn an sich hatte, denn seine Kräfte schienen im wahrsten Sinne des Wortes unerschöpflich. Als sie ihn jetzt beobachtete, bedrückte es sie nur noch mehr, denn er machte ihr klar, in welch bemitleidenswertem Zustand sie alle sich befanden. Sie gestand sich ein, dass sie selbst zu müde war, um noch Hass zu empfinden.

»Steig ab«, befahl Harun. Er streckte den Arm aus, um ihr zu helfen. Aber Robin schüttelte nur trotzig den Kopf, schwang das rechte Bein über den Sattel und versuchte, vom Kamel abzuspringen, noch ehe das Tier sich niederließ.

Vollkommen entkräftet, verlor sie den Halt, kippte nach vorne und wäre auf den harten Felsboden gestürzt, hätte Harun sie nicht aufgefangen. Sorgsam stellte er sie auf die Beine und ließ seine gewaltigen Hände auf ihren Hüften liegen, bis er sich mit einem fragenden Blick in ihre Augen davon überzeugt hatte, dass sie aus eigener Kraft stehen konnte.

»Wir kennen uns jetzt lange genug, Robin«, sagte er. »Du musst mir nicht beweisen, wie tapfer du bist.«

Tapfer! Robin hätte gelacht, hätte sie noch die Kraft dazu gehabt. Nein, sie war nicht tapfer. Hätte sie auch nur noch einen Funken wirklichen Muts in sich gehabt, dann hätte sie längst einen Dolch genommen und ihrem Leben ein Ende bereitet. Sie machte sich mit einer trotzigen Bewegung aus Haruns Griff los, drehte sich herum und wollte die Hand nach dem Zügel des Kamels ausstrecken, aber der Alte vom Berge schüttelte nur den Kopf und deutete auf den Tunneleingang hinter sich.

»Den Rest müssen wir zu Fuß gehen«, sagte er. »Wir lassen die Tiere hier. Man wird sich um sie kümmern.«

Unbeschadet dessen, was er gerade gesagt hatte, nahm er sein Pferd am Zügel und trat dicht vor Robin in den düsteren Tunnel, der in sanfter Neigung bergauf führte. Das Pferd musste den Kopf senken, um nicht gegen die raue Decke zu stoßen. Robin wusste, welches Unbehagen es Pferden bereitete, auf so hartem Boden zu gehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der es dennoch nach oben trottete, verriet ihr, dass es diesen Weg schon sehr oft gegangen war.

Sie musste all ihre Kräfte zusammenraffen, um mit Harun überhaupt Schritt zu halten. Die Steigung, die ihr am Anfang sanft vorgekommen war, nahm rasch zu und schon nach wenigen Schritten blieb das Tageslicht hinter ihnen zurück. Danach bewegten sie sich durch wattiges Halbdunkel, das nur von schmalen Streifen flirrenden Sonnenlichtes durchbrochen wurde. Es drang durch kaum handflächengroße Löcher in der Decke ein, durch die alle Geräusche verstärkt und mit einem verzerrten Echo zurückgeworfen wurden.

Der süßliche Duft, der ihr schon unten im Dorf aufgefallen war, wurde zunehmend intensiver und irgendetwas daran erinnerte sie plötzlich unangenehm an den Geruch verwesender Leichen. Anstelle des heulenden Windes, der sie mit dem Klang weinender Seelen hier heraufbegleitet hatte, vernahm sie nun andere, fremdartige und ausnahmslos beunruhigende Laute, die in einem nicht erkennbaren Rhythmus an- und abschwollen.

Immer wieder versuchte sie, sich bewusst zu machen, dass sie Fieber hatte und vermutlich halluzinierte, dass dieser Tunnel nichts anderes als eben ein Tunnel war und keinerlei Gefahr enthielt außer vielleicht der, sich an einem unvorhergesehenen Hindernis zu stoßen. Aber einer anderen Stimme in ihr, die stärker war als die Stimme der Vernunft, gelang es, sie in einen Zustand immer stärker werdender Panik zu versetzen. Dies war nicht irgendein Burgzugang, und es war nicht irgendeine Festung, in deren Herz er führte. Dies war Masyaf, die sagenumwobene Bergfestung des nicht minder sagenumwobenen Sheiks der Assassinen. Obwohl sie selbst jetzt kaum etwas über diesen geheimnisvollen Clan wusste, so überzeugte sie doch allein die Erinnerung an die Angst, die sie in den Augen der Menschen gelesen hatte, wenn nur der Name des Alten erwähnt wurde, dass am Ende dieses lichtlosen Durchbruchs nichts anderes als der Schlund zur Hölle auf sie wartete.

Vorerst jedoch war es nur ein schmaler Hof, über dem sich der Mauerkranz der inneren Burg erhob. Nachdem sie durch fast vollkommene Dunkelheit gegangen waren, blinzelte Robin unsicher in das ungewohnte, gnadenlos grelle Licht, mit dem sich die Sonnenstrahlen auf dem sandfarbenen Stein brachen, und ihre Augen füllten sich sogleich mit Tränen. Drinnen im Tunnel war die Luft stickig gewesen und unangenehm warm, hier draußen war es nahezu unerträglich heiß. Der Durst, den sie in den letzten Minuten nahezu vergessen hatte, sprang sie plötzlich wie ein Raubtier an, und sie schluckte ein paar Mal trocken.

Die Knie drohten unter ihr nachzugeben. Sie machte einen raschen Schritt, um nicht tatsächlich zu stürzen, streckte die linke Hand aus und stützte sich am rauen Fels der Mauer ab. Wie durch einen rasch dichter werdenden Nebelschleier sah sie, wie Harun sein Pferd losließ und sich zu ihr umwandte, um ihr einen besorgten Blick zuzuwerfen, und ein vielleicht allerletztes Mal regte sich ihr Stolz. Trotzig nahm sie die Hand von der Mauer, straffte die Schultern und erwiderte Haruns Blick so herausfordernd, dass er schließlich nur ein Achselzucken andeutete und sich wieder abwandte.

Erneut wurden ihre Knie weich. Robin machte einen weiteren Schritt zurück und zur Seite, lehnte sich mit Rücken und Hinterkopf gegen den warmen Sandstein und spürte, wie ihre Lider schwer zu werden begannen. Ihre Kräfte waren aufgebraucht, endgültig und unwiderruflich, und nun, wo sie ihr Ziel erreicht hatten, forderte ihr Körper mit aller Macht, was ihm zustand. Die Festung begann vor ihren Augen zu verschwimmen. Alles drehte sich um sie.

»Du hast mir jetzt bewiesen, dass du ebenso viel zu leisten vermagst wie der tapferste meiner Krieger, Ungläubige. Bestehst du darauf, das Spiel auf die Spitze zu treiben, oder lässt du dich von mir in den Schatten und zu einem großen Krug kalten Wassers bringen, bevor du zusammenbrichst?«

Sie setzte zu einer Antwort an, brachte aber nur ein unverständliches Krächzen hervor, und fuhr sich mit ihrer trockenen Zungenspitze über noch trockenere Lippen, ehe sie erneut ansetzte: »Ich will... auf Nemeth warten.«

»Nemeth?« Harun legte fragend den Kopf auf die Seite. »Bist du sicher, dass du nicht Omar meinst?«

Nein, sie war ganz und gar nicht sicher. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft, die Antwort auch nur in Gedanken zu formulieren, geschweige denn, sie auszusprechen. Müde schüttelte sie den Kopf, lehnte die Schulter wieder gegen die Wand und drehte sich zur Seite, sodass sie den Ausgang des Tunnels beobachten konnte.

Auf dieser Seite gab es kein Tor, sondern nur ein massives Rollgatter, das ganz nach oben gezogen worden war. In einer langen, weit auseinander gezogenen Kette traten die Männer heraus, die es bis hierher geschafft hatten, - ein zerschlagener, bemitleidenswerter Haufen taumelnder Gestalten, von denen einige kaum noch die Kraft hatten, sich auf den Beinen zu halten.

Von der Armee Furcht einflößender, schwarzer Geister, als die sie ihr vor zwei Tagen in der Wüste vorgekommen waren, war nichts mehr geblieben. Wenn die Männer in der gleichen Reihenfolge aus dem Tunnel traten, in der sich die Karawane durch das Dorf und den Felsenpfad hinaufbewegt hatte, dann würden Nemeth, Saila und Omar zu den Letzten gehören, die den Hof betraten. Robin versuchte, die schwarzen Gestalten zu zählen, die neben ihr aus dem Tunnel kamen, aber ihre Augen versagten ihr den Dienst. Sie spürte noch, wie ihre Sinne schwanden, aber nicht mehr, wie ihre Knie unter dem Gewicht ihres Körpers nachgaben und sie stürzte, und schon gar nicht mehr, wie Harun im letzten Augenblick vorsprang und sie auffing.

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