Der Tag neigte sich dem Ende zu. Robin war müde, sie hatte Kopfschmerzen, jeder Muskel in ihrem Leib tat weh und sie hatte sowohl Omar als auch Naida, ja selbst das Geheimnis um ihren Ring, vergessen, denn sie war seit mehr als zwei Stunden voll und ganz damit beschäftigt, sich Haruns Beschimpfungen und Vorwürfe anzuhören. Außerdem musste sie erdulden, dass Aisha den Forderungen ihres Herrn mit unnötiger Härte Nachdruck verschaffte. Sie wusste nicht, ob es an ihrem Ungeschick lag oder ob Omar ihrem Tanz- und Anstandslehrer entsprechende Anweisungen gegeben hatte; jedenfalls kam ihr Harun al Dhin an diesem Tag weit weniger geduldig und auch nicht annähernd so großherzig vor wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. »O Allah, was habe ich nur getan, dass du mich so hart strafst?«, wimmerte er gerade. »Eher bringe ich einem dreibeinigen Kamel das Tanzen bei als dieser Ungläubigen!«
Schnaufend und wie ein Berg aus Fleisch, dessen Fundament langsam unter seinem eigenen Gewicht nachgibt, ließ sich Harun auf einem Stapel Kissen nieder. Aisha, die bislang unmittelbar hinter Robin gestanden hatte, um sie mit wachsendem Vergnügen herumzuschubsen, zu kneifen oder ihr auch schon mal einen Schlag zu versetzen, wenn sie nicht schnell genug reagierte, eilte an seine Seite und begann, ihm mit einem Fächer aus bunten Federn Luft zuzufächeln. Harun japste, als stünde er kurz vor dem Erstickungstod, und legte den Kopf in den Nacken.
»Komm her zu mir, meine Heimsuchung«, keuchte Harun und winkte Robin zu sich. Sie wartete lange genug, um sicher zu sein, dass er sich über ihr Zögern ärgerte, dann trat sie gehorsam näher.
»So schwer kann es doch nicht sein, zwei Schellen im Takt deiner Tanzschritte zu schlagen«, sagte Harun mit weinerlicher Stimme. »Obwohl... wenn ich es mir recht überlege, war es ja vielleicht im Takt deiner Schritte.«
Robin erwiderte vorsichtshalber nichts. Vermutlich hatte Harun Recht. Die Schellen, von denen er sprach, waren etwas mehr als münzgroße, nach innen gewölbte Silberplättchen, die mittels kleiner Lederschlaufen an ihren Daumen und Mittelfingern befestigt waren, sodass sie klingelnde Töne abgaben, wenn sie die Finger aneinander schlug. Robin kam sich ziemlich albern dabei vor, aber das galt ja nahezu für alles, was Harun al Dhin von ihr verlangte.
Auf ihr Schweigen hin seufzte Harun abermals tief, scheuchte Aisha mit einer unwilligen Geste davon und schlug mit der anderen Hand auf das Kissen neben sich. »Setz dich zu mir, Kind. Ich werde dir zeigen, wie man die Schellen benutzt. Sieh genau hin.«
Robin zögerte erneut - nicht ganz so lange diesmal -, dann ließ sie sich widerwillig neben ihrem Lehrer auf den Boden sinken, jedoch nicht auf das Kissen. Harun registrierte auch diesen kleinen Akt des Ungehorsams sehr wohl, beließ es jedoch bei einem ärgerlichen Zusammenziehen der Augenbrauen. »Deine Hände«, verlangte er.
Robin streckte gehorsam die Arme aus.
Harun machte sich einen Moment an ihren Händen zu schaffen. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl. Seine Haut war verschwitzt und fühlte sich klebrig an. Plötzlich beugte er sich weiter vor und verdrehte Robins Hände mit einem Ruck so, dass er ihre Handflächen betrachten konnte. Er tat es ziemlich lange und aufmerksam und schüttelte mehrmals verwundert den Kopf.
»Sieh dir das an, Aisha«, sagte er.
Aisha folgte der Aufforderung und Harun fuhr in aufgeregtem Ton fort: »Ihre rechte Hand ist auf der Innenseite voller Schwielen. An der linken Hand sieht man jedoch nichts dergleichen.« Er ließ Robins Arme los. »Was für Arbeiten hast du verrichtet, Weib?«
Robin druckste einen Augenblick verlegen herum und beschimpfte sich selbst in Gedanken dafür, nicht auf diese Frage vorbereitet gewesen zu sein. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass Harun sich mehr oder weniger verwundert darüber äußerte, dass sie sich eher wie ein Mann bewegte. Sie schwieg. Sie hatte es sich zur Gewohnheit werden lassen, kaum mehr als die Hälfte von Haruns Fragen zu beantworten, und von dieser Hälfte wiederum nur einen geringen Teil zu seiner Zufriedenheit. Vermutlich hielt er ihr Schweigen auch jetzt nur für Verstocktheit, was ihr nur recht sein konnte.
»Das ist wirklich seltsam«, sagte Harun. »Wärst du ein Mann, dann würde ich sagen, das ist die Hand eines Kriegers, der lange Zeit täglich mit dem Schwert geübt hat, während er um den linken Arm einen Schild geschnallt hat.« Er starrte Robin so durchdringend an, dass sie sich ertappt fühlte. Verzweifelt überlegte sie, wie sie sich herausreden konnte, aber Harun nahm ihr die Mühe ab, denn plötzlich warf er den Kopf in den Nacken und fing lauthals an zu lachen.
»Aber wer hätte je von einem Weib gehört, das im Schwertkampf unterrichtet wurde? Das hieße, den Willen Allahs und den des Propheten zu verhöhnen.«
»Allah ist nicht mein Gott«, sagte Robin. »Und von Eurem Propheten habe ich noch nie gehört.« Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie eigentlich verrückt war. Irgendein Teil von ihr schien es darauf anzulegen, sich selbst um Kopf und Kragen zu reden.
Harun schüttelte aber nur weiter lachend den Kopf. »Ihr mögt den Propheten nicht kennen und Allah unter einem anderen Namen anbeten, aber auch bei euch ist ein Mann ein Mann und eine Frau eine Frau. Es wäre wider die Natur der Frauen. Eher bringe ich selbst einem plattfüßigen Trampel wie dir das Tanzen und einen damenhaften Gang bei, als dass man ein Weib zu einem Schwertkämpfer machen könnte.«
Robin atmete auf und biss sich auf die Zunge, um nicht noch mehr zu verraten.
Harun schien jedes weitere Interesse an dem Thema verloren zu haben, denn er schüttelte nur noch einmal den Kopf und griff erneut nach Robins Händen, diesmal aber nicht, um sie nach Schwielen oder anderen verräterischen Spuren zu untersuchen, sondern um die Schellen von ihren Fingern zu lösen.
»Die Stunde des abendlichen Gebetes ist nicht mehr fern«, sagte er. »Für heute wird meine Seele Frieden suchen und ich werde meine Augen an Weibern weiden, die mehr Talent als du haben, Ungläubige. Übe heute Abend die Tanzschritte, die Aisha dir gezeigt hat. Ich erwarte, morgen Fortschritte zu sehen.« Er stand auf und deutete auf die so gut wie nie fehlende Reihe mit wassergefüllten Krügen, die Omars Diener hereingeschafft und an der Wand neben der Tür aufgereiht hatte. »Versuche dich auch weiterhin im Gehen mit den Krügen. Wenn du es schaffst, mit einem Wasserkrug auf dem Haupt einherzuschreiten, ohne eine Hand zu gebrauchen, mit der du den Krug abstützt, dann hast du es geschafft, dir einen Gang anzueignen, der deinen zukünftigen Herrn erfreuen wird. Und nur dann kannst du gewiss sein, dass er dich nicht mit einem weißen Kamel verwechselt, wenn er dich gehen sieht.«
Robin schluckte die spitze Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Stattdessen sah sie schweigend zu, wie Aisha den Fächer, ihren Umhang, die Schellen und die kleine Handtrommel, die sie zuvor im Takt zu Robins unbeholfenen Tanzschritten geschlagen hatte, zusammenraffte und ihrem Herrn zur Tür folgte. Wie durch Zufall stieß sie dabei gegen einen der Krüge, der auch prompt umkippte. Ohne zu zerbrechen, vergoss er seinen Inhalt über den gefliesten Boden, und Robin presste ärgerlich die Lippen aufeinander.
Natürlich wusste Aisha, dass Robin die Überschwemmung selbst würde fortwischen müssen, und natürlich war sie nicht zufällig gegen den Krug gestoßen. Aber vermutlich konnte sie noch von Glück sagen, dass das Gefäß nicht zerbrochen war. Sie streifte Aisha mit einem Funken sprühenden Blick, den die Sklavin völlig ausdruckslos erwiderte.
Aisha war wirklich eine sonderbare Frau. Obwohl sie sich als zunehmend rücksichtslos erwies und Robins unbeholfenen Anstrengungen höchst unsanft nachhalf oder sie sogar untergrub, spiegelte sich niemals Zorn, Eifersucht oder gar Hass in ihren Augen. Ihr Blick schien völlig teilnahmslos zu sein, als wäre die Seele hinter diesen wunderschönen dunklen Augen vor langer Zeit schon gestorben.
»Bete zu Allah, oder meinetwegen auch zu deinem Gott, dass er ein Wunder geschehen lässt«, säuselte Harun im Hinausgehen. »Ich jedenfalls bin mit meinen Künsten fast am Ende, und es sind nur noch wenige Tage bis zum Sklavenmarkt.«
»Wartet!«, rief Robin.
Harun blieb tatsächlich stehen und drehte sich unter der Tür noch einmal herum. Nicht zum ersten Mal verspürte Robin angesichts seiner Eleganz ein Gefühl von Bewunderung. Obwohl dieser Koloss von einem Mann - der so massig war, dass er sich ohne fremde Hilfe scheinbar kaum zu erheben vermochte - bei jedem Schritt vor Anstrengung keuchte, hatte er doch einen schönen, fast schwebenden Gang, der sie sein Gewicht fast vergessen ließ. Seine Bewegungen hatten, bei allen körperlichen Unterschieden, etwas von der katzenhaften Eleganz, die sie auch an Aisha so bewunderte. »Was ist denn noch?«, fragte Harun unwillig.
Robin ging auf ihn zu, wobei sie einen übertrieben ausladenden Schritt über die Wasserpfütze machte, die sich langsam vor ihren Füßen auf dem Boden ausbreitete. Harun zog es vor, so zu tun, als begreife er nicht, was sie ihm damit sagen wollte. »Da ist etwas, was ich Euch fragen wollte«, sagte sie leise.
»Ja?«
Robin hob die linke Hand, um ihm den Ring zu zeigen, dann ließ sie den Arm schnell wieder sinken. Sie ekelte sich davor, wieder von Haruns plumpen Fingern betatscht zu werden, und außerdem hätte sie das Gefühl gehabt, den Ring zu besudeln, wenn er ihn berührte. »Was sind Ismailiten?«, fragte sie.
Haruns Reaktion war interessant. Er hatte sich fast sofort wieder in der Gewalt, aber für einen winzigen Moment glaubte sie, einen abgrundtiefen Schrecken in seinen Augen zu erblicken. Vergleichbar vielleicht mit dem Blick eines besonders gottesfürchtigen Mönchs, wenn jemand den Namen des Teufels erwähnte.
»Woher hast du das?«, fragte er.
»Aufgeschnappt«, log Robin. »Aber ich hatte das Gefühl, dass es...«
»Die Assassinen«, unterbrach sie Harun. Er schüttelte den Kopf. »Niemand, den du kennen lernen möchtest. Glaube mir. Und niemand, über den man redet. Am besten, du vergisst dieses Wort sofort wieder.« Und damit drehte er sich auf dem Absatz herum und ging.
Robin blieb verwirrt zurück. Schon die bloße Erwähnung der geheimnisvollen Ismailiten hatte Harun al Dhin sichtbar bis ins Mark erschreckt, und angesichts seiner Reaktion erschien auch Omars Bemerkung zu diesem Thema in neuem Licht. Ismailiten. Assassinen. Robin ließ die Worte ein paar Mal in Gedanken nachhallen, aber es war nichts Vertrautes in ihrem Klang, nichts, was sie jemals gehört hätte - auch nicht von Salim.
Auf der anderen Seite musste sie sich eingestehen, dass sie kaum etwas über Salim wusste. Er war der einzige Mensch - abgesehen von ihrer Mutter vielleicht -, für den sie jemals uneingeschränkte Zuneigung empfunden hatte. Er war sicherlich derjenige auf der Welt, dem sie am allermeisten vertraute, und dennoch hatte er niemals viel über sich erzählt. Über sein Volk, ja. Über seine Herkunft, das Land, in dem er aufgewachsen war, die unendlichen Weiten der Wüste, die Schönheit seiner Welt, die mit einer ebenso großen Härte und Unerbittlichkeit einherging. Aber über sich selbst hatte er so gut wie nichts offenbart. Dabei hatte sie ihn auch niemals mit Fragen behelligt, weil sie gespürt hatte, wie unangenehm ihm dies war, und weil sie seine Gefühle respektierte.
Robin machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu, um sie hinter Harun und Aisha zu schließen, wobei sie nun doch in eine Pfütze aus eiskaltem Wasser trat und ärgerlich die Lippen verzog. Sie hatte bereits den Arm gehoben, als ihr klar wurde, wie ungewohnt diese Bewegung im Grunde für sie war. Die Tür hatte sie noch niemals von eigener Hand schließen müssen, seit sie in dieses Haus gekommen war. Es war stets jemand da gewesen, der diese Aufgabe für sie übernahm - schon, um zu verhindern, dass sie auf dumme Gedanken kam.
Jetzt war der Korridor vor ihrem Zimmer leer. Der Wächter, der so sehr zu einem Bestandteil ihres Lebens geworden war, dass sie ihn die meiste Zeit schon gar nicht mehr wirklich zur Kenntnis nahm, war verschwunden.
Robin zögerte einen Moment, ehe sie einen vorsichtigen Schritt auf den Flur hinaus machte, um sich rasch nach rechts und links umzusehen. In ihrem Zimmer herrschte noch das graue Zwielicht der späten Dämmerung, aber hier draußen auf dem fensterlosen Flur hatte die Nacht mit ihren Schatten und gedämpften Farben bereits Einzug gehalten. Sie spähte angestrengt nach vorne, um sich davon zu überzeugen, ob der schwarz gekleidete Krieger nicht ein Stück weiter unten Posten bezogen hatte. Aber sie konnte ihn auch im weiteren Verlauf des Korridors nicht erkennen.
Robin war überrascht. Eine Nachlässigkeit dieser Art sah dem Sklavenhändler nicht gleich, ebenso wenig wie seinen Kriegern, denn wie sie Omar kannte, würden sie ein solches Versäumnis zweifellos mit dem Leben bezahlen. Eine Falle? Robin dachte kurz über diese Frage nach, beantwortete sie sich dann aber mit einem Kopfschütteln. Eine solche Heimtücke hätte sie Omar durchaus zugetraut, aber sie machte überhaupt keinen Sinn. Wenn er ihr etwas antun wollte, brauchte er sich nicht erst die Mühe zu machen, einen Vorwand dafür zu finden.
Robin blieb noch einige Augenblicke lang mit klopfendem Herzen unter der Tür stehen, dann wandte sie sich um und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie würde, nein, sie musste diese Gelegenheit nutzen, um ihr Gefängnis zu erkunden. Und wenn die Jungfrau Maria, Gott und die Heiligen auf ihrer Seite waren, dann hatte sie jetzt vielleicht sogar die Gelegenheit, sich in den Keller zu Nehmet hinunterzuschleichen. Und das war ihr wichtiger denn je, denn Naida hatte ihre Drohung wahr gemacht: Robin hatte das Mädchen seit ihrer ersten Begegnung im Keller nicht mehr zu Gesicht bekommen und die alte Obersklavin hatte ihre Nachfragen und ihr Drängen nur mit einem unerbittlichen Schweigen quittiert.
Noch wagte Robin nicht, in die Dunkelheit zu schleichen. Vielleicht war der Krieger ja nur für einen Moment fortgegangen, um irgendeinen Befehl auszuführen oder einem menschlichen Bedürfnis nachzukommen, und da waren auch noch Haruns Worte, wonach es Zeit für das abendliche Gebet war.
Unter der Abeiya, dem schwarzen Umhang, der zu ihrer Kleidung gehörte, und dem Schleier würde zwar niemand ihr Gesicht erkennen, aber sie hatte über die Stellung der Frauen in diesem Teil der Welt mittlerweile genug gelernt, um zu wissen, dass sie sich nicht einfach frei durch dieses Haus bewegen und davon ausgehen konnte, dass niemand sie ansprach. Wenn sie die Gelegenheit nutzen wollte, die das Schicksal ihr so unverhofft bot, würde sie abwarten müssen, bis es vollkommen dunkel war.
Was hierzulande gottlob nicht lange dauerte. Dennoch schien die Zeit kein Ende zu nehmen. Mehr als einmal glaubte Robin, draußen auf dem Gang die Schritte des Wächters zu hören, der zurückkam, um seinen Posten wieder einzunehmen. Doch es war nur ihr eigener Herzschlag, der sie erschrocken aufhorchen ließ.
Endlich senkte sich die Dunkelheit über die Stadt. Robin trat noch einmal zum Fenster und sah hinaus. Der Innenhof war leer, und es brannte nur eine einzelne Fackel. Robin entzündete die beiden Öllampen, die auf dem Tischchen neben der Tür standen, nur für den Fall, dass Omar oder ihr persönlicher Wächter unten auf dem Hof entlanggehen und sich wundern würden, wieso hinter ihrem Fenster kein Licht brannte.
Rasch legte sie Schleier und Abeiya an, verließ ihr Zimmer und schlich auf den Gang, der zur Treppe führte. Es war so dunkel, dass Robins Augen nur vage Schatten wahrnahmen. Im Haus herrschte vollkommene Stille. Irgendwo in der Stadt begann ein Muezzin das Abendgebet vom Minarett herabzurufen. Bald fielen noch weitere Sänger in den seltsam klagenden Ruf des Vorbeters ein. Robin lauschte ihnen einen Moment, um herauszufinden, wie lange ihre Gnadenfrist währen würde. Doch leider hatte sie sich niemals weit genug für den Glauben der Muselmanen interessiert, um aus dem Gebet in einer ihr schwer verständlichen Sprache die richtigen Rückschlüsse ziehen zu können. Immerhin wusste sie, dass die Muslime mehrmals am Tag beteten, dafür aber nicht sehr lange.
Ihr blieb also nicht viel Zeit, wenn sie ins Sklavenverlies hinunter und zu Nemeth gelangen wollte. Über den Rückweg machte sie sich keine Gedanken. Sie hoffte, dass ihr nicht viel geschehen würde, selbst wenn man sie ertappte. Mit dem, was Omar ihr am Morgen verraten hatte, hatte er vielleicht die Absicht verbunden, sie aufzumuntern und ihr jeden Grund für eine ebenso riskante wie aussichtslose Flucht zu nehmen, aber er hatte ihr damit auch indirekt mitgeteilt, dass sie praktisch Narrenfreiheit hatte. Omar würde sich hüten, seinem nach seinen eigenen Worten wertvollsten Besitz einen Schaden zuzufügen.
Als sie weitergehen wollte, hörte sie Schritte.
Robin geriet nicht in Panik; wie zur Salzsäule erstarrt blieb sie einen Moment mit angehaltenem Atem stehen und lauschte. Ihr Herz klopfte so laut, dass es ihr für zwei oder drei Atemzüge schwer fiel, sich auf das andere Geräusch zu konzentrieren. Die Schritte waren jedoch unüberhörbar. Sie kamen von unten und näherten sich - nicht sehr schnell, aber unaufhaltsam. Robin wich einen Schritt in den Flur zurück und sah sich gehetzt um. Ihr würde mehr als genug Zeit bleiben, um in ihr Zimmer zurückzugehen und die Tür hinter sich zu schließen, aber sie bekam vielleicht nie wieder eine Gelegenheit wie diese. Wie Harun gesagt hatte, waren es nur noch zwei Tage bis zum Sklavenmarkt. Wenn sie tatsächlich eine Flucht wagen wollte, dann musste es in dieser oder spätestens in der darauf folgenden Nacht geschehen.
Robin zögerte noch einen kurzen Moment, dann steuerte sie die erstbeste Tür an. Vermutlich war der dahinterliegende Raum leer. Schlimmstenfalls würde sie dort eine Schicksalsgefährtin vorfinden, die sie hoffentlich nicht sofort verraten würde. Vorsichtig öffnete sie die Tür, huschte lautlos durch den Spalt und drückte sie ebenso vorsichtig hinter sich wieder ins Schloss.
Das Zimmer, in dem sie sich befand, war ebenso prächtig eingerichtet wie ihr eigenes, nur ein gutes Stück größer. Es lag fast völlig im Dunkeln, aber Robin konnte immerhin erkennen, dass das Fenster an der gegenüberliegenden Wand vergittert war. Nur neben dem Bett, einem gewaltigen hölzernen Gestell mit einem weit ausladenden Stoffhimmel aus halb durchsichtigen Seidenschleiern, glomm der kurze Docht einer Öllampe. Sie hatte das Gefühl, hinter den dünnen Seidentüchern ein schweres, röchelndes Atmen zu hören, war sich jedoch nicht ganz sicher, ob es nicht nur ihre überreizte Fantasie war, die ihr einen Streich spielte.
Zumindest schien niemand von ihrem Eintreten Notiz genommen zu haben. Nun, wo sie einmal so weit gekommen war, konnte sie den Raum ebenso gut auch genauer in Augenschein nehmen. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an das graublaue Dämmerlicht, das hier drinnen herrschte. Obwohl sie auch jetzt kaum mehr als Schemen wahrnahm, hatte sie das vage Gefühl, dass dieser Raum persönlicher eingerichtet war als der ihre, so als habe sein Bewohner die Möbel und Stoffe über Jahre sorgfältig ausgesucht und zusammengetragen. Auf einem niedrigen Tischchen neben dem Bett entdeckte sie eine Ansammlung kleiner Tiegel, Pinsel, flacher Holzspatel und anderer Schminkutensilien sowie einige Schmuckstücke, auf denen sich das Licht der Öllampe brach.
Ihre erste Einschätzung schien richtig gewesen zu sein: Sie befand sich im Zimmer einer Frau, sicher einer anderen Sklavin. Vorsichtig löste sie sich von ihrem Platz an der Tür und schlich auf das Bett zu. In Gedanken tat sie Harun und Aisha Abbitte für alles, was sie in den letzten Tagen über sie gedacht und nur zu oft auch laut gesagt hatte. Harun würde niemals eine Tempeltänzerin aus ihr machen, doch kam ihr der Unterricht nun zustatten, denn sie vermochte sich spürbar leichtfüßiger und damit auch lautloser zu bewegen. Ohne auch nur das mindeste Geräusch zu verursachen, huschte sie zum Bett, verharrte noch einmal mit angehaltenem Atem, um eine Sekunde lang zu lauschen, und zog dann behutsam den Vorhang auseinander.
Um ein Haar hätte sie aufgeschrien.
Bleich wie das Antlitz einer Toten, von kaltem Schweiß bedeckt und mit eingefallenen Wangen blickte ihr im fahlen Licht der Öllampe Naidas Gesicht entgegen. Es wirkte um Jahre gealtert. Das flackernde Licht des fast heruntergebrannten Dochtes ließ die unzähligen Falten in ihrer Haut wie tiefe Messerschnitte erscheinen, und obwohl sie Robin aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, schien sie sie nicht wirklich zu sehen. Ihr linkes Auge war nahezu zugeschwollen, die Haut darunter aufgeplatzt, und wie man es oft bei alten Leuten beobachten konnte, wollte sich die Wunde offenbar nicht schließen. Der fingerlange Riss von dem Schlag, den Omar ihr tags zuvor versetzt hatte, nässte noch immer und in der Kruste aus Schorf schimmerten winzige frische Blutströpfchen.
»Naida!«, hauchte Robin erschrocken. »Aber was...?«
Naidas trübe Augen flackerten. »Bist du hier, um dich an meinem Schmerz zu ergötzen?«, murmelte die Alte mit heiserer Stimme. Das Sprechen bereitete ihr sichtlich Mühe, nicht nur aufgrund ihrer Schwäche, sondern auch weil ihr Mund geschwollen und die Lippen auf der linken Seite aufgeplatzt und erst halb verschorft waren.
Robin hörte ihre Worte kaum. »Was... wer hat dir das angetan?«
Was für eine dumme Frage. Sie hatte doch gesehen, wer es gewesen war. Dennoch weigerte sie sich im ersten Moment, ihren Augen zu trauen. Sie hatte gesehen, dass Omar Naida geschlagen hatte. Ein Hieb, hart, aber doch nur mit der flachen Hand ausgeführt. Sie hatte genug solcher Schläge selbst zu spüren bekommen, um zu wissen, welchen Schaden sie anrichteten. Doch bisher war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass ein Schlag, der sie selbst schmerzen und sie allenfalls wütend machen würde, einen Menschen in Naidas Alter und von ihrer Gebrechlichkeit durchaus umbringen konnte.
Die alte Sklavin verzog die Lippen, doch statt zu einem Lächeln geriet es ihr zu einer Grimasse. »Er hat mich bestraft«, antwortete sie. »Und er hat Recht daran getan.«
»Wie bitte?«, keuchte Robin.
»Ich habe sein Vertrauen missbraucht - wie hätte er anders handeln sollen«, murmelte Naida. Mit fast brechender Stimme fügte sie hinzu: »Aber auch ich hatte keine Wahl. Mein dummer Junge. Er ist blind für das Unheil, das du über sein Haus bringen wirst.« Sie verdrehte die Augen. Ihr Atem ging schwerer, und Robin hatte für einen Moment Angst, dass Naida gleich sterben würde. Das Gesicht der alten Frau wirkte wie aus gelbem Wachs geformt, und ihr Schweiß roch nach Krankheit und Verfall.
»Ich... ich werde dir helfen«, versprach Robin. Sie kam sich beinahe lächerlich vor bei diesen Worten. Helfen? Es gab absolut nichts, was sie für Naida tun konnte. Im Gegenteil: Mit jedem Moment, den sie länger hier war, brachte sie auch die alte Sklavin in größere Gefahr. Ganz egal, was Omar am Morgen behauptet hatte - sie wagte sich nicht einmal vorzustellen, was er täte, wenn er Robin hier vorfinden würde. Hilflos und nur noch mit Mühe die Tränen zurückhaltend, streckte sie die Hand aus und berührte die Wange der alten Frau. Sie fühlte sich heiß und trocken an, - sie konnte mit den Fingerspitzen fühlen, wie Naidas Puls raste. »Dieses Ungeheuer«, flüsterte sie. »Er hat mir erzählt, dass er dich liebt.«
Die Sklavin öffnete die Augen und suchte Robins Blick. »Aber das tut er«, murmelte sie. »Er hatte keine Wahl, glaub mir. Er...« Sie stockte. Robin spürte, wie sie unter ihrer Berührung zusammenfuhr und zog fast erschrocken die Hand zurück. Mit einer schier unglaublichen Kraftanstrengung setzte Naida sich auf, sog mit einem qualvollen Seufzen die Luft zwischen den Zähnen ein und griff so hart nach Robins Handgelenk, dass es schmerzte.
»Der Ring!«, keuchte sie. Ihre Augen weiteten sich, als sie den Blick auf das blasse Schimmern richtete, mit dem sich das Licht auf dem schmalen Goldring an Robins Mittelfinger brach. »Er hat ihn dir zurückgebracht!«
»Ribauld von Melk ist nichts geschehen«, sagte Robin hastig. Sie verzichtete darauf hinzuzufügen, dass sie es wenigstens hoffte. Naidas Griff umspannte ihr Handgelenk noch fester, aber Robin biss tapfer die Zähne zusammen und gab weder einen Laut von sich, noch versuchte sie, ihre Hand loszureißen.
»Er ist wieder da«, stammelte Naida. »Wir sind verloren! Jetzt werden die Schatten über uns kommen! Wir alle werden sterben!«
»Was bedeutet das?«, fragte Robin. »Wovon sprichst du?«
»Allah hat seinen Segen von uns genommen«, stammelte Naida. »Die Kinder Ismaels werden über uns kommen.«
»Die Kinder Ismaels?« Behutsam nahm Robin die freie Hand, um Naidas knochige Finger von ihrem Gelenk zu lösen, während die alte Sklavin weiter wie gebannt den Ring anstarrte. »Wer sind die Kinder Ismaels?«
»Die Hashashin«, antwortete Naida. »Deine Freunde.«
Es war Robin endlich gelungen, Naidas Griff zu lösen, und kaum hatte sie es getan, da schien alle Kraft die alte Frau zu verlassen. Keuchend sank sie zurück in ihre Kissen und schloss die Augen. Ihre Brust hob und senkte sich so schnell, als wäre sie die Treppen hinaufgehastet.
»Was hat dieser Ring zu bedeuten?«, flehte Robin sie an.
»Den Tod.« Naidas Augen starrten blicklos an ihr vorbei in eine Leere, die von einem Schrecken erfüllt zu sein schien, den Robin noch nicht sehen, sehr wohl aber bereits erahnen konnte. »O Omar, spürst du denn nicht, wie der Schatten Azraels auf dich fällt? Man feilscht nicht mit dem Tod!«
Robin massierte unbewusst ihr Handgelenk. Naidas Griff war so hart gewesen, dass er ihr das Blut abgeschnürt hatte. Ihre linke Hand prickelte. Naidas Worte verwirrten sie immer mehr, aber sie konnte nicht sagen, ob etwas dran war oder ob es sich einfach nur um Fiebergerede handelte.
»Flieh«, murmelte Naida plötzlich.
»Fliehen?« Robin riss verblüfft die Augen auf. Fieberwahn oder nicht, dieser Vorschlag war so ziemlich das Letzte, was sie von Naida erwartet hätte. Ausgerechnet von Naida.
»Du musst fliehen, Kind«, murmelte Naida. »Lauf weg. Noch heute. Nur so kannst du dein Leben retten, und nur so kannst du dieses Haus retten, und die Leben aller, die darin sind. Fort von hier. Wende den Fluch von uns, den Omar auf unser aller Häupter herabgerufen hat. Die Haschisch-Anbeter werden uns töten. Wir werden alle sterben. Du musst gehen!«
»Bitte, Naida, ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Robin. »Was dir angetan wurde, tut mir unendlich Leid. Ich würde den Schmerz von dir nehmen, wenn ich es könnte. Aber jetzt...«
Sie hörte ein Geräusch von der Tür her, und diesmal waren es nicht Haruns Lehrstunden, die ihr zugute kamen, sondern die Reflexe der Kriegerin, zu der sie in den vergangenen beiden Jahren geworden war. Sie ließ sich blitzschnell zur Seite fallen, federte ihren Sturz mit den Fingerspitzen ab, sodass sie praktisch kein Geräusch dabei verursachte, und rollte sich in der gleichen Bewegung auf den Rücken. Praktisch im selben Moment wurde die Tür geöffnet und Omar trat ein.
Robin war kurz davor, in Panik zu geraten. Sie lag völlig deckungs- und wehrlos auf dem Boden, Omar musste sie einfach sehen. Gleich würde er einen zornigen Schrei ausstoßen und sich auf sie stürzen, um sie zu schlagen. Was er Naida für dieses neuerliche Vergehen antun würde, für das sie ebenso wenig konnte wie für das vermeintliche Verbrechen zuvor, daran wagte sie erst gar nicht zu denken.
Der Sklavenhändler blieb für einen Moment unter der Tür stehen, dann trat er vollends in den Raum, wandte sich um und schloss die Tür hinter sich!
Robin konnte gerade noch ein erleichtertes Aufatmen unterdrücken. So unglaublich es schien, Omar hatte sie nicht bemerkt. Der schwarze Umhang und der Schleier, der einen Großteil ihres Gesichtes verbarg, schützten sie. Schließlich war auch sie im ersten Moment fast blind gewesen, als sie hereingekommen war. Das Licht der Öllampe war mittlerweile noch weiter heruntergebrannt und jetzt kaum mehr als ein rötliches Glimmen am Ende des Dochtes. Sie hörte, wie Omar sich abermals herumdrehte und mit langsamen Schritten näher kam. Selbst wenn er sie nicht sah, würde er gleich auf sie treten. Als Omar noch zwei Schritte von ihr entfernt war, glitt sie so leise sie konnte in das naheliegendste Versteck: unter das Bett.
Keinen Augenblick zu früh. Omars Stiefel tauchten genau dort vor ihrem Gesicht auf, wo sie gerade noch gelegen hatte. Selbst wenn sich seine Augen nicht so schnell an die Dunkelheit gewöhnten wie ihre gerade, würde sein Gehör dafür umso schärfer sein. Robin schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich darauf, flach und möglichst lautlos zu atmen.
Über ihr bewegte sich Naida unruhig in ihrem Bett. »Du... du kannst dich nicht verbergen«, stammelte sie. Robins Herz machte einen erschrockenen Sprung.
»Ruhig, Nana. Ich bin bei dir.« Omars Stimme klang weicher und zärtlicher, als Robin sie jemals gehört hatte. »Ich bin hier, keine Angst. Niemand wird dir etwas zuleide tun.« Robin hörte, wie eine Flüssigkeit von einem Gefäß in ein anderes gegossen wurde. »Ich bringe dir einen Schlaftrunk, den der Franke für dich bereitet hat. Er wird dir die Schmerzen nehmen.«
Der Sklavenhändler kniete neben dem Bett nieder. Robin hätte ihn in diesem Moment mit der ausgestreckten Hand berühren können, doch nicht das war ihr Problem: Ihr Herz hämmerte so laut, dass Omar es eigentlich kaum überhören konnte.
»Lass sie gehen«, stammelte Naida. »Das Christenmädchen... lass sie... gehen. Die Haschisch-Anbeter werden über uns kommen! Du musst sie fortschicken.«
»Arme Nana«, sagte Omar. »Du hast Fieber. Trink das. Das wird die Dämonen vertreiben, die dich quälen.« Wieder wechselte er seine Position. Robin vermutete, dass er sich auf die Bettkante gesetzt hatte, um Naida in den Arm zu nehmen und ihr den Schlaftrunk einzuflößen. Für eine kleine Weile wurde seine Stimme so leise, dass Robin die Worte nicht verstehen konnte, aber sie klang jetzt so sanft und besorgt wie die eines Sohnes, der am Bett seiner sterbenskranken Mutter sitzt. Schließlich beugte sich Omar vor und stellte einen schlanken silbernen Becher auf den Boden direkt neben dem Bett. »Du musst jetzt schlafen, Nana«, sagte er.
»Nein«, stammelte Naida. »Dummer Junge. Du weißt nicht, was du... was du tust. Du musst nach dem Imam schicken. Er soll die heiligsten Suren des Korans und den Namen des Propheten auf Papierstreifen schreiben. Du musst sie an allen Türen und Fenstern befestigen, Junge...«, Naidas Stimme wurde schwächer, »... dann werden die Schatten nicht...« Ihre Stimme wurde leiser und verebbte schließlich vollends, und nur einen Augenblick später beruhigten sich auch ihre keuchenden Atemzüge. Robin hoffte, dass sie eingeschlafen war.
Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Omar nun ebenfalls aufstehen und gehen würde, doch der Sklavenhändler blieb noch eine schiere Ewigkeit reglos sitzen. Schließlich beugte er sich im Sitzen vor. Seine Finger tasteten über den Boden, näherten sich Robins Gesicht bis auf wenige Zoll und fanden endlich den Silberbecher, nach dem sie gesucht hatten. Robin zitterte am ganzen Leib. Endlich erhob sich Omar und schritt gemächlich auf die Tür zu.
Er verließ den Raum jedoch nicht sofort, sondern blieb noch einmal stehen und wandte sich ganz langsam um. Trotz der Dunkelheit konnte Robin aus ihrem Versteck heraus deutlich sein Gesicht erkennen. Gerne hätte sie den Ausdruck, der darauf lag, als Berechnung gedeutet, als Herablassung oder Gnadenlosigkeit, aber alles, was sie in den Zügen des schlanken Arabers las, war tiefste Qual und unendliches Mitleid, und das im wortwörtlichen Sinne. Was Omar sah, bereitete ihm mindestens so große Qual wie Fieber und Schmerzen der alten Sklavin. Robin verstand diesen Mann nicht mehr. Seine Worte waren nicht gelogen gewesen, weder die, die er am Morgen zu ihr gesagt hatte, noch die soeben gesprochenen. Aber war es denn möglich, dass ein Mensch gleichzeitig so grausam und gnadenlos wie ein Teufel und so sanftmütig und zärtlich wie ein liebender Sohn sein konnte?
Endlich drehte sich Omar ruckartig um und verließ den Raum. Robin wartete einen Moment mit angehaltenem Atem und hämmerndem Herzen auf das Geräusch eines von außen vorgelegten Riegels, doch zu ihrer Erleichterung vernahm sie nichts anderes als Omars sich rasch entfernende Schritte. Trotzdem blieb sie noch geraume Zeit in ihrem Versteck unter dem Bett liegen.
Endlich richtete sie sich auf und beugte sich noch einmal über Naida. Die Sklavin war eingeschlafen. Ihre Lippen bebten und ihre Hände, die über der dünnen seidenen Bettdecke lagen, mit der Omar sie sorgsam zugedeckt hatte, zitterten sichtbar. Immerhin ließ der Trank sie schlafen und ersparte ihr wenigstens für einige wenige, kostbare Stunden die schlimmste Qual. Dennoch zog sich Robins Herz in ihrer Brust zusammen, als sie in Naidas eingefallenes Gesicht hinabsah. Wieder glomm der Gedanke, Omar zu töten, in ihr auf. Und gleichzeitig verspürte sie den Wunsch, die sonderbaren Gefühle, die sie dem Sklavenhändler plötzlich entgegenbrachte, niederzukämpfen.
Lautlos trat sie vom Bett zurück, huschte zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Der Gang draußen war so dunkel und leer wie vorhin. Omar war gegangen, und auch der Wächter war nicht zurückgekehrt.
Du musst fliehen!, hatte Naida gesagt. Und das würde sie, jedoch nicht heute Nacht. Sie hatte mehr Glück als Verstand gehabt, unbehelligt so weit gekommen zu sein, und sie würde das Schicksal nicht noch weiter herausfordern.
Nicht heute. Aber bald.
Am nächsten Nachmittag, noch bevor Harun al Dhin zum Unterricht erschien, erhielt Robin ein Geschenk. Die beiden schweigsamen Sklavinnen, die sonst ihr Essen brachten, trugen ein mit feinstem Linnen abgedeckten, sehr großen, aber offensichtlich nicht sehr schweren Gegenstand herein. Ihnen folgte ein Angehöriger der Wache, der ein niedriges Tischchen mit einer kostbaren Intarsienplatte vor sich her balancierte, das er an der Wand unmittelbar neben dem Fenster abstellte. Robin verzichtete darauf, die Sklavinnen oder den Krieger irgendetwas zu fragen. Die einen konnten nicht antworten, der andere würde es ganz bestimmt nicht tun. Sie platzte innerlich fast vor Neugierde, beherrschte sich aber und wartete, bis die beiden jungen Frauen ihre Last auf dem Tischchen abgeladen hatten und die Kammer wieder verließen. Der Krieger blieb beim Hinausgehen noch einmal unter der Tür stehen und maß sie mit einem sonderbaren Blick.
»Was habt Ihr?«, fragte Robin.
»Mein Herr, Omar Khalid ben Hadschi Mustapha Khalid schickt Euch das zum Geschenk.« Der Krieger sprach schleppend und in so gebrochenem Arabisch, dass Robin alle Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich soll Euch ausrichten, dass er hofft, Euch damit die langen Stunden des Alleinseins ein wenig zu versüßen.«
Robin warf einen verwirrten Blick auf den mit Leinentüchern abgedeckten Gegenstand, dann in das Gesicht des Wächters. Sie hatte das sichere Gefühl, dass er noch mehr sagen wollte, dann aber wandte er sich plötzlich um und verließ rasch den Raum. Als er die Tür hinter sich zuzog, konnte sie das Geräusch des Riegels hören, der von außen vorgelegt wurde. Der Laut versetzte ihr einen durchdringenden Stich, denn er schien gleichsam auch einen Riegel vor alle Fluchtpläne zu schieben, über die sie im Laufe der vergangenen Nacht gebrütet hatte. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Haruns Nachlässigkeit vom vergangenen Abend würde ganz bestimmt nicht zur Gewohnheit werden.
Sie verscheuchte den Gedanken, wandte sich ihrem Geschenk zu und musterte es einige Herzschläge lang misstrauisch. Omar Khalid ben Hadschi Mustapha Khalid. Robin musste lächeln. Was für ein Name! Was das anging, schienen die Araber nicht anders zu sein als ihre Erzfeinde, die Christen: Je höher der Rang eines Mannes war oder je wichtiger er sich selbst nahm, desto umständlicher und komplizierter schien sein Name zu werden. Warum aber sollte Omar ihr Geschenke schicken?
Vielleicht würde sich diese Frage von selbst beantworten, wenn sie erst einmal wusste, worum es sich bei dem Geschenk überhaupt handelte. Sie wollte schon hinübergehen, besann sich dann aber im letzten Moment auf Omars Warnung und machte noch einmal kehrt, um den Schleier anzulegen, ehe sie ans Fenster trat und das Leinentuch mit beiden Händen wegzog.
Darunter kam ein halb mannshoher, kunstvoll aus hellem Holz geflochtener Vogelkäfig zum Vorschein. Auf Robins Lippen erschien unwillkürlich ein Lächeln, als sie die beiden kleinen Vögel gewahrte, die nebeneinander auf einer Stange saßen und sie einen kurzen Moment aus ihren winzigen Äuglein scheinbar erschrocken anblickten, ehe sie das Sonnenlicht spürten und ein helles Tschilpen anstimmten.
Es waren Vögel von einer Art, wie Robin sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatten ein gelblichweißes Brustgefieder und ihre Flügel waren von schlichter graubrauner Farbe. Als Robin die Finger durch das engmaschige Holzgeflecht schob und bewegte, kamen sie zutraulich näher und zwitscherten und pfiffen noch aufgeregter mit ihren wohltönenden Stimmen. Fast schien es, als diskutierten sie heftig miteinander, was sie von ihrer neuen Umgebung und vor allem ihrer neuen Herrin zu halten hatten.
Ihr Zusammenspiel war erstaunlich. Sie blieben stets dicht beieinander, und wenn der eine mit den Flügeln schlug, ahmte der andere die Bewegung sogleich nach, ebenso wie keiner ein Zwitschern anstimmen konnte, ohne dass der andere es unverzüglich beantwortete.
Sosehr der Anblick der possierlichen kleinen Tierchen Robin auch erfreute, so fragte sie sich doch, warum der Sklavenhändler sie ihr zum Geschenk gemacht hatte. Es gab für Omar keinen Anlass, ihr eine Freude zu machen, ganz im Gegenteil. Und wenn sie eines von diesem Mann zu wissen glaubte, dann, dass er nichts ohne Grund tat.
In das Zwitschern der beiden Vögel mischten sich vom Hof her aufgeregte Rufe und dann ein zorniger Schrei. Robin drehte den Kopf und sah in das ummauerte Geviert hinab, in dem das Lärmen und Hämmern auch den ganzen Vormittag über angehalten hatte. Sie war nicht ein einziges Mal ans Fenster getreten, um nicht aus Versehen noch mehr Schaden anzurichten, als es vielleicht bereits geschehen war. So war sie ein wenig überrascht, dass die Zimmerleute ihre Bauarbeiten offensichtlich schon vollendet hatten. Direkt neben dem Eingang zum Haus war ein solides, mehr als einen Meter hohes Podest aus hölzernen Balken errichtet, und daneben hatte man etliche Bänke aufgestellt. Im Moment waren Sklaven damit beschäftigt, ein Sonnendach aus weißem Segeltuch auf dem Podest zu errichten und aus zurechtgesägten Brettern eine Treppe auf der Türseite zu zimmern. Das Ganze erinnerte Robin an die Bühne für ein Weihnachtsspiel, das sie im vergangenen Winter in Nürnberg gesehen hatte.
Die aufgeregten Rufe und das wütende Geschrei hielten an, aber Robin konnte ihre Ursache ebenso wenig ausmachen wie ihre Verursacher. Der Hof war voller Männer und Frauen - Omars Diener und Wachposten, zum größten Teil jedoch Sklaven, die hektisch mit den letzten Vorbereitungen für was auch immer beschäftigt waren. Robin beugte sich ein wenig weiter vor, von der vagen Hoffnung erfüllt, Nemeth oder ihre Mutter, möglicherweise gar Naida zu sehen, aber sie erblickte nur ein paar Gesichter, die ihr vage bekannt vorkamen. Es waren Bewohner des Fischerdorfes, die sie nur ein- oder zweimal gesehen hatte. Dann fiel ihr doch eine bekannte Gestalt auf, und als hätte der Mann, der ihr bisher den Rücken zugewandt hatte, ihren Blick gespürt, drehte er sich herum, legte den Kopf in den Nacken und starrte zu ihr hoch.
Ganz instinktiv wich Robin einen halben Schritt vom Fenster zurück, so weit, dass sie gerade noch ins Gesicht des Sklaven blicken konnte. Es war Mustafa, Sailas Mann, der Fischer, den sie niedergeschlagen hatte und der deshalb vor den anderen Bewohnern des Dorfes das Gesicht verloren hatte. Robin spürte, dass er trotz des Schleiers vor ihrem Gesicht ganz genau wusste, wen er vor sich hatte. Und sie spürte auch seinen Hass. Er hatte die Schmach, die sie ihm zugefügt hatte, nicht vergessen, und vermutlich gab er ihr auch die Schuld an dem Schicksal, das ihn, seine Familie und sein ganzes Dorf getroffen hatte. Robin hatte nicht die Kraft, seinem Blick noch länger Stand zu halten. Sie wich zwei weitere Schritte in ihr Zimmer zurück, und wartete eine ganze Weile, ehe sie es erneut wagte, neben den Vogelkäfig ans Fenster zu treten.
Der Fischer war nun nicht mehr zu sehen. Die Sklaven waren damit beschäftigt, ein großes Sonnensegel über den Hof zu spannen, sodass die Bänke im Schatten lagen. Andere trugen Teppiche und Kissen herbei, um die unbequemen Sitzflächen der Holzbänke zu polstern. Auch die beiden Zimmerleute, die hastig eine Treppe zur Bühne hinauf bauten, waren mit ihrer Arbeit fast fertig. Nur auf der anderen Seite, zwischen dem Podest und der äußeren Mauer des Hofes, lehnten noch einige lange Balken an der Wand.
Die Hektik unten auf dem Hof hielt noch eine ganze Weile an, aber schließlich schienen alle Vorbereitungen getroffen, denn die Sklaven und Arbeiter zogen sich rasch zurück und nur einige bewaffnete Posten blieben. Robin stand jetzt wieder nahe am Fenster und blickte hinab, aber niemand sah auch nur in ihre Richtung. Mit Ausnahme des Fischers schien jedermann in diesem Haus zu wissen, welches Schicksal ihm bevorstand, wenn er Omars wertvollsten Besitz auch nur mit einem flüchtigen Blick streifte.
Auf diese Weise verging sicherlich eine halbe Stunde, wenn nicht mehr. Robin vertrieb sich die Zeit damit, den Vögeln zuzusehen, die nicht müde wurden, in ihrem Käfig von einer Stange auf die andere zu hüpfen, dem hellen Tag draußen vor dem Fenster zuzuzwitschern oder nach ihrem Futter zu picken, das in einer kleinen goldenen Schale auf dem Boden des Käfigs stand. Sosehr sie der Anblick auch erfreute, so sehr schnürte es ihr auch die Kehle zusammen, jedes Mal, wenn einer der Vögel mit den Flügeln schlug und von dem feinmaschigen Holzgeflecht daran gehindert wurde, sie wirklich zu gebrauchen. Robin hatte niemals, schon als Kind nicht, verstanden, warum man Vögel in Käfigen hielt. Sie begriff durchaus, dass Menschen sich an ihrem Anblick und besonders an ihrem Gesang erfreuen konnten, aber das gab niemandem das Recht, einem Vogel das Fliegen zu verbieten. Ebenso gut konnte man einem edlen Rennpferd die Beine brechen, damit man es besser im Stall beobachten konnte.
War das vielleicht der wirkliche Grund für Omars Geschenk? Robin ertappte sich dabei, dass etwas in ihr geradezu krampfhaft nach einer versteckten Bosheit suchte, die sie dem Sklavenhändler anlasten konnte. Und entsprach es nicht tatsächlich der Wahrheit? Omar hatte ihr nicht wirklich eine Freude machen wollen. Das Schicksal dieser Vögel war ihr eigenes. Der Käfig, in dem sie gefangen war, hatte keine Gitterstäbe, und wenn, so würden sie aus Gold sein, und die Ketten, die sie hielten, mit Edelsteinen besetzt. Hatte er ihr nicht bereits die Flügel gebrochen?
Geräusche vom Tor her rissen sie aus ihren Gedanken. Robin wandte sich vorsichtig und von der Seite her wieder ganz dem Fenster zu. Das große Sonnensegel, das quer über den Hof gespannt war, nahm ihr teilweise die Sicht, aber sie erkannte, dass das zweiflügelige Tor geöffnet worden war. Einen Moment später trat der Sklavenhändler in Begleitung des ganz in Schwarz gekleideten Kriegers ein, der bisher Robins Zimmer bewacht hatte.
Sie waren nicht allein. Nach und nach füllte sich der Hof mit sicher zwei Dutzend Männern, wenn nicht mehr. Robin konnte sie jeweils nur kurz beobachten, bevor sie unter dem Sonnensegel verschwanden, um auf den Bänken Platz zu nehmen. Es handelte sich offensichtlich um Kaufleute und andere einflussreiche Männer. Fast alle waren in kostbare Gewänder gehüllt und die meisten wurden von einem oder sogar mehreren bewaffneten Kriegern begleitet. Robin hatte ein ungutes Gefühl. Sie begann zu ahnen, was sich dort unten auf dem Hof gleich abspielen würde.
Es verging eine geraume Weile, bis auch der letzte Gast eingetroffen und das Tor hinter ihm geschlossen worden war. Auf einen Befehl Omars hin - Robin konnte ihn so wenig sehen wie die meisten anderen, aber sie erkannte seine Stimme - brachten Sklavinnen silberne Becher mit Wasser und Platten mit Weintrauben, Datteln und frischem Fladenbrot, mit denen sie unter dem Segeltuch verschwanden.
Schließlich klatschte jemand laut und befehlend in die Hände und die gemurmelten Gespräche unter dem Sonnendach verstummten. Robins Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Während sie die rechte Hand auf den Vogelkäfig stützte, als wäre die Nähe der beiden winzigen Lebewesen darin das Einzige, was ihr überhaupt noch den Mut gab, hier zu stehen, beugte sie sich vorsichtig weiter vor, um einen Blick auf das Podest neben der Tür zu werfen.
Genau in diesem Moment brachten zwei von Omars Kriegern eine junge, nur in ein langes weißes Leinentuch gehüllte Frau aus dem Haus und zerrten sie auf die Bühne. Sie wehrte sich nicht, aber sie wirkte unsicher und so verängstigt, dass sie auf den drei Stufen nach oben fast gestürzt wäre. Die beiden Wachen stießen sie grob vor sich her und von der anderen Seite her sprang ein weiterer Mann auf das Podest - ein hagerer Kerl mit einem dunkelblauen, mit weißen Stickereien geschmückten Kaftan. Er war Robin auf den ersten Blick unsympathisch. Dem spitzen Gesicht mit dem stoppeligen Bart und den funkelnden Augen haftete etwas an, das sie an eine Ratte erinnerte.
Sie hörte das Geräusch der Tür hinter sich und erkannte allein am Klang der Schritte, dass es Harun und Aisha waren, die zur täglichen Unterrichtsstunde kamen. Sie drehte sich jedoch nicht zu den beiden um, sondern beobachtete zugleich gebannt und angewidert weiter das Geschehen auf dem Hof. Ihr war längst klar, was dort vor sich ging, aber irgendetwas in ihr weigerte sich immer noch, die Tatsachen anzuerkennen. Es war eine Sache, etwas zu wissen, selbst jenseits allen Zweifels, und eine völlig andere, es mit eigenen Augen zu sehen.
»Christenmädchen! Was gibt es aus dem Fenster zu gaffen? So etwas gehört sich nicht für eine Dame!«, erscholl Haruns Stimme hinter ihr. Ihr Klang war ungewohnt scharf, aber Robin machte sich nicht einmal die Mühe, ihm etwas zu entgegnen.
Der rattengesichtige Mann hatte sich bisher geduldet und darauf gewartet, dass die beiden Krieger das Sklavenmädchen zu ihm brachten. Nun aber machte er eine herrische Geste, woraufhin einer der Krieger der jungen Frau einen so derben Stoß versetzte, dass sie die letzten beiden Schritte auf ihn zustolperte und auf die Knie fiel. Das Gesicht des Arabers umwölkte sich. Er trug eine kleine Peitsche in der Hand, die viel zu zierlich schien, um mehr als symbolischen Charakter zu haben. Grob, fast schon brutal, zerrte er die Sklavin in die Höhe und zwang sie, sich aufzurichten, dann packte der Krieger, der das Mädchen gerade zu Boden gestoßen hatte, so fest bei den Oberarmen, dass es einen Schmerzlaut ausstieß.
Robin fuhr heftig zusammen, so als spürte sie den harten Griff des Mannes selbst. Sie war nur noch einen Deut davon entfernt, herumzufahren und aus dem Zimmer zu stürmen, um hinunter auf den Hof zu laufen und diesen brutalen Mistkerl in seine Schranken zu verweisen. Doch selbst ohne Harun und Aisha in ihrem Rücken und selbst wenn die Tür offen und der Hof nicht voller Krieger gewesen wäre, hätte ein solches Unternehmen an Selbstmord gegrenzt. Auf jeden Fall würden durch eine solche Dummheit ihre ohnehin verzweifelten Fluchtpläne endgültig vereitelt. Robins Finger schlossen sich so fest um die Gitterstäbe des Vogelkäfigs, dass das feine Holzgeflecht hörbar knirschte, und vielleicht zum ersten Mal war sie dankbar für den Schleier vor ihrem Gesicht, der ihre wahren Gefühle verbarg. Harun war nahezu lautlos neben sie getreten; eher spürte sie seine gewaltige Körpermasse, als dass sie seine Schritte hörte.
Unten auf dem Hof ließ der hagere Araber noch einige Augenblicke verstreichen, dann scheuchte er den Krieger mit einer nachlässigen Bewegung seiner Spielzeugpeitsche fort. Er trat zu dem zitternden Mädchen und legte ihm die Hand unter das Kinn, um ihren Kopf auf diese Weise in die Höhe zu zwingen, damit alle Anwesenden ihr Gesicht betrachten konnten. Robin fuhr erneut zusammen, als sie die junge Frau erkannte. Es war eine der Sklavinnen, die sie unten im Verlies gesehen hatte, eine der Frauen aus dem Fischerdorf.
»Es ist nicht deine Schuld, Robin«, sagte Harun neben ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Jede Spur von Spott, alle Überheblichkeit und jede gespielte Verzweiflung waren aus seiner Stimme gewichen. Sie klang plötzlich so mitfühlend und sanft, wie Robin sie noch nie von ihm gehört hatte. Aber seine Worte brachten keinen Trost; er sprach nur aus, was auch die Stimme der Vernunft ihr zu sagen versuchte. Sie war einfach nicht in der Lage, mit dem Gefühl von Schuld fertig zu werden, das dieser unwürdige Anblick in ihr auslöste, und auch Harun konnte ihr diese Last nicht abnehmen.
Der Sklavenhändler auf dem Podest begann mit einer wohlklingenden, klaren Stimme zu sprechen: »Dieses junge, kräftige Weibsstück kommt aus einem Fischerdorf an der Küste. Sie hat starke Hände und ist harte Arbeit gewöhnt. Ihr fügsames Wesen macht sie zu einer guten Dienerin in Haus und Küche. Sie ist gesund, hat kein Ungeziefer in den Haaren und besitzt noch fast alle Zähne.«
Mit einer überraschenden Bewegung riss er der jungen Frau das Leinentuch vom Leib. Die Sklavin stieß einen Schrei aus und versuchte, mit den Händen ihre Blöße zu bedecken. Aber ihr Peiniger lachte nur, trat mit einem Schritt hinter sie und hielt ihre Arme mit nur einer Hand auf dem Rücken zusammen. In hämischem Ton fuhr er fort, ihren kräftigen Körper anzupreisen, wie ein Viehhändler auf dem Markt eine gut gewachsene Kuh anbieten würde. Robins Augen füllten sich mit Tränen der Wut, als sie hörte, wie er als erstes Gebot zwanzig Dinar einforderte.
Harun neben ihr sagte irgendetwas, aber sie verstand die Worte nicht mehr. Für einen Moment schien sich alles um sie herum zu drehen. Ihre Knie zitterten und das Herz hämmerte ihr bis in den Hals. Die Welt ringsum schien zu erlöschen, und es gab nur noch diesen winzigen Hof voller gieriger alter Männer, die das hilflose Mädchen auf dem Podest anstarrten. Erschüttert und von einer hilflosen Wut erfüllt, die fast körperlich schmerzte, musste sie mit ansehen, wie verschiedene Kaufinteressenten auf die Bühne hinaufstiegen und die junge Frau eingehend untersuchten. Sie zwangen ihre Lippen mit dem Daumen auseinander, um ihre Zähne zu begutachten, kniffen in Oberarme und Schenkel, um die Festigkeit ihrer Muskeln zu prüfen, und schließlich brachten die Wachen unterschiedlich schwere Säcke und gefüllte Wasserkrüge herbei, die sie hochheben musste, um ihre Kraft unter Beweis zu stellen.
Robin war unbeschreiblich angewidert von der Szene und sie machte ihr mit jedem Moment mehr Angst. Vor ihrem inneren Auge erschien Omars lächelndes Gesicht, aber sie holte die Worte, die er ihr bei seinem letzten Besuch gesagt hatte. In zwei Tagen - oder vielleicht schon morgen - würde sie vielleicht selbst dort unten stehen, um gedemütigt zu werden und sich von feisten alten Männern begrapschen zu lassen.
Aber das würde nicht geschehen. Sie würde fliehen, noch heute, und wenn es ihr nicht gelang, dann würde sie sich eher das Leben nehmen, bevor sie zuließ, dass man auch sie auf das Holzgerüst dort unten zerrte.
Harun legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Robin fuhr erschrocken zusammen, und für einen Moment musste sie gegen den Impuls ankämpfen, herumzufahren und seine Hand beiseite zu schlagen. Dann wurde ihr bewusst, dass Harun sie plötzlich auf eine völlig andere Art berührte als zuvor. Er wollte sie trösten, wollte durch diese Geste ausdrücken, was Worte nicht sagen konnten.
»Warum tust du dir das an, Kind?«, fragte Harun. »Komm vom Fenster weg. Quäle dich nicht.«
Robin drehte sich nun doch herum und streifte seine Hand ab, aber sie tat es langsam, fast sanft, und Harun nahm ihr die Bewegung nicht übel. In seinen Augen erschien für einen kurzen Moment ein ungeahnter Ausdruck von Wärme.
Trotzdem zitterte ihre Stimme vor unterdrücktem Zorn und Schmerz, als sie antwortete: »Warum nicht? Schließlich werde ich spätestens morgen wohl selbst dort unten stehen, nicht wahr?«
»Unsinn!«, widersprach Harun. Er machte eine Kopfbewegung zum Fenster. »Das da ist für einfache Sklaven. Du bist...«
»... ein wertvolleres Gut?«, unterbrach ihn Robin zornig. Plötzlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, aber es waren nicht Tränen des Schmerzes, sondern der Wut. »Wahrscheinlich bin ich zu kostbar, um mich zu verärgern, wie? Was habt Ihr mit mir vor? Wollt Ihr mich auf ein Podest aus Gold stellen und mein Verkäufer wird eine mit Diamanten besetzte Peitsche tragen?« Ihre Stimme war voller Bitterkeit, aber Harun zeigte sich von ihren Worten nicht beeindruckt. Er schüttelte den Kopf und antwortete mit milder, väterlich klingender Stimme: »Ich kann dich verstehen, Robin, aber es ist nicht so, wie du denkst.«
»Ach? Was denke ich denn? Was glaubst du wohl, was ich denke, Harun al Dhin? Dass alle Moslems Barbaren und gottlose Unmenschen sind? Dass ihr Menschen wie Vieh behandelt, wie etwas, das man benutzt und wegwirft, wenn man es nicht mehr braucht? Wenn du glaubst, dass es das ist, was ich denke, dann hast du Recht. Aber ich denke noch mehr, weißt du! Ich wünsche mir, dass die Templer, die Johanniter und der König von Jerusalem mit Feuer und Schwert über all eure Städte herfallen und sie niederbrennen.«
»Hüte deine Zunge, Christenmädchen!«, sagte Harun verärgert und wich einen Schritt zurück. »Du bist erregt und du hast Angst. Was für mich Entschuldigung genug für diese Worte ist. Aber sollten sie an die falschen Ohren dringen, dann wären sie allein Grund für deinen Tod.«
Robin lachte bitter. »Willst du mir drohen? Spar dir deinen Atem, alter Mann. Was könnte schlimmer sein als das, was ich gerade dort unten gesehen habe?«
»Eine Menge«, sagte Harun düster. »Mehr, als du dir vorstellen willst, Kind, glaub mir.«
Robin wurde immer wütender. Sie wollte Harun verletzen. Sie wollte ihm wehtun, obwohl sie wusste, dass er von allen hier im Haus gewiss am wenigsten für das konnte, was sich gerade unten im Hof abspielte. »Das glaube ich dir sogar!«, stieß sie zornig hervor. »Man hat mir gesagt, Ihr hättet eine hohe Kultur. Dass Ihr uns in mancherlei Beziehung ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen wärt. Was Grausamkeiten angeht, seid Ihr es ganz sicher, das bezweifle ich nicht!«
Harun schüttelte mit einem tiefen Seufzen den Kopf. »Ich weiß, dass das nicht deine wahre Meinung ist«, beharrte er. »Der Schmerz verschleiert dir die Sinne. Nehmt Ihr Christen etwa keine Sklaven?«
»Nein!«, behauptete Robin bestimmt. Aber ganz sicher war sie nicht.
Das Lächeln, das für einen Moment auf Haruns Lippen erschien, war so sanftmütig und verzeihend, dass Robin an sich halten musste, um ihm nicht mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. »Nun, darüber sollten wir ein andermal sprechen«, sagte er. »Aber wenn schon nicht an deine Gefühle, dann lass mich wenigstens an deine Vernunft appellieren, Christenmädchen. Was du gerade gesehen hast, ist nicht schön. Und doch: Einem Sklaven im Haus eines guten Herrn wird es hundertmal besser gehen als einem armen Fischer in einem heruntergekommenen Dorf, wo der Hunger täglich zu Gast ist, meinst du nicht auch?«
»Lieber würde ich hungern, als unfrei zu sein!«
»So kann nur jemand reden, der noch niemals wirkliche Not gelitten hat«, sagte Harun milde. Seine Sanftmütigkeit machte Robin schier rasend. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie wusste nicht, wie lange sie sich noch würde beherrschen können. »Ich selbst habe etliche Sklaven«, fuhr Harun fort, »und sie führen ein gutes Leben bei mir. Glaube mir, nicht einer von ihnen würde mich verlassen. Es ist mit einem Sklaven wie mit einem guten Pferd, und ein kluger Herr weiß das. Gehst du sorgsam mit ihnen um, dann sind sie treu und dankbar und leisten gute Arbeit.« Er lachte leise. »Und wenn man ein so weiches Herz hat wie ich, dann tanzen sie einem auch schon einmal gehörig auf der Nase herum.«
Robin starrte ihn aus flammenden Augen an. Dann drehte sie sich bewusst langsam herum, trat an den Vogelkäfig heran und öffnete ihn.
Harun sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, tat jedoch nichts, um Robin aufzuhalten, und auch Aisha machte nur einen erschrockenen halben Schritt und blieb mitten in der Bewegung wieder stehen, als ihr Herr eine rasche Geste mit der Hand machte.
Vielleicht war es auch nicht nötig, dass einer von beiden etwas tat, um Robin zurückzuhalten. Die beiden Vögel hatten aufgehört zu singen und von einer Stange auf die andere zu hüpfen. Sie starrten wie verdutzt auf die plötzlich offene Tür. Eines der Tiere hatte sich geduckt, als hätte es Angst. Robin blickte sie ihrerseits einen Moment lang völlig verdattert an, dann schlug sie wütend zwei-, dreimal mit der flachen Hand so hart an den Käfig, dass er von seinem Tisch zu stürzen drohte. Die beiden Vögel flogen erschrocken auf, flatterten durch die offen stehende Tür und durch das Fenster davon und waren verschwunden.
»Oh, Robin«, seufzte Harun. »Du hast ihnen damit keinen Gefallen getan.«
»Sie sind frei, oder?«
»Diese Tiere sind nicht aus diesem Teil des Landes«, antwortete Harun. »Sie werden es schwer haben. Wahrscheinlich werden sie den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben.« Er deutete auf einen Falken, der um das Minarett der nahen Moschee kreiste.
»Aber zumindest haben sie ihre Flügel noch einmal gebrauchen können«, erwiderte Robin trotzig.
»Um in den Tod zu fliegen«, sagte Harun. Er seufzte erneut. »Ich sehe schon, deine Ausbildung ist noch lange nicht zu Ende. Ich fürchte fast, sie hat noch nicht einmal richtig begonnen.«
Robin jubilierte innerlich. Endlich war es ihr gelungen, Harun zu erschüttern. Und mit dem grässlichen Schmerz, der noch immer in ihr wühlte, hatte sie Gefallen an diesem Gefühl gefunden. Mit erhobener Stimme wandte sie sich an Aisha: »Was ist mit dir, Aisha?«, fragte sie. »Willst du wirklich lieber den Rest deines Lebens mit einem goldenen Schleier vor dem Gesicht verbringen und diesem alten Mann zu Diensten sein, statt in Freiheit und unter dem Schutz eines christlichen Fürsten zu leben?«
Aisha schwieg und sah sie mit einem Ausdruck sonderbarer Trauer in den Augen an. Für einen Augenblick senkte sich eine fast beklommene Stille über den Raum, in den nur die Stimme des Versteigerers vom Hof hereindrang, der gerade einen Sklaven anpries. Schließlich gebot Harun Aisha mit einer Geste, den Schleier abzunehmen. Die Sklavin zögerte. Sie hob gehorsam die Hände ans Gesicht, doch ihre Finger zitterten, und der Blick, den sie Harun zuwarf, war fast flehend. Harun lächelte auf eigentümliche Weise und Robin konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Lächeln gleichzeitig eine Bitte um Vergebung war. Er wiederholte seine Geste und endlich kam Aisha dem Befehl nach. Ihre Hände zitterten immer stärker, als sie nach dem schweren, mit winzigen Goldplättchen geschmückten Schleier griff, der ihr Gesicht verhüllte.
Als sie ihn ablegte, stieß Robin einen erschrockenen Schrei aus. Sie prallte entsetzt zurück und stieß so heftig gegen den Vogelkäfig, dass er nun doch vom Tisch fiel und zerbrach. Aber das bemerkte sie kaum. Ihr Blick hing wie gebannt an Aishas Gesicht.
Unter dem goldbesetzten Schleier kam nicht das Gesicht jener exotischen Schönheit zum Vorschein, das der sinnliche Ausdruck in ihren wunderschönen Augen versprach, sondern nur eine grausam verwüstete Landschaft aus Narben und verbranntem Fleisch.
»Was...?«, stammelte Robin. Sie schlug die Hand vor den Mund, um einen weiteren Aufschrei zu unterdrücken.
Harun gab Aisha mit einer Geste zu verstehen, den Schleier wieder anzulegen, was sie auch hastig tat. In der gleichen Bewegung wandte sie sich um, als schämte sie sich des Anblickes, den sie bot. Robin war schockiert. Aishas Haltung passte so gar nicht zu der stolzen, anmutigen Frau, die sie manches Mal insgeheim bewundert hatte. Plötzlich begriff Robin, warum der Blick der Sklavin manchmal so leer erschien, als weilten ihre Gedanken in unerreichbarer Ferne.
Harun sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, ließ einen kurzen Moment verstreichen und wandte sich dann mit ernstem Gesicht und noch ernsterer Stimme wieder an Robin. »Es waren deine ruhmreichen, gütigen Christenfreunde«, sagte er. Der Klang seiner Stimme stand in krassem Gegensatz zur bitteren Wahl seiner Worte. Er sprach ganz ruhig, fast sanft. »Es war ein Ritter aus dem Gefolge des Rainald von Chatillion, des Fürsten von Oultrejordain, ein Kämpfer für Euren Glauben. Leisten Eure Ritter nicht den Eid, die Schwachen zu schützen?«
»Aber das... das...«, stammelte Robin.
»Aisha war seine Sklavin, als er ihr das angetan hat«, fuhr Harun unbeirrt fort. »Er wollte ihr Gewalt antun. Als sie sich wehrte, da nahm er eine Fackel und verbrannte ihr das Gesicht, damit kein anderer Mann Gefallen an dem haben sollte, was ihm verwehrt geblieben war. Du solltest wissen, dass ein guter Mensch zu sein nichts mit dem Glauben zu tun hat, Christin. Denke darüber nach. Das ist deine heutige Lektion.«