Sie war nicht ertrunken, das schloss sie allein aus der Tatsache, dass sie diesen Gedanken denken konnte, als sie das nächste Mal die Augen aufschlug. Und sie befand sich auch nicht mehr auf einem Schiff, denn der Boden, auf dem sie lag, bewegte sich nicht, und es war wunderbar warm und trocken. Das war aber auch schon alles, was sie über sich selbst und ihre Situation wusste.
Robin blinzelte in das sonderbar bräunliche Licht, das sie umgab, schloss die Augen wieder und versuchte sich zu erinnern. Aber die Serie von Bildern in ihrem Kopf hörte mit dem auf sie zusausenden Krummdolch auf, irgendeinen Sinn zu ergeben. Danach folgte keine wirkliche Schwärze, aber ein solches Durcheinander von Gefühlen und aufblitzenden Visionen, dass ihr wirkliches Vergessen beinahe lieber gewesen wäre. Sie musste wieder zu sich gekommen sein, nachdem sie aus dem Schiff gestürzt war, vielleicht durch die Kälte des Wassers oder die Atemnot oder auch beides geweckt. Doch der Funke von Bewusstsein, der sie vor dem Ertrinken bewahrt hatte, war nicht hell genug aufgelodert, als dass sie sich hätte klar an die Zeit danach erinnern können. Instinktiv hatte sie Schwimmbewegungen gemacht, um sich an die Wasseroberfläche zu kämpfen, und sich danach an dem erstbesten Gegenstand festgeklammert, den ihre Hände fanden. Vielleicht ein Trümmerstück, vielleicht auch eine Leiche, von denen Dutzende im Wasser trieben. Alles, was sie noch wusste, war, dass Zeit vergangen war, sehr viel Zeit, in der sie ein paar Mal das Bewusstsein verloren und endlose Ewigkeiten in dem schmalen Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachsein verbracht hatte. Irgendwann waren da Stimmen, aufgeregte Rufe und Hände, die nach ihr griffen und sie aus dem Wasser zogen; wer, warum und wohin, vermochte sie nicht zu sagen.
Dennoch war Robin mit dem Ergebnis ihrer Überlegungen zufrieden. Sie war nicht tot und im Himmelreich, sondern höchst lebendig und anscheinend nicht einmal schwer verletzt. Jemand hatte sie aus dem Wasser gezogen und hierher gebracht, und auch wenn sie nicht wusste, wo dieses hier war - es befand sich an Land, und das war im Moment das Allerwichtigste. Nie wieder würde sie ein Schiff betreten, das schwor sie sich, und wenn sie zu Fuß zurück in die Heimat marschieren musste!
Robin lauschte noch einen Moment lang in sich hinein, konnte aber weder einen Quell größerer Schmerzen noch ein anderes Zeichen lokalisieren, das ihr Anlass zur Besorgnis hätte geben können. So schlug sie die Augen erneut auf und musterte neugierig ihre Umgebung.
Sie konnte nicht besonders viel sehen, und das lag vermutlich an dem seltsamen Licht, das sehr blass und bräunlich gefärbt war. Es war warm. Von irgendwoher drangen Geräusche an ihr Ohr, die sie nicht einordnen konnte, die aber auch nichts Bedrohliches hatten. Zumindest war die Schlacht vorbei.
Robin drehte den Kopf nach rechts und erkannte endlich, wo sie sich befand. Die seltsame Farbe des Lichts rührte von der groben braunen Zeltplane her, durch die es gefiltert wurde. Es war ein längliches Zelt, das fast vollständig leer war. Sie selbst lag auf einem weichen Wollteppich und war mit einer grob gewebten Decke zugedeckt. Der grobe Stoff der Decke kratzte sie am Rücken und an den nackten Beinen. Sie musste nicht erst mit ihren Händen über ihren Leib tasten, um zu wissen, dass sie völlig nackt war. Sie spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoss. Jemand hatte ihr das Templergewand ausgezogen und sie dann in diese Decke gewickelt. War das ein Grund zur Besorgnis?
Sie hoffte, dass es das nicht war. Und doch blieb ein ungutes Gefühl zurück. Jemand hatte sie nackt gesehen. Das konnte sie das Leben kosten. Doch hätten die Templer sie aus dem Wasser gefischt, dann befände sie sich jetzt vermutlich wieder auf einem Schiff. Und wären es die Sarazenen gewesen, wäre sie jetzt wahrscheinlich tot, zumindest aber gefesselt und gut bewacht. Wer aber hatte sie dann aus dem Meer gezogen?
Robin dachte eine Weile angestrengt über diese Frage nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Und sie würde sie sicher auch nicht lösen, wenn sie weiter hier herumlag und die Zeltplane über ihrem Kopf anstarrte.
Mit einer entschlossenen Bewegung schlug sie die Decke zurück, erhob sich auf die Knie und bekam prompt einen heftigen Schwindelanfall. Intuitiv spürte sie, dass sie sehr lange hier gelegen hatte, und dennoch war ihr Körper noch vollkommen geschwächt. Womöglich würde es weitere Tage dauern, bis sie sich auch nur halbwegs erholt hatte.
Robin wartete, bis die Dunkelheit hinter ihrer Stirn aufhörte, sich wie wild im Kreis zu drehen, dann öffnete sie erneut die Augen und erhob sich vorsichtig. Beunruhigt unterzog sie ihren Körper einer eingehenden Untersuchung, so weit das bei dem schwachen Licht hier drinnen möglich war. Sie hatte jede Menge Schrammen und Kratzer, schien jedoch nicht ernsthaft verletzt zu sein. So wie es aussah, hatte man ihr hier Ruhe gönnen wollen, bis sie von selbst wieder zu sich kam. Jetzt war sie nahezu sicher, nicht in die Hände ihrer Feinde gefallen zu sein.
Bei der Erinnerung an die letzten Minuten auf der sinkenden Sankt Christophorus verdüsterte sich Robins Gesicht. Sie sorgte sich um Salim, und sie machte sich schwere Vorwürfe dafür, ihn mit ihrer kindischen Forderung so unnötig in Gefahr gebracht zu haben. Außerdem saß das Wissen um ihr eigenes Versagen während des Kampfes mit dem Sarazenen wie ein schmerzender Stachel in ihrer Seele.
Sie verscheuchte die unguten Gedanken, hob die Decke auf und wickelte sich hinein, bevor sie zum Ausgang ging. Sie war nicht gefesselt, es gab keine Wächter, und ihr Gefängnis bestand nur aus einer dünnen Zeltplane, also würde vermutlich auch niemand etwas dagegen haben, dass sie es verließ. Sie musste einfach wissen, wo sie war und wer die Menschen waren, deren Stimmen sie undeutlich und gedämpft bis ins Zeltinnere hören konnte. Robin zögerte noch einen kurzen Moment, ehe sie mit einer entschlossenen Geste die Zeltplane zurückschlug und hinaustrat.
Ihre Augen waren so sehr an das blasse Dämmerlicht im Inneren des Zeltes gewöhnt, dass sie im ersten Moment praktisch gar nichts sah. Sie blinzelte, hob die linke Hand vor das Gesicht und wartete ungeduldig darauf, dass sich ihre Augen ans gleißende Sonnenlicht gewöhnten.
Die Stimmen in ihrer Umgebung veränderten sich, verstummten für einen Moment und klangen dann aufgeregter; man hatte also bemerkt, dass sie aufgestanden und ins Freie getreten war.
Die Schatten gerannen zu Umrissen, leicht verschwommen zunächst, doch dann nahmen sie an Schärfe zu. Das Zelt, in dem sie erwacht war, lag hinter einem Haus aus verwitterten Steinen. Daneben stand ein fremdartiger Baum mit weit ausgreifenden Ästen.
Erst jetzt drang das leise Rauschen des Meeres in Robins Bewusstsein. Noch immer blinzelnd drehte sie sich um. Sie war in einem kleinen Dorf. Zwei Dutzend Häuser und ein paar Zelte, das war alles. Undeutlich erkannte sie längliche Schatten... Menschen! Es mussten zwanzig oder mehr sein. Noch immer verschwammen die Bilder vor Robins Augen, und dennoch spürte sie, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie konzentrierte. Eine der immer noch nebelhaft wirkenden Gestalten löste sich von der Gruppe und kam mit schnellen und seltsam aufgeregt wirkenden Schritten auf sie zu. Es schien allerdings keine freudige Erregung zu sein.
Robin versuchte die Tränen wegzublinzeln, die ihr das grelle Sonnenlicht in die Augen getrieben hatte. Vom tagelangen Schlafen waren ihre Lider ganz verklebt. Sie hob die linke Hand, um sich über die Augen zu wischen, und bemerkte erst im letzten Moment, dass sie Gefahr lief, die Decke fallen zu lassen, in die sie sich gewickelt hatte. Sie fing sie auf, aber der grobe Stoff rutschte von ihren Schultern und aus den aufgeregten wurden eindeutig erschrockene, wenn nicht entsetzte Rufe.
Als die Gestalt, die sich ihr näherte, mit den Armen fuchtelte, wich Robin wieder ins Innere des Zeltes zurück und hielt die Decke vor ihrer Brust mit beiden Händen fest. Dennoch wurde sie von einer groben Hand an der Schulter ergriffen und derb noch weiter ins Zelt zurückgestoßen, dass sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.
Nachdem sich ihre Augen gerade halbwegs an die Helligkeit draußen gewöhnt hatten, sah sie hier drinnen wieder nichts als Schatten. Immerhin erkannte sie, dass sie einem bärtigen Mann schwer zu bestimmenden, aber fortgeschrittenen Alters gegenüberstand. Er fuchtelte noch immer aufgeregt mit beiden Armen herum und überschüttete sie mit einem Schwall unverständlicher Worte.
Robin wich vorsichtshalber noch einen weiteren Schritt vor dem Fremden zurück. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie hatte nicht wirklich Angst, aber abgesehen von Salim und den Sarazenen auf dem Schiff hatte sie noch nie einen Muselmanen gesehen, und nur sehr wenig von dem, was sie über dieses Volk gehört hatte, war angenehmer Natur gewesen.
Der Fremde musterte sie wutschnaubend. Eine dicke Zornesader lief längs über seine zerfurchte Stirn. Robin hatte im Verlauf des vergangenen Jahres zwar einige Brocken Arabisch von Salim gelernt, aber sie verstand kein Wort von dem, was der Fremde hervorsprudelte. Schließlich deutete sie übertrieben gestikulierend auf ihr Ohr, machte ein fragendes Gesicht und legte den Kopf auf die Seite.
Der Redeschwall des Arabers wurde noch lauter und sein Ton zorniger. Er gestikulierte immer wieder in ihre Richtung und seine Worte klangen wie grobe Beleidigungen. Robin blickte ihn vollkommen verständnislos an und hätte das vermutlich auch noch eine geraume Weile getan, wäre in diesem Moment nicht eine zweite Gestalt hereingekommen. Es war eine Frau, die ein langärmliges, dunkles Kleid trug. Robin konnte nur ihre Augen erkennen, denn der Rest ihres Gesichts war verschleiert, aber es waren sehr freundliche Augen, die sie mit fast mütterlicher Sorge ansahen. Ihre Bewegung war von fließender Anmut. Sie war ohne Zweifel erheblich jünger als der Bärtige. Ohne viel Federlesens schob sie den Mann aus dem Weg, trat auf Robin zu und zog die Decke, in die sie sich gewickelt hatte, bis weit über ihre Schultern hoch.
Und endlich begriff Robin. Sie hatte sich nichts bei ihrem Aufzug gedacht, schließlich war sie fast vollständig in die Decke gewickelt. Nur ihre Schultern und ihr Hals waren zu erkennen, aber schon die Zurschaustellung von so wenig nackter Haut schien den Mann in helle Aufregung zu versetzen. Er wirkte auch jetzt, da Robin wieder züchtig bedeckt war, nicht wirklich zufrieden, sondern starrte sie weiter finster an. Doch zumindest hatte er aufgehört, wie besessen mit den Händen in der Luft herumzufuchteln und zornig auf sie einzureden.
»Es... es tut mir Leid«, sagte Robin zögernd. »Ich wollte niemanden beleidigen.« Natürlich war ihr klar, dass weder der Mann noch die Frau sie verstehen konnten, doch hoffte sie, dass sie zumindest ihren versöhnlichen Tonfall und das dazugehörige Lächeln verstanden. Der Mann antwortete in finsterem Tonfall, aber die verschleierte Frau kam Robin abermals zu Hilfe. Sie stellte sich schützend zwischen sie und ihn, antwortete mit leisem, aber sehr bestimmtem Tonfall und gestikulierte schließlich zum Ausgang hin.
Es folgte ein kurzes Streitgespräch, das die Frau offensichtlich für sich entschied, denn nach nur wenigen Augenblicken drehte sich der Bärtige herum und verließ das Zelt. Robin atmete innerlich auf. Obwohl sie zu spüren glaubte, dass ihr von diesen Menschen keine unmittelbare Gefahr drohte, hatte ihr der kleine Zwischenfall gerade gezeigt, wie leicht es war, einen Fehler zu begehen, der möglicherweise gefährliche Folgen haben konnte.
»Danke«, sagte Robin. »Ich weiß, dass du mich nicht verstehst, aber ich möchte dir trotzdem danken.«
Es war schwer, in dem fast vollkommen verschleierten Gesicht irgendeine Regung zu erkennen, aber der Blick der dunklen Augen wurde deutlich wärmer. Die Fremde betrachtete sie wortlos und mit einer Mischung aus Zuneigung und freundlicher Neugier, und Robin wurde es für einen Moment warm ums Herz. Sie wusste nichts über diese Frau, nicht einmal ihren Namen, doch nach den zurückliegenden Schrecknissen war es ein wundervolles Gefühl, sich einem Menschen gegenüber zu wissen, der es einfach nur gut mit ihr meinte.
Das Gefühl verging so rasch, wie es gekommen war, und zurück blieb eine noch größere Leere und ein vager Schmerz, der irgendwo am Rand ihres Bewusstseins bohrte, wie ein pochender Zahn, der einen nicht wirklich quälte, aber auch nicht in Vergessenheit geriet. Obwohl sie mit aller Macht dagegen ankämpfte, begannen ihre Hände zu zittern, und ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen. Es gelang ihr zwar, sie zurückzuhalten, und dennoch entging ihr Zustand der verschleierten Frau nicht. Sie lächelte, hob die Hand und strich Robin kurz mit den Fingerspitzen über die Wange, ehe sie sich herumdrehte und mit schnellen Schritten das Zelt verließ.
Instinktiv machte Robin eine Bewegung, um sie zurückzuhalten, doch dann verharrte sie mitten im Schritt. Nach dem, was sie gerade erlebt hatte, erschien es ihr wenig ratsam, das Zelt noch einmal zu verlassen; nicht, bevor sie nicht wusste, wo sie überhaupt war und wer diese Menschen waren und welche Absichten sie verfolgten. Und selbst wenn sie niemand daran hindern sollte, dieses Zelt und sogar das Dorf zu verlassen: Wohin hätte sie schon gehen können, vollkommen allein, in einem Land, dessen Menschen sie nicht kannte, dessen Sprache sie nicht verstand, und dann noch obendrein mit nichts am Leib als einer einfachen Decke?
Robin seufzte tief und starrte trübsinnig die geschlossene Plane vor dem Eingang an. Schließlich ließ sie sich im Schneidersitz an derselben Stelle nieder, wo sie vorhin erwacht war. So, wie die Dinge lagen, blieb ihr im Moment nichts anderes übrig, als zu warten. Worauf und wie lange auch immer.
Sie musste sich nicht lange gedulden, auch wenn es ihr, während sie auf die Rückkehr ihrer Wohltäterin wartete, so vorkam, als wäre die Zeit stehen geblieben. In Wahrheit verging jedoch weit weniger als eine Viertelstunde, bis die Plane vor dem Eingang wieder zurückgeschlagen wurde und die verschleierte Frau erneut eintrat.
Sie war nicht allein und sie kam nicht mit leeren Händen. Hinter ihr trat eine zweite, auf die gleiche Weise gekleidete und ebenfalls verschleierte Frau herein und hinter dieser ein Mädchen von vielleicht sieben, allerhöchstens acht Jahren, das nur ein zerschlissenes dünnes Hemdchen trug und sehr mager war. Es hatte schulterlanges ebenholzschwarzes Haar und Augen, die Robin mit großer Neugier und ohne die geringste Scheu musterten. Das Mädchen trug ein Kleidungsstück über den Armen, das an die Kleider der beiden Frauen erinnerte, während diese Schalen mit frischem Wasser, Brot und gebratenem Fisch hereinbrachten. Schon der bloße Anblick der Speisen ließ Robin das Wasser im Munde zusammenlaufen. Ihr Magen knurrte hörbar und gemahnte sie daran, dass sie seit mindestens einem Tag nichts mehr gegessen hatte, wenn nicht länger. Als sie nach einem Stück Brot greifen wollte, schüttelte ihre Wohltäterin jedoch den Kopf und schlug ihr spielerisch auf die Finger. Mit der anderen Hand deutete sie zu Boden und gestikulierte auffordernd, sich zu setzen. Robin gehorchte. Sie war sehr hungrig, aber wenn sie das Vertrauen dieser Menschen gewinnen wollte, dann musste sie sich in Geduld fassen.
Die beiden Frauen luden ihre Last ab und setzten sich ihr gegenüber, während das Mädchen wieder zum Ausgang ging und sorgfältig die Plane verschloss, bevor es sich ebenfalls zu ihnen setzte. Die hölzerne Schale mit Brot und Fisch wurde ein Stück zur Seite geschoben. Robins Blicke folgten ihr sehnsüchtig, doch verzichtete sie auf eine entsprechende Bemerkung, sondern straffte nur die Schultern und sah die beiden Frauen abwechselnd erwartungsvoll an.
Einen Moment lang hielten sie ihrem Blick stand; dann hob die jüngere der beiden Frauen - die zuvor schon in Begleitung des Mannes hereingekommen war - die Hände und löste den Schleier, den sie vor dem Gesicht trug. Darunter kam eine Frau zum Vorschein, die noch deutlich jünger war, als Robin angenommen hatte, und dem dunkeläugigen Mädchen so ähnelte, dass sie einfach nur Mutter und Tochter sein konnten. Auch ihre Begleiterin legte den Schleier ab und offenbarte sich damit als Vertreterin der älteren Generation derselben Familie. Robin nahm an, dass der Mann, der sie vorhin so aufgeregt hier hereingeschubst hatte, ihr Ehemann war und somit Vater und Großvater der jüngeren Frau und des Mädchens.
Sie sah die beiden Frauen eine Weile unschlüssig an - sie schienen irgendetwas von ihr zu erwarten, aber sie wusste nicht, was. Schließlich legte sie die flache Hand auf die Brust und sagte laut und betont: »Robin.«
Die junge Frau legte den Kopf auf die Seite und lächelte scheu. Robin wiederholte ihre Geste, sagte noch einmal: »Robin«, und machte dann eine fragende Handbewegung auf ihr Gegenüber. Es vergingen einige Herzschläge, dann nickte die junge Frau, ahmte Robins Bewegung nach und sagte: »Saila.«
Robin mühte sich, den fremdartigen Namen so gut wie möglich zu wiederholen, und wurde mit heftigem Nicken und einem erfreuten Gesichtsausdruck belohnt. Dann stellte Saila das Mädchen als Nemeth vor. Der Name der alten Frau jedoch war so kompliziert, dass Robin ihn nicht verstand, geschweige denn ihn wiederholen konnte. Sie fragte nicht nach, sondern beschloss, sie in Gedanken Großmutter zu nennen. Für die kurze Zeit, die sie ohnehin nur bei diesen Menschen bleiben würde, reichte das sicherlich.
Indem sie sich vorgestellt hatten, schien der Bann gebrochen zu sein. Sowohl die beiden Frauen als auch Nemeth begannen aufgeregt - und natürlich alle zugleich - auf sie einzureden und zu gestikulieren, bis Robin schließlich lachend die Hände hob und den Kopf schüttelte. Saila und die alte Frau verstummten, nur Nemeth plapperte fröhlich weiter, bis ihre Mutter sie mit einem scharfen Befehl ebenfalls zum Schweigen brachte.
Saila griff nach der Decke, die Robin sich um die Schultern geschlungen hatte, und zupfte daran. Nach dem, was gerade geschehen war, hielt Robin die Decke fast erschrocken und mit beiden Händen fest. Darauf lächelte Saila beruhigend und deutete mit der Hand zu der Plane vor dem sicher verschlossenen Zelteingang. Als Saila erneut nach der Decke griff, ließ Robin es zu, dass die junge Frau sie entblößte. Während der grobe Stoff bis zu ihren Hüften hinabglitt, legte die Templerin schützend ihre Arme vor die Brust, aber nur für einen Moment, bis ihr klar wurde, dass sie Saila mit dieser Geste aus irgendeinem Grund zu verletzen schien. Vielleicht war Nacktheit bei diesen Menschen etwas ganz Selbstverständliches, sobald sie unter sich waren; möglicherweise sogar so etwas wie ein Vertrauensbeweis. Saila und die beiden anderen jedenfalls musterten sie eingehend und ohne jede Scheu.
Auch Robin verlor schon nach einem Augenblick jedes Gefühl der Peinlichkeit. Es waren mehr als zwei Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal nackt vor anderen Frauen gezeigt hatte. Ihr Körper war noch immer schlank und mädchenhaft, ihre Brüste kaum gereift. Salim hatte oft gespottet, dass eine Frau, die unbedingt das Kriegshandwerk der Männer erlernen wollte, keinen weiblichen Körper entwickeln konnte.
Saila und ihre Mutter schienen sich darüber keine Gedanken zu machen. Vielleicht hielten sie sie ja auch für jünger, als sie tatsächlich war. Stattdessen musterten sie mit erschrockenen Gesichtern ihre zahlreichen Verletzungen. Während die alte Frau einen Stoffzipfel ins Wasser tunkte und die Kratzer, Schrammen, Prellungen und andere mehr oder weniger tiefen Wunden auf Robins Körper zu säubern begann, trug Saila selbst eine Salbe auf ihre schlimmsten Blessuren auf, die nicht gerade gut roch, aber angenehm kühl auf der Haut war.
Die Verrichtungen der beiden Frauen waren unangenehm oder taten sogar weh, doch wenn Robin im Verlaufe des zurückliegenden Jahres eines gelernt hatte, dann dies: Schmerzen zu ertragen.
Als die beiden Frauen schließlich fertig waren, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr. Sie war noch immer erschöpft und spürte eine permanente Benommenheit, ein Gefühl, wie man es manchmal hatte, wenn man unvermittelt aus tiefstem Schlaf gerissen wurde, nur dass diese Müdigkeit einfach nicht mehr weichen wollte. Es zwickte und schmerzte überall, aber es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ihr weibliche Wesen eine fast mütterliche Fürsorge angedeihen ließen - Frauen, die es allem Anschein nach gut mit ihr meinten -, und dieses Gefühl glich alle körperliche Unbill aus.
Als Saila ihr bedeutete, dass sie fertig war, wollte Robin die Decke wieder hochziehen, aber die Araberin schüttelte den Kopf und wies auf das Kleidungsstück, das Nemeth mitgebracht hatte. Offensichtlich wollte sie, dass Robin es anzog, und Robin hatte nichts dagegen. Nur in eine Decke gewickelt herumzulaufen erschien ihr würdelos und außerdem war der Stoff grob und scheuerte auf ihrer geschundenen Haut. Sie nickte, und das Mädchen legte das Kleid mit einer fast feierlichen Bewegung neben ihr auf den Boden. Statt sich wieder zurückzuziehen, blieb sie neben Robin stehen und deutete auf die dünne Narbe an ihrem Hals. Sie begleitete die Geste mit einer Frage.
Robin hob unwillkürlich die Hand an die Kehle. Nemeths Frage - und vor allem der gleichermaßen erschrockene wie ungläubige Ton, in dem sie sie stellte - war ihr unangenehm. Im Laufe der Monate war die Narbe gut verheilt und mittlerweile auf den ersten Blick kaum noch zu sehen, aber sie war da, und manchmal, vor allem bei einem Wetterumschwung oder bevor es schneite, meldete sie sich mit einem heftigen Jucken und erinnerte Robin daran, wie nahe sie dem Tod schon einmal gewesen war. Es war nicht dieses Jucken, das Robin Unbehagen bereitete, wohl aber die Erinnerung, die damit einherging. Die Tage, die sie auf Leben und Tod dagelegen hatte, zählten zu den schlimmsten ihres Lebens.
Saila hatte ihre Geste bemerkt und scheuchte ihre Tochter mit scharfen Worten davon, aber Robin hielt sie mit einer raschen Handbewegung zurück. »Lass sie«, sagte sie. »Sie ist nur neugierig. Wahrscheinlich sieht man so etwas nicht alle Tage.« Sie wandte sich direkt an Nemeth. »Menschen tun einander manchmal schlimme Dinge an, weißt du? Das hier war eines von diesen schlimmen Dingen. Ich hoffe für dich, dass dir so etwas nie zustößt.«
Natürlich begriff Nemeth die Erklärung nicht, aber sie verstand sehr wohl Robins versöhnlichen Ton, denn sie lächelte plötzlich schüchtern und kam wieder näher. Robin erwiderte ihr Lächeln, wandte sich noch einmal mit einem entsprechenden Blick an Saila und sah schließlich auf das Kleid herab, das neben ihr lag. In dem schwachen Licht hier drinnen konnte sie nicht sagen, ob es schwarz oder dunkelblau war. Der Stoff fühlte sich weicher und angenehmer an, als sie erwartet hatte. Ärmel und Saum des Kleides waren mit dünnen, vom Tragen zerfaserten Schmuckborten besetzt. Das Kleid war weitaus prächtiger als die Gewänder der beiden Frauen, und Robin hatte das unbestimmte Gefühl, dass Saila ihr das eigene Festtagsgewand auslieh.
Die beiden Frauen sahen diskret zu Boden, als Robin die Decke ganz abstreifte und aufstand, um sich das Kleid überzuziehen. Nur Nemeth maß sie mit unverhohlener Neugier und sagte etwas, das ihre Mutter zu einem weiteren scharfen Verweis veranlasste. Nemeth verstummte, doch wirkte sie nicht sonderlich eingeschüchtert. Robin musste ein Lächeln unterdrücken. Anscheinend waren Kinder in einem gewissen Alter überall gleich; ganz egal bei welchem Volk und wo auch immer auf der Welt.
Nachdem sie fertig angezogen war, räusperte sie sich. Saila sah zu ihr hoch und maß sie mit einem langen, kritischen Blick. Schließlich schien sie mit dem Sitz des Kleides durchaus zufrieden zu sein, denn sie nickte lächelnd und deutete nun endlich auf die Schale mit dem verführerischen Essen. Das ließ sich Robin nicht zweimal sagen. Ihr Magen hatte wiederholt hörbar geknurrt, während sich die beiden Frauen um ihre Verletzungen gekümmert hatten.
Die ersten Bissen schlang sie geradezu hinunter, und auch wenn es nur einfaches Fladenbrot und gesalzener Fisch war, so schien es ihr in diesem Moment doch das Köstlichste zu sein, was sie jemals gegessen hatte. Wahrscheinlich hätte sie alles binnen weniger Augenblicke heruntergeschlungen, hätte ihr Saila nicht schließlich die Hand auf den Unterarm gelegt und ihr mit einem milden Lächeln bedeutet, langsamer zu essen. Robin gehorchte, auch wenn es ihr schwer fiel. Gewiss hatte die Araberin Recht: Ihr würde nur übel werden, wenn sie weiter das Essen so in sich hineinstopfte, und dann würde sie am Ende die ganzen Köstlichkeiten wieder von sich geben. Flüchtig dachte sie an die Schiffsreise. Nein, sie würde vorsichtig sein!
Dennoch dauerte es nicht lange, bis sie die Schale bis auf ein paar Krümel Brot und ein kleines Stückchen Fisch geleert hatte. Als sie aufsah, bemerkte sie Nemeth, die wieder näher gekommen war. Diesmal galt ihre Aufmerksamkeit nicht ihr, sondern der Schale. Sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber Robin sah sehr deutlich, dass ihr buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlief.
Sie hatte immer noch Hunger, doch statt auch noch das letzte Stück Fisch zu verzehren, schob sie mit einer auffordernden Geste Nemeth die Schale hin. Das Mädchen wollte schon danach greifen, doch Saila hielt es mit einem scharfen Befehl zurück.
»Lass nur«, sagte Robin. »Sie hat Hunger, und ich kann ja später noch etwas essen. Wahrscheinlich wird mir sowieso nur schlecht, wenn ich jetzt zu viel esse.« Abermals forderte sie Nemeth mit einer Geste auf. »Nimm ruhig.«
Das Mädchen warf noch einen fragenden Blick in Richtung seiner Mutter, dann griff es schnell nach dem Stück Fisch, drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Zelt; dabei presste es seine Beute wie einen Schatz an die Brust. Robin sah kopfschüttelnd hinterher und wandte sich dann wieder an Saila.
»Sei ihr nicht böse«, sagte sie. »Kinder haben doch immer Hunger, oder?« Sie atmete hörbar ein. »Ich weiß, ihr könnt mich nicht verstehen, aber ich möchte euch trotzdem sagen, wie dankbar ich euch bin. Ihr habt mir das Leben gerettet. Und nicht nur, weil ihr mich aus dem Wasser gezogen habt.«
Sailas Antwort bestand aus einem fragenden Hochziehen der Augenbrauen, womit Robin gerechnet hatte, aber sie schien zumindest ihren Tonfall richtig zu deuten, denn ein warmer Ausdruck trat in ihre Augen. Zugleich meinte Robin auch so etwas wie Mitleid zu spüren und sie fragte sich, ob es noch einen anderen Grund als ihre Verletzungen dafür geben mochte. Beurteilte sie ihre eigene Situation vielleicht zu optimistisch? War sie wirklich gerettet?
Unsinn! Sie hatte so viel durchgemacht, dass sie sich wohl schon nicht mehr vorstellen konnte, dass es Menschen gab, die es ganz ohne Vorbehalt und Hintergedanken einfach nur gut mit ihr meinten. Es wurde Zeit, sich daran zu erinnern, dass nicht alle Fremden automatisch auch ihre Feinde waren.
Sie verscheuchte den Gedanken an Verrat. Das war absurd. »Ich würde mich gerne draußen umsehen«, sagte sie. »Natürlich nur, wenn ihr nichts dagegen habt.«
Da sie wusste, dass Saila und ihre Mutter sie nicht verstehen konnten, begleitete sie ihre Worte mit erklärenden Gesten, aber entweder missverstanden die beiden Frauen sie völlig, oder ihr Ansinnen war nicht ganz so harmlos, wie es ihr erschien. Zwischen Saila und ihrer Mutter entbrannte jedenfalls ein kurzer Disput, den die ältere Frau schließlich mit einer energischen Handbewegung beendete. Sie schien nicht begeistert von Robins Idee zu sein, das Zelt zu verlassen.
Robin dachte jedoch nicht daran, sich wie eine Gefangene behandeln zu lassen. »Ich laufe bestimmt nicht weg. Ich möchte nur wissen, wo ich bin und was aus den anderen geworden ist. Ich war nicht allein auf dem Schiff. Habt ihr noch andere wie mich dort draußen im Meer gefunden?«
Sie versuchte, ihre Frage mit entsprechenden Gebärden zu verdeutlichen, aber diesmal erntete sie nur einen verständnislosen Blick. Nach einem Moment gab sie es auf, erhob sich und machte einen Schritt in Richtung Ausgang.
Sie war nicht überrascht, als Saila sie am Gewand festhielt und heftig den Kopf schüttelte.
»Bitte, Saila«, sagte Robin. Sie zögerte einen Moment, denn sie fürchtete, eine Grenze zu überschreiten, aber dann fasste sie nach Sailas Hand und löste sich aus ihrem Griff.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie. »Ich will nicht weglaufen oder so etwas.«
Saila zögerte. Sie sah so erschrocken aus, dass sich Robin einen Moment lang fragte, ob sie möglicherweise nicht besser beraten war, auf die Araberin zu hören. Aber dann verscheuchte sie diesen Gedanken und machte einen weiteren Schritt in Richtung des Zelteingangs.
Sie kam auch diesmal nicht bis zur Plane. Sailas Mutter war unerwartet behände aufgestanden und trat ihr in den Weg. Sie begann laut, fast schon schreiend, auf Robin einzureden und gestikulierte dabei heftig mit beiden Händen. Offensichtlich würde sie den Weg nicht freigeben, es sei denn, Robin wandte Gewalt an.
Doch so weit würde Robin nicht gehen. Und es war auch nicht nötig. Auch Saila erhob sich nun, trat mit einem raschen Schritt zwischen sie und die alte Frau. Mit ruhigen Worten besänftigte sie ihre Mutter, bevor sie sich wieder zu Robin umdrehte. Robin verstand jetzt so wenig wie zuvor, aber ihr besorgter, fast schon beschwörender Tonfall war deutlich genug. Ohne Robins Antwort abzuwarten, streifte sie ihr ein Tuch in der Farbe ihres Gewandes über Kopf und Schultern. Dann zog sie einen Zipfel des Tuchs hoch, sodass er Mund und Nase bedeckte, und steckte ihn seitlich am Kopftuch fest.
Unwillkürlich hob Robin die Hand, um den störenden Schleier vor dem Gesicht wegzureißen. Doch dann verharrte sie mitten in der Bewegung. Saila und ihre Mutter waren beim Hereinkommen verschleiert gewesen und sie wusste von Salim, dass die Frauen in diesem Teil der Welt oftmals ihre Gesichter verhüllten. Bis jetzt hatte sie sich niemals vorzustellen versucht, wie es wäre, einen Schleier zu tragen. Irgendwie fand sie es entwürdigend, ihr Antlitz vor dem Licht der Sonne zu verbergen. Doch was hätte sie in diesem Moment auch anderes tun können? Schließlich wusste sie weder etwas über diese Menschen und ihre Sitten und Gebräuche, noch hatte sie hier irgendetwas zu fordern.
Sie ließ die Hand wieder sinken und bedeutete Saila mit einem Nicken, dass sie bereit war. Saila befestigte mit einer geübten Bewegung ihren eigenen Schleier vor dem Gesicht, dann drehte sie sich um und schlug die Zeltplane vor dem Eingang zurück. Sailas Mutter ließ ihr Gesicht unbedeckt, aber sie machte auch keine Bewegung, um das Zelt zu verlassen, sondern sah Robin nur missbilligend an. Ein seltsames Gefühl beschlich Robin, als sie Saila folgte.
Es dauerte diesmal nur einen Moment, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Die Sonne war weiter gewandert und blendete sie nicht mehr so sehr wie zuvor, außerdem dämpfte der Schleier das Licht.
Rasch trat sie aus dem Zelt hinaus und wandte sich nach links, der dem Meer abgewandten Seite zu, um sich das Dorf eingehend anzusehen.
Sie hatte bisher angenommen, sich in einem Zeltlager zu befinden, am Rande eines Dorfes. Doch das war ein Irrtum. Vielleicht lag es daran, dass Salim ihr so viel von den Zeltlagern - den wandernden Städten der Beduinen - erzählt hatte. Tatsächlich gab es hier nur eine Hand voll Zelte. Sie standen vereinzelt hinter den wenigen Häusern, die auf einem steinigen Abhang dicht am Meer gebaut waren. Die Häuser hatten flache Dächer und waren aus hellem Stein gebaut, der so verwittert wirkte, als hätten diese Fischerhütten schon ungezählte Jahrhunderte vorüberziehen sehen. Unten am Strand lag ein großes, bunt gestrichenes Boot, das halb mit einem schmutzigen Segeltuch zugedeckt war. Selbst auf die Entfernung konnte Robin ein großes Auge erkennen, das vorne auf den Bug des Bootes gemalt war und es wie ein gestrandetes Seeungeheuer aussehen ließ.
Wenn sie sich nach Westen drehte, blickte sie jenseits des Hügelkamms in die grauen Rücken mächtiger Berge. Das verwirrte sie auf äußerste, denn mit dem Bild, das Salim mit seinen blumenreichen Erzählungen von diesen Gefilden gemalt hatte, hatte das alles erschreckend wenig zu tun. Er hatte von paradiesischen Gärten an Oasen und Flussläufen geschwärmt und von glutheißen Wüsten erzählt, die den größten Teil des Landes ausmachten. Hier gab es weder Wüsten noch Gärten.
Hinter Robin wurde eine aufgeregte Stimme laut. Sie wandte sich um und sah denselben Mann wie vorhin auf sich zukommen, auch jetzt aufgeregt mit den Armen fuchtelnd und augenscheinlich noch wütender als zuvor. Robin streckte kampflustig das Kinn vor und setzte einen möglichst grimmigen Gesichtsausdruck auf, ehe ihr klar wurde, dass der Araber ihr Gesicht hinter dem Schleier gar nicht erkennen konnte.
Sie musste sich auch nicht selbst verteidigen. Saila trat dem Bärtigen mit einem entschlossenen Schritt entgegen. Sie brachte ihn nicht zum Schweigen, doch lenkte sie seinen Zorn, der eigentlich Robin galt, auf sich, was Robins schlechtes Gewissen weckte, sie zugleich aber auch alarmierte. Niemand konnte unter dem lose fallenden Gewand sehen, dass sie unwillkürlich ihre Muskeln anspannte. Sie wusste nicht, wie weit der Bärtige gehen würde, aber sie würde nicht zulassen, dass er Saila ihretwegen schlug.
Wie sich zeigte, war ihre Sorge unbegründet. Saila und der Bärtige stritten eine geraume Weile, aber schließlich gab der Araber nach und drehte sich mit einer wütenden Bewegung um.
»Danke«, sagte Robin, als Saila zu ihr zurückkehrte. »Ich hoffe nur, du bekommst meinetwegen keinen Ärger.«
Die junge Frau nickte, so als hätte sie die Worte verstanden, und machte eine verstohlene, aber eindeutig wegwerfende Geste. Einige Dinge waren offenbar überall auf der Welt gleich. Sie überzeugte sich mit einem langen Blick, der keinerlei Erklärung bedurfte, davon, dass der Bärtige auch tatsächlich ging, dann erst gab sie Robin mit einem weiteren Nicken zu verstehen, dass sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Schon nach wenigen Schritten war Robin gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich klug gewesen war, auf diesem Ausflug zu bestehen. Wieder spürte sie, wie schwach sie war, und die Übelkeit und der Schwindel, mit denen sie aufgewacht war, kehrten zurück. Einen Moment lang hatte sie sogar das Gefühl, ihre Beine würden jeden Augenblick unter ihr wegknicken. Wäre sie nicht zu stolz gewesen, ihren Fehler vor Saila einzugestehen, hätte sie schon nach dem ersten Dutzend Schritte kehrtgemacht, um ins Zelt zurückzugehen. So aber biss sie die Zähne zusammen und folgte ihrer neuen Freundin, die vorausging, um ihr den Ort zu zeigen.
Viel gab es ohnehin nicht zu sehen. Das Dorf - wenn es diesen Namen überhaupt verdiente - bestand aus vielleicht zwanzig Steinhäusern und es konnte kaum mehr als hundert Einwohner zählen. Robin sah erstaunlich wenig Tiere. Ein magerer Hund beäugte sie aus sicherer Entfernung. Mit eingezogenem Schwanz schien er nur darauf zu warten, dass sie ihm mit einer unbedachten Bewegung einen Grund gab, die Flucht zu ergreifen. Ein junges Zicklein wurde von einem halbwüchsigen Mädchen gehütet und zupfte missmutig an verdorrtem Dünengras.
Es gab keine Pferde und erst recht keine Wagen. Auch Felder konnte sie weder in Strandnähe noch auf den steinigen Hängen landeinwärts entdecken. Doch vielleicht lagen Salims paradiesische Gärten ja auf der anderen Seite des Hügels, abgewandt vom rauen Seewind. Möglicherweise setzte sich dort auch dieses trostlose Dorf fort. Aber Robin war zu müde, um das heute herauszufinden. Vorhin, als sie auf Sailas Rückkehr gewartet hatte, war ihr kurz durch den Kopf geschossen, sich bei ihren Wohltätern zu bedanken und noch heute zu gehen, um sich auf die Suche nach anderen Überlebenden zu machen. Aber jetzt, nach weniger als hundert Schritten, war ihr klar, wie lächerlich dieser Gedanke war. Sie nahm sich vor, sich nur noch einen kurzen Überblick zu verschaffen und dann zum Zelt zurückzukehren.
Es war nicht nur die körperliche Schwäche, die ihr zu schaffen machte. Die Menschen hier waren nicht alle so freundlich wie Saila und ihre Mutter. Die meisten Männer, denen sie begegneten, blickten sie finster, ja fast feindselig an. Die Frauen aber senkten ausnahmslos den Blick oder sahen rasch weg, wenn sie ihren Weg kreuzten. Vielleicht hatten diese Menschen hier Angst vor Fremden. Und womöglich hatten sie ja auch einen Grund dafür.
»Ich glaube, ich... möchte jetzt doch lieber zurück«, sagte sie zögernd. Saila schien die Worte zumindest dem Sinn nach zu verstehen, denn sie nickte erleichtert und machte auf der Stelle kehrt. Robin hatte es plötzlich sehr eilig, ihr zu folgen.