6. KAPITEL


Kaum war der Sklavenhändler gegangen, als sich der Wagen auch schon in Bewegung setzte. Er hielt erst wieder an, als es schon längst dunkel geworden war und die Karawane ihr Nachtlager aufschlug. Robin konnte nicht sagen, wie viele Stunden sie unterwegs gewesen waren. Ihr Zeitgefühl war so gründlich durcheinander geraten wie ihr gesamtes Leben. Wahrscheinlich hatte ihre erste Wegetappe nur wenige Stunden gedauert. Schließlich waren sie erst am späten Nachmittag aufgebrochen und nach allem, was sie von Salim erfahren hatte, schlugen Karawanen spätestens drei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit ihr Lager auf. Dennoch kam es Robin so vor, als wären Ewigkeiten vergangen.

Im Inneren des Wagens war es nicht ganz so dunkel, wie es ihr im ersten Moment erschienen war. Obwohl der Aufbau des Karrens aus stabilen Brettern gezimmert und rundherum geschlossen war, gab es genug Ritzen und Spalten, durch die Sonnenlicht hereinsickerte. So ließ sich zumindest feststellen, ob draußen noch Tag war oder bereits Dämmerung herrschte.

Schon nach kurzer Zeit war es in dem fensterlosen Verschlag unerträglich warm geworden und bis zum Abend hatte sich ihr Durst zu schier unerträglicher Qual gesteigert. Robin hatte eine Zeit lang mit den Fäusten gegen die geschlossene Tür gehämmert, geschrien und sogar versucht, das Schloss aufzutreten, aber das einzige Ergebnis ihrer Bemühungen waren neue, blutige Schrammen an ihren Händen und eine schmerzende Kehle. Lange bevor die Karawane wieder anhielt, lag sie zusammengekrümmt in einer Ecke des kleinen Verschlages und ihr Widerstand war an Durst, Fieber und Schüttelfrost gebrochen, die einander abwechselten.

Zuletzt fühlte sie sich elender als an dem Morgen, an dem sie in dem Zelt am Strand erwacht war. Sie war so geschwächt, dass sie im ersten Moment nicht einmal bemerkte, dass die Tür ihres Gefängnisses geöffnet wurde. Erst als ein frischer Windhauch über ihr Gesicht strich und ihre glühende Stirn kühlte, öffnete sie die Augen und blinzelte in das schwach erhellte Rechteck der Tür. Sie sah einen vagen Schemen, hinter dem ein einzelner heller Stern am Nachthimmel glühte. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, ihn eigentlich erkennen zu müssen, aber ihre Gedanken bewegten sich nur träge. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis sie den Umriss des Mannes erkannte, der sie hierher gebracht hatte.

»Wasser.«

Dieses eine Wort von den Lippen ihres Peinigers reichte aus, um Robins letzte Kräfte zu wecken. Mühsam richtete sie sich auf, kroch auf Händen und Knien zur Tür und wollte nach der Schale greifen, die er ihr hinhielt. Doch der Sklavenhändler zog die Hand rasch zurück und schüttelte den Kopf.

»Wirst du vernünftig sein?«, fragte er ruhig.

Robin war so durstig, dass sie ihm ohne zu zögern für einen einzigen Schluck Wasser ihre Seele versprochen hätte. Dennoch antwortete sie nicht gleich, sondern sah ihn nur verständnislos an, während sie sich mit der Zunge über die trockenen, rissigen Lippen fuhr. Es nutzte nichts. Auch ihre Zunge war so trocken wie das öde Hügelland, das sich hinter dem Schatten des Kriegers abzeichnete. Schließlich nickte sie.

Der Sklavenhändler sah sie noch einen Moment lang durchdringend und auf eine Art an, als wäre er nicht vollends von Robins Ehrlichkeit überzeugt, aber dann hielt er ihr die Schale hin. Sie riss sie ihm regelrecht aus den Händen und stürzte das Wasser mit großen, gierigen Schlucken herunter. Es war warm und hatte einen sonderbar bitteren Beigeschmack, aber in diesem Moment kam es ihr wie das Köstlichste vor, das sie jemals getrunken hatte. Sie leerte die Schale vollkommen und leckte auch noch den winzigsten Tropfen von ihrem Boden auf, ehe sie sie ihrem Gegenüber hinhielt. »Mehr«, verlangte sie mit rauer Stimme.

Er nahm die Holzschale entgegen, schüttelte aber den Kopf. »Das wäre nicht gut«, sagte er. »Du bekommst mehr, aber nicht sofort. Wenn du zu schnell trinkst, wird dir nur schlecht. Hast du Hunger?«

Robin nickte wortlos. Sie war enttäuscht. Sie hatte immer noch furchtbaren Durst, aber vermutlich hatte er Recht mit seiner Warnung. Mühsam kletterte sie aus dem Wagen und hielt sich einen Moment lang mit der Hand am Türrahmen fest, bis sie sich sicher war, dass sie aus eigener Kraft stehen konnte. Die Nachtluft, die ihr gerade so herrlich erfrischend vorgekommen war, erschien ihr nun eisig. Zitternd schlang sie die Arme um den Leib. Die Nachmittagsstunden über hatten in dem Wagen Temperaturen wie im Inneren eines Backofens geherrscht. Die Hitze hatte Robin alle Kraft geraubt, die sie in den letzten anderthalb Tagen zurückgewonnen hatte. Einen Gutteil der Zeit, die sie eingesperrt gewesen war, hatte sie damit zugebracht, die verschiedensten Fluchtpläne zu schmieden, aber schon der erste Schritt, den sie nun tat, machte ihr klar, dass eine Flucht jetzt noch weniger möglich war als während ihrer Zeit im Fischerdorf. Es gelang ihr nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft, mit ihrem Begleiter Schritt zu halten, obwohl dieser sehr langsam ging und sogar ein paar Mal stehen blieb, um ihr Gelegenheit zu geben, wieder zu ihm aufzuholen.

Das Verhalten des Arabers irritierte sie. Er hatte keinen Zweifel daran gelassen - weder mit Worten noch mit Taten -, dass er in ihr nichts anderes als seinen Besitz sah.

Etwas, das er gekauft hatte und mit dem er nach Gutdünken verfahren konnte. Und doch erschien er ihr rätselhaft. Bisweilen behandelte er sie grob wie ein Tier und dann war er wieder rücksichtsvoller als mancher so genannte Edelmann in ihrer Heimat.

Der Sarazene führte sie zu einem Feuer, das in der Mitte des in einer tiefen Senke aufgeschlagenen Lagers brannte, und wies ihr mit einer flüchtigen Geste einen Platz zu. Robin gehorchte wortlos. Sie sah nur einen Teil der Männer, die sie am Nachmittag gezählt hatte; vielleicht fünf oder sechs. Sie saßen in weitem Kreis um das Feuer herum und beobachteten sie mit teils interessierten, teils aber auch lüsternen Blicken. Robins Arabisch reichte nicht aus, um die halblauten Worte zu verstehen, die sie austauschten. Aber sie begriff sehr wohl die Bedeutung des rauen Lachens und der Gesten, die diese Worte begleiteten. Fast angstvoll sah sie sich nach dem Sklavenhändler um. Nicht, dass er sie gut behandelt hätte, aber zumindest hatte er ihr nichts angetan. Sie glaubte zu wissen, dass er ihr auch weiterhin nichts tun würde, wenn auch vielleicht aus anderen Gründen, als ihr lieb sein konnte.

Der Krieger hatte sich kurz entfernt, jetzt kam er zurück und reichte ihr eine weitere Schale mit Wasser sowie etwas Obst und trockenes Fladenbrot. Eingedenk seiner Warnung trank sie nur wenige Schlucke, obwohl sich ihre Kehle noch immer ausgedörrt anfühlte und sie die Schale am liebsten in einem Zug geleert hätte. Dann begann sie zu essen. Schon nach dem ersten Bissen bemerkte sie, wie hungrig sie war. Wie zuvor mit dem Wasser, so musste sie sich jetzt beherrschen, das Obst nicht hinunterzuschlingen und die wertvolle Nahrung mit beiden Händen in sich hineinzustopfen. Selbst als sie ihr Mahl beendet hatte, wollte ihr Hunger nicht weichen. Ihr Magen knurrte hörbar, was den Sklavenhändler zu einem flüchtigen Lächeln veranlasste. Sie sah ihn bittend an, erntete jedoch nur das erwartete Kopfschütteln. Sie war nicht wirklich enttäuscht. Sie hatte oft genug in ihrem Leben gehungert, um zu wissen, dass sich das Sättigungsgefühl erst nach einer Weile einstellen würde. Die Früchte, die er ihr gegeben hatte, waren Robin zum größten Teil unbekannt. Sie waren so süß und köstlich, dass sie sich fragte, ob sie wohl aus den paradiesischen Gärten stammten, von denen ihr Salim so gerne erzählt hatte.

»Du bekommst morgen mehr, bevor wir weiterziehen«, sagte er. Plötzlich lächelte er. »Entschuldige, doch in dieser rauen Gesellschaft hier haben meine Manieren gelitten.« Er deutete eine knappe Verbeugung an. »Mein Name ist Omar Khalid ben Hadschi Mustapha Khalid.«

Robin entschied, dass sie jetzt nicht in der Verfassung war, sich den ellenlangen blumigen Namen eines Heiden zu merken. »Wohin... bringt Ihr mich?«

Omars Gesicht verdüsterte sich für einen Moment, als hätte sie eine Frage gestellt, die ihr nicht zustand. Dann aber schüttelte er den Kopf und sagte: »Nach Hama.« Er deutete auf die dunklen Schatten der Berge. »Eine Stadt im Osten, jenseits des Djebel el-Alawia. Wenn alles gut geht, erreichen wir sie in vier Tagen. Hinter den Bergen erwartet uns noch ein Wüstenstreifen. Wir werden ihn im Licht der Sterne durchqueren und dann im Morgengrauen die Gärten von Hama erreichen.«

Robin hatte diese Namen noch nie gehört. Aber was bedeutete das schon? Sie kannte nur die Namen weniger großer Städte in diesem Teil der Welt, und sah man vielleicht von Jerusalem, Akko und Damaskus ab, so wusste sie außer den Namen nichts von diesen Orten.

»Wie heißt du?«, fragte der Sklavenhändler.

»Robin«, antwortete sie knapp.

»Und wie alt bist du?«

Mit der Antwort auf diese Frage tat sich Robin schwer. Sie hatte nicht gelernt, auf Arabisch zu zählen, und so nahm sie nach kurzem Überlegen die Finger zu Hilfe und bedeutete ihm, dass sie sechzehn war - was möglicherweise der Wahrheit entsprach. Tatsache war, dass sie es selbst nicht ganz genau wusste. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, zählte man die Jahre nicht so genau, denn Zeit spielte dort kaum eine Rolle, allerhöchstens der Wechsel der Jahreszeiten.

»Dann bist du kein Kind mehr«, stellte Omar fest. Ein dünnes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Nach dem, was ich im Dorf gehört habe, habe ich das sowieso nicht angenommen.«

»Was habt Ihr denn gehört?«, entfuhr es Robin. Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, bereute sie die Worte auch schon, denn sie hatte zumindest eines begriffen, nämlich dass es ihr in der Rolle, in der sie sich nun befand, nicht zustand, von sich aus das Wort zu ergreifen oder gar Fragen zu stellen. Ihr Gegenüber schien ihr diese kleine Verfehlung jedoch nicht übel zu nehmen, denn er lächelte plötzlich noch breiter und antwortete: »Dass du eine richtige kleine Wildkatze bist, die sich ihrer Haut zu wehren weiß.«

»Das war...«, begann Robin, wurde aber sofort und mit einer herrischen Geste unterbrochen.

»Du solltest Allah danken, dass wir dich mitgenommen haben«, sagte der Sklavenhändler. »Muhamed ist kein Mann, der verzeiht. Vor allem keine Schmach.«

»Muhamed?«

»Der Fischer, den du niedergeschlagen hast. Mir scheint, dir ist gar nicht klar, was du da getan hast.«

Robin hob die Schultern. Sie war sich bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte, doch Omars Worte ließen vermuten, dass er noch größer gewesen war, als sie bisher angenommen hatte.

»Von einer Frau in aller Öffentlichkeit niedergeschlagen zu werden...« Der Sklavenhändler schüttelte den Kopf. Er gab sich Mühe, ernst zu blicken, aber das Lächeln hatte sich unwillkürlich in seinem Mundwinkel eingenistet und verriet, wie sehr ihn die Vorstellung im Stillen amüsierte. »Du hast ihn der Lächerlichkeit preisgegeben, und das wird er niemals verzeihen. Glaub mir, Robin, er hätte dich bei der ersten Gelegenheit getötet. Wahrscheinlich hätte er es bereits heute Morgen getan, wäret ihr allein gewesen. Er hatte wohl nur Angst, sich den Zorn der anderen zuzuziehen.«

»Warum?«, fragte Robin.

»Weil du zu wertvoll bist, als dass er dich nur aus verletztem Stolz heraus hätte töten können«, antwortete Omar.

»Wertvoll?«

»Du warst ihr kostbarster Besitz«, erwiderte der Sklavenhändler. Jetzt lächelte er wieder ganz offen, aber seine Amüsiertheit hatte einen anderen Grund. »Du glaubst doch nicht, dass sie dich aus reiner Nächstenliebe gerettet haben?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe mehr für dich bezahlt als für den ganzen anderen Plunder, den sie aus dem Wasser gefischt haben.«

»Oh«, murmelte Robin. Zugleich fragte sie sich, warum sie diese Worte eigentlich so erschreckten. Jetzt, im Nachhinein betrachtet, ergab alles einen Sinn: die Blicke, mit denen der Fischer sie gemustert hatte, die Fürsorge, mit der man sich um sie gekümmert hatte - eine Fremde und noch dazu Angehörige eines Volkes, das mit den Bewohnern dieses Landes verfeindet war; und doch: Die Worte taten weh. Für einige wenige Stunden hatte sie geglaubt, dass es tatsächlich noch so etwas wie Menschlichkeit und Nächstenliebe in der Welt gab. Aber das war offensichtlich ein Irrtum gewesen.

Sie wollte eine weitere Frage stellen, aber in diesem Moment vernahm sie von der anderen Seite des Lagers aufgeregte Stimmen, wütende Rufe, trappelnde Schritte. Robin drehte den Kopf und spähte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, konnte aber in der Dunkelheit jenseits der Feuerstelle nichts erkennen. Auch der Sklavenhändler blickte auf. Mit einem Mal wirkte er angespannt. Er erhob sich jedoch nicht, um nach der Ursache des Lärms zu sehen, sondern machte nur eine befehlende Geste zu einem der Männer auf der anderen Seite des Feuers. Wortlos stand der Mann auf und eilte davon.

Omar wandte sich mit ernster Miene an Robin. »Es ist Zeit, dass du zurück in den Wagen gehst. Muss ich dich fesseln oder versprichst du mir, vernünftig zu sein?«

»Ihr meint, ob ich nicht versuche zu fliehen?« Robin schüttelte den Kopf. »Wohin sollte ich denn gehen?«

»In den Tod«, antwortete er. »Selbst wenn du entkämst, wäre es dein sicheres Ende. Es gibt hier in der Nähe zwar einen Fluss, aber ich werde dir nicht verraten, in welcher Richtung du ihn findest. Wohin wolltest du auch gehen? Zurück ins Fischerdorf?« Bei den letzten Worten spielte ein grausames Lächeln um seine Lippen. »Komm jetzt! Die Nacht ist kurz, und wir brechen noch vor Sonnenaufgang wieder auf.«

Der Lärm auf der anderen Seite des Lagers schwoll an, während sie zum Wagen zurückkehrten. Robin drehte ein paar Mal den Kopf und sah neugierig in die entsprechende Richtung, aber die Nacht war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen, das weiter als fünf oder sechs Schritte entfernt war. Sie hörte jetzt eindeutig aufgeregte Rufe. Es waren die Stimmen von drei oder vier Männern, die wütend durcheinander schrien, und eine weibliche Stimme. Oder war es die eines Kindes?

Plötzlich blieb Robin wie vom Schlag gerührt stehen. Obwohl sie ganz genau wusste, wie unmöglich es war: Sie hatte ihren Namen rufen gehört. Gleichermaßen überrascht wie berührt drehte sie sich um und wollte zurück, aber der Sklavenhändler versetzte ihr einen so derben Stoß, dass sie rückwärts taumelte und beinahe gestürzt wäre.

»Weiter!«, herrschte er sie an.

Wieder musste sich Robin mit aller Macht beherrschen, um sich nicht zu widersetzen oder seine Hand einfach zur Seite zu schlagen. Sie drängte den Impuls zurück, blieb jedoch noch einen Moment lang stehen und versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Die Schreie und der Lärm hielten an. Aber jetzt hörte sie nur noch wütende Männerstimmen und niemanden mehr, der nach ihr rief. Hatte sie sich das vielleicht nur eingebildet? Außer ihr und dem Sklavenhändler konnte hier niemand ihren Namen kennen. Vielleicht lag es an ihrer Schwäche und Müdigkeit...

»Los jetzt!«, befahl der Sklavenhändler. »Stell meine Geduld nicht zu sehr auf die Probe.«

Robin blickte erschrocken auf. Viel mehr als seine Worte warnte sie das zornige Beben seiner Stimme. Es fehlte nicht mehr viel und er würde sie schlagen oder ihr Schlimmeres antun.

Rasch wandte sie sich um und ging weiter; diesmal so schnell, dass er Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.

Hama war eine große, lärmende Stadt voller Menschen und brodelndem Leben - jedenfalls nahm Robin das an. Doch das Erste, was sie von der Stadt sah, war ein weiter, an allen Seiten von doppelt mannshohen, braunen Sandsteinmauern umgebener Innenhof, in dem der Wagen zum Stillstand gekommen war.

Selbst den Hof nahm Robin nur schemenhaft wahr, wie durch einen Schleier aus klarem Wasser, der sich vor ihren Augen bewegte. Es war vier Tage her, dass sie das letzte Mal wirklich Sonnenlicht gesehen hatte, denn sie hatte die gesamte Reise im Inneren des fensterlosen Wagens zugebracht. Nur abends hatte man sie für kurze Zeit aus ihrem Gefängnis befreit, damit sie essen und ihren körperlichen Bedürfnissen nachkommen konnte. Sie war nicht einmal sicher, ob es tatsächlich vier oder vielleicht auch mehr Tage gewesen waren. Irgendwann war ihr Zeitgefühl vollkommen erloschen und ihr Leben hatte nur darin bestanden, auf dem harten Boden in eine halbwegs erträgliche Lage zu rutschen und dem immer wiederkehrenden Fieber und dem ständigen Durst zu trotzen. Die Hitze, die sich tagsüber in dem kleinen Wagen staute, war schier unerträglich gewesen. Und obwohl sie gut verpflegt worden war, hatte sie weiter deutlich an Gewicht verloren.

Robin hob schützend die Hand über das Gesicht, denn das ungewohnte Sonnenlicht stach wie mit winzigen glühenden Nadeln in ihre Augen. Vorsichtig trat sie einen Schritt von dem Wagen zurück und drehte sich herum, als hinter ihr eine ärgerliche Stimme laut wurde. Es war nicht der Sklavenhändler selbst - von dem war weit und breit nichts zu sehen -, sondern einer der Männer, die sie abends am Lagerfeuer gesehen hatte. Robin verstand nicht, was er von ihr wollte, während er heftig mit beiden Händen gestikulierte und sehr verärgert wirkte. Hilflos hob sie die Schultern, und diese Geste war offenbar über alle Sprachbarrieren hinweg verständlich.

Der Araber trat wütend auf sie zu und packte sie so derb am Oberarm, dass Robin erschrocken die Luft einsog. Ihre Sammlung blauer Flecken, Schrammen und Hautabschürfungen hatte sich vermutlich gerade um ein weiteres Exemplar vergrößert. Mit der freien Hand streifte er ihr das Kopftuch über, das Robin in der Abgeschiedenheit des Wagens natürlich nicht getragen und auch jetzt nur lose über die Schultern gelegt hatte. Dann versuchte er, den Schleier vor ihrem Gesicht zu befestigen. Dabei stellte er sich ziemlich ungeschickt an. Seine groben Finger streiften ihre Wange und sie spürte seine raue und sonnenverbrannte Haut. Ein säuerlicher und zugleich scharfer Geruch entströmte ihr, und Robin musste gegen Übelkeit ankämpfen.

Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite, machte einen halben Schritt zurück und beeilte sich, den Schleier selbst zu befestigen. Seinem Blick nach zu urteilen war das Ergebnis nicht das, was er sich vorgestellt hatte, aber er schien sich dennoch damit zufrieden zu geben, denn er beließ es dabei, ungeduldig mit den Händen zu fuchteln und auf eine Tür hinter ihrem Rücken zu deuten. Robin drehte sich gehorsam herum, und nutzte die Gelegenheit, um noch einen raschen Blick in die Runde zu werfen.

Viel gab es indes nicht zu sehen. Der Hof war an drei Seiten von hohen, grob verputzten Mauern umschlossen. Der einzige Weg hinaus in die Gassen der Stadt war ein breites, aus soliden Balken gefertigtes Holztor, das sich hinter der kleinen Karawane bereits wieder geschlossen hatte. Die vierte Seite des Hofes wurde von einer Hauswand eingenommen. Zu ebener Erde gab es hier nur den einen niedrigen Eingang, auf den ihr Bewacher gedeutet hatte. Hinter der offenen Tür konnte sie nichts als Dunkelheit ausmachen. Die beiden oberen Geschosse des dreistöckigen Hauses besaßen zahlreiche vergitterte Fenster, aber diese waren so schmal, dass sie eher an Schießscharten erinnerten.

Kein unbedingt einladender Ort.

Die Stimme hinter ihr wurde nun lauter und deutlich ungeduldiger. Robin beeilte sich, zur Tür zu kommen, obwohl alles in ihr danach schrie, herumzufahren und davonzulaufen, ganz egal, wie aussichtslos ein Fluchtversuch auch sein mochte. Der Araber gab ihr ohnehin nicht die geringste Gelegenheit dazu; unsanft stieß er sie vorwärts und in einen dunklen Gang hinein, dann schlug er hinter ihrem Rücken die Tür zu. Robin hörte das ihr inzwischen vertraute Geräusch eines schweren Riegels, der vorgelegt wurde.

Von außen. Sie war wieder in einem Gefängnis.

Sogleich drang das ferne Plätschern von Wasser und leise, fremdartige Musik an ihr Ohr; außerdem war es so angenehm kühl im Haus, dass sich schon beinahe wohl zu fühlen begann. Allerdings nur so lange, bis sie das Knarren einer Tür am anderen Ende des Ganges hörte und gespannt darauf wartete, welche Art Peiniger sie nun hier erwartete.

Doch statt eines weiteren übel aufgelegten Gehilfen des Sklavenhändlers betrat eine alte, barhäuptige Frau den Korridor. Sie kam nicht näher, sondern blieb unter der Tür stehen und bedachte Robin mit einem Blick, der ihr gar nicht gefiel. Er war nicht einmal unfreundlich, doch die durchdringende, prüfende Art, mit der sie Robin musterte, ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Die Alte sah sie an, wie man einen neu erworbenen, kostbaren Besitz betrachten mochte, vielleicht auch ein edles Pferd, das man zu zähmen gedenkt. Schon dieser eine Blick reichte Robin, um zu wissen, dass sie von dieser Frau kein Mitleid oder gar Beistand erwarten konnte.

Die alte Frau war ein Stück kleiner als Robin und hatte strähniges, bis auf die Schultern fallendes graues Haar, das so dünn geworden war, dass hier und da schon ihre Kopfhaut durchschimmerte. Ihre Hände waren schmal und knochig, und Robin musste unwillkürlich an ein Skelett denken. Die Alte trat einen Schritt zurück und wieder durch die Tür hindurch, unter der sie gerade erschienen war. Dann winkte sie Robin, ihr zu folgen. »Komm«, befahl sie, mit einer Stimme, die trotz ihres stolzen Alters voller Kraft war.

Da Robin es sich nicht gleich im ersten Moment mit ihr verderben wollte, beschleunigte sie ihre Schritte und stieg gehorsam die Steintreppe hinauf, auf die die Alte gedeutet hatte. Sie führte an zwei Fenstern vorbei, die mit bunt bestickten Tüchern verhängt waren, sodass Robin nicht sagen konnte, ob sie auf die Straße oder nur einen weiteren Hof hinausgingen. Ein sonderbarer Geruch hing in der Luft: nicht unangenehm, aber fremdartig. Es duftete nach Gewürzen, Kräutern und anderen Dingen, die sie nicht zu benennen vermochte. Von ganz weit her glaubte sie Stimmen zu hören. Ein leises Wehklagen etwa? Aber Robin war sich nicht ganz sicher.

Auch im obersten Stockwerk gab es einen Flur mit zwei Türen. Robin wartete und lauschte auf den schlurfenden Schritt der Alten. Wortlos ging ihre Führerin an ihr vorbei und wählte die Tür auf der linken Seite. Sie schob den Riegel zurück und bedeutete Robin mit einer eindeutigen Gebärde einzutreten.

Robin hatte sich zwar fest vorgenommen, auf keinen Fall etwas Unüberlegtes zu tun, und doch... Die Gelegenheit war günstig. Ein altes Weib zu überwältigen sollte keine Mühe machen. Aber was dann? Wohin sollte sie sich wenden? Nein, es war klüger, sich zunächst in ihr Schicksal zu fügen. So trat sie schweren Herzens in die Kammer, die man ihr aufgeschlossen hatte, und erlebte eine Überraschung. Das Zimmer war kein Kerker, nein, es war das prächtigste Gemach, das sie jemals gesehen hatte. Ein Quartier, das eines Königs würdig gewesen wäre.

Der Raum war sehr groß und so hell, dass sie im ersten Moment blinzeln musste und ihre Augen zwei oder drei Herzschläge brauchten, um sich an das Licht zu gewöhnen. Der Boden bestand nicht mehr aus schlichten Steinplatten, sondern aus einem prächtigen schwarzweißen Mosaik. Die Wände waren mit wunderbaren Fresken bedeckt, die eine Jagd und Szenen im Garten eines Fürstenhofes darstellten.

Allein das mit goldschimmernden Vorhängen gesäumte Nachtlager war so groß wie die Hütte, in der Robin aufgewachsen war. Daneben lagen farbenfrohe Teppiche. Es gab auch ein hüfthohes Wasserbecken, das aus makellos weißem Stein geschnitten war und aussah wie eine große Muschel, die von Weinreben getragen wurde. Auf einem kleinen, achteckigen Tisch neben dem Bett lag ein versilberter Handspiegel und daneben standen bunte Tiegel mit seltsamen Pasten und ein kostbar geschnitzter Holzkasten, in dem feine Pinsel und Holzstäbchen aufgereiht lagen.

Doch mehr als all dieser Luxus beeindruckten Robin die großen Fensternischen, die an drei Seiten des Zimmers lagen. Es waren die ersten unvergitterten Fenster, die sie in diesem Haus sah. Bemüht unauffällig schlenderte sie zum nächstgelegenen Fenster. Von dort blickte man auf einen kleinen, gepflasterten Innenhof mit einem Brunnen. Er musste mindestens sieben Meter tief sein. Dieses Fenster brauchte keine Gitter! Wer dort hinuntersprang, würde sich die Beine brechen.

Enttäuscht drehte sich Robin um und begegnete dem spöttischen Lächeln der Alten. Ihre Kerkerwärterin schien ihre Gedanken erraten zu haben.

Robin ignorierte die Häme und deutete mit weit ausholender Geste auf die Einrichtung. »Das muss ein Irrtum sein«, sagte sie. »Das ist das Gemach einer Königin, nicht einer Sklavin.«

Versehentlich hatte sie nicht Arabisch, sondern in ihrer Muttersprache geredet, und natürlich verstand die alten Frau sie nicht. Sie wedelte unwillig mit beiden Händen und sagte etwas, das Robin ihrerseits nun nicht verstand. Sie überlegte kurz, dann wiederholte sie ihre Worte - so gut sie es eben konnte - auf Arabisch.

Die Antwort bestand diesmal aus einem Kopfschütteln und einer unwirschen Geste. Gleichzeitig deutete die Alte auf das Bett und einen dahinter stehenden Wandschirm.

»Ich verstehe nicht«, sagte Robin, die allmählich in Verzweiflung geriet.

Der Ausdruck von Ungeduld auf dem Gesicht der alten Frau verstärkte sich. Sie schloss die Tür hinter sich, trat dann mit zwei energischen Schritten auf Robin zu und zerrte an ihrem Gewand. Mit der anderen Hand deutete sie auf den Wandschirm.

»Ich soll mich ausziehen?«, vermutete Robin.

Die Alte nickte. Zumindest das hatte sie verstanden.

Robin sah sich suchend im Zimmer um. Die Pracht und der verschwenderische Überfluss lähmten ihre Gedanken, ihren Augen konnte sie jedoch sehr wohl trauen. »Aber hier sind keine anderen Kleider«, stellte sie fest.

Anscheinend hatte sie die Geduld ihrer Wärterin überschätzt. Die alte Frau antwortete nicht mehr, sondern riss ihr mit einer einzigen groben Bewegung Schleier und Tuch vom Kopf, warf beides zu Boden und funkelte sie herausfordernd an.

Robin hielt ihrem Blick stand. Mochte ihre Vernunft ihr auch einflüstern, dass sie sich äußerst unklug verhielt, so verlangten ihr Stolz und ihre Selbstachtung doch, dass sie nicht jede Demütigung einfach hinnahm. Sie brauchte diese alte Frau nicht zu fürchten. Dieses Mütterchen war ihr in keiner Beziehung gewachsen. Sie sollte es sein, die sich besser vorsah! Robin hatte zu oft um ihre Freiheit kämpfen müssen, um sie jetzt einfach wortlos aufzugeben und über Nacht eine fügsame Sklavin zu werden.

Und tatsächlich schien irgendetwas in ihrem Blick zu sein, eine Stärke und Entschlossenheit, die die Alte verunsicherte, ja vielleicht sogar erschreckte, denn nach nur einem Augenblick war sie es, die den stummen Zweikampf aufgab. Mit einem Ruck drehte sie sich herum und stürmte aus dem Zimmer. Robin hörte das Scharren des Riegels, der außen vorgelegt wurde, und dann schnelle Schritte, die sich entfernten.

Eine Zeit lang blieb sie noch stehen und blickte die geschlossene Tür an, halbwegs darauf gefasst, die alte Frau in Begleitung des Arabers zurückkommen zu sehen, um ihren Willen nun mit Gewalt durchzusetzen. Als alles still blieb, wandte sich Robin um und trat an das größte der Fenster ihres goldenen Käfigs.

Der Ausblick ließ sie alles vergessen, was sie noch vor einem Augenblick gedacht und gefühlt hatte. Sie befand sich in der zweiten Etage des Gebäudes, und das Fenster führte auf eine Stadt hinaus, die so gewaltig und so fremdartig war, dass Robin zunächst meinte, sie befände sich inmitten eines Märchens.

Mehr als ein halbes Dutzend schlanke, hohe Türme erhob sich über das Labyrinth aus Gassen. Sie waren mit bunten Kacheln verkleidet, die strahlend im Sonnenlicht glänzten. Einer der Türme schien ein Dach aus gleißendem Gold zu haben. Direkt daneben wölbte sich eine hohe, ebenfalls golden glänzende Kuppel, die zu einem Gebäude mit einem großen Innenhof gehörte.

Mitten durch die Stadt zog sich ein breiter, blaugrüner Fluss, den zwei weite Brücken überspannten. Bis zum Wasser waren es von Robins Gefängnis aus keine fünfzig Schritt. Entlang des Ufers drehten sich riesige hölzerne Wasserräder. Verwundert beobachtete Robin, wie die Räder Wasser zu hohen Brücken hinauf hoben, auf denen sich schmale Bäche stadtauswärts ergossen. Eine dieser Brücken erhob sich keine vier Schritt entfernt auf der anderen Seite der Gasse, an die ihr Gefängnis angrenzte. Den Boden der Gasse konnte sie von ihrem Fenster aus nicht sehen, denn zwischen den Hauswänden und den Pfeilern dieser seltsamen Wasserbrücke waren bunte Sonnensegel aufgespannt. Deutlich drang von dort das vielstimmige Gemurmel eines Marktplatzes hinauf und die Luft war schwer vom Duft fremdartiger Gewürze.

Etwas seitlich vom Markt, an einer weniger belebten Straße, lag ein prächtiges Haus, dessen Fassade aus Reihen von rotem und weißem Stein gefügt war. In seinem Hinterhof erhoben sich prächtige Bäume, auf deren ausladenden Ästen etliche weiße Tauben saßen.

Robins Blick glitt weiter zu der wuchtigen Zitadelle, die sich an die Stadtmauer anschloss. Dort konnte sie die türkisfarbenen Kuppeln eines Palastes erkennen. Jenseits der Stadtmauer erstreckten sich Palmgärten und Weizenfelder bis zum Horizont.

Robin hätte hinterher nicht sagen können, wie lange sie so dagestanden hatte, vollkommen versunken in das friedliche Bild der geschäftigen Stadt. Es musste wohl eine geraume Weile gewesen sein und sie hätte gewiss noch viel länger beim Betrachten des bunten Treibens verweilt, hätte das Geräusch des Riegels, unmittelbar gefolgt vom Scharren der unsanft aufgezerrten Tür, sie nicht aus ihren Gedanken gerissen. Erschrocken und seltsamerweise ein wenig schuldbewusst wandte sie sich um und sah sich wieder der Alten gegenüber. Robin hätte in ihrer Begleitung einen der Krieger erwartet und war deshalb umso verblüffter, als sie nun Omar Khalid, den Sklavenhändler höchstselbst, erblickte. Mit energischen Schritten trat er in den Raum, wedelte unwillig mit der Hand und starrte Robin ausdruckslos an, bis die Alte seinem stummen Befehl Folge geleistet und das Zimmer wieder verlassen hatte.

»Warum machst du dir selbst Schwierigkeiten?«, fragte er barsch.

»Ich mache keine...«, begann Robin, wurde aber sofort mit einer herrischen Geste unterbrochen.

»Naida sagte mir, dass du dich weigerst, ihr zu gehorchen.«

»Ich wollte nur nicht...«

Wieder unterbrach er sie, in ungeduldigerem Ton, in dem auch eine Drohung mitschwang. »Niemand will dir etwas antun, wenn es das ist, was du fürchtest, du dummes Kind.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Dazu bist du viel zu kostbar. Du wirst diese Fetzen ausziehen und zulassen, dass man dich wäscht und einen Menschen aus dir macht, hast du das verstanden?«

Robin hatte vielleicht nicht alle Worte verstanden, sehr wohl aber den Sinn dessen, was er ihr sagen wollte. Sie nickte wortlos und diese Geste der Demut schien dem Sklavenhändler zu gefallen. Jedenfalls verflog sein Zorn. »Wirst du vernünftig sein?«

Wieder nickte Robin, doch diese »Antwort« schien ihm nicht zu genügen. Ärgerlich zog er die Augenbrauen zusammen. Plötzlich drehte er sich mit einem Ruck herum und bedeutete ihr mitzukommen. »Ich bin nicht ganz sicher, was in deinem Kopf vor sich geht und ob du wirklich begriffen hast, in was für einer Lage du dich befindest«, begann er. »Deshalb möchte ich dir etwas zeigen. Folge mir.«

Sie verließen das Zimmer und stiegen die Treppen hinab bis ins Untergeschoss. Die alte Frau, die draußen vor der Tür gewartet hatte, folgte ihnen nicht. Beunruhigt hatte Robin ihr triumphierendes Lächeln registriert.

Omar schien sich der Folgsamkeit seiner Sklavin völlig sicher zu sein, denn er warf nicht einmal einen Blick über die Schulter zurück, um sich davon zu überzeugen, dass Robin ihm nachkam. Statt das Gebäude zu verlassen, wie Robin bereits erwartet hatte, brachte er sie zu einer Tür am anderen Ende der großen Halle. Dort führte eine steile Treppe in von rotem Fackellicht und erstickendem Gestank erfüllte Tiefen. Der Sklavenhändler machte nun eine herrische Geste, bedeutete ihr damit vorauszugehen, und folgte Robin dann so dichtauf, dass sie seine Atemzüge im Nacken spürte. Es war ein beklemmendes Gefühl, das ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Fast immer wenn Menschen ihr zu nahe gekommen waren, war das mit Bedrohung und Gefahr einhergegangen, und für diesen rätselhaften Mann schien das ganz besonders zu gelten.

Robin schien es, als schleppte Omar sie geradewegs in die Hölle. Die Treppe führte in einen großen, von deckenhohen Gitterwänden in mehrere Zellen unterteilte Keller. Ein Dutzend Fackeln brannten und verbreiteten nicht nur rötliches, flackerndes Licht, sondern auch erstickende Wärme und einen beißenden Qualm, der in der Kehle brannte und Robin die Tränen in die Augen trieb.

Vor den Zellen standen zwei bewaffnete Posten, die hastig Haltung annahmen, als sie sahen, wer hinter Robin die Treppe herabstieg. Hinter den Gitterstäben drängten sich Dutzende von bemitleidenswerten Gestalten. Robin erkannte einige von ihnen wieder; es waren die Sklaven, die sie schon bei der Karawane draußen in der Wüste gesehen hatte. Sie wirkten noch ausgemergelter und waren in einem Zustand, der Robin daran zweifeln ließ, dass alle den nächsten Morgen erleben würden. Einige waren mit Ketten aneinander gefesselt, was Robin bei der bejammernswerten körperlichen Verfassung dieser Menschen geradezu absurd erschien. Etliche lagen auf dem nackten Boden und rührten sich nicht, als hätten sie nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zu heben, oder wären bereits tot. Der Anblick ließ Robins Herz schmerzlich verkrampfen, und er machte sie zugleich ängstlich und zornig. Mit einer wütenden Bewegung drehte sie sich herum und fuhr den Sklavenhändler an: »Warum tut Ihr das? Warum tut Ihr das diesen Menschen an?«

»Weil ich es kann«, antwortete er mitleidlos. »Sie sind mein Besitz. Genau wie du.«

»Dann solltet Ihr besser auf Euren Besitz Acht geben«, antwortete Robin. »Sie werden sterben, wenn Ihr sie weiter so schlecht behandelt.«

»Einige, ja«, antwortete der Sklavenhändler ungerührt. »Der Marsch durch die Wüste hat die Schwachen von den Starken getrennt. Diejenigen, die auch noch die nächsten paar Tage hier unten durchstehen, die werden alles überleben, was ein Sklavenschicksal in den nächsten Jahren für sie bereithalten wird. Schon bald werden die Ersten auf dem Sklavenmarkt verkauft. Für die anderen lohnt die Mühe sowieso nicht.«

Robin war erschüttert. Nicht nur über die Worte allein, sondern viel mehr noch über die Kälte in seiner Stimme. Für Omar waren die Männer, Frauen und Kinder auf der anderen Seite der Gitterstäbe tatsächlich keine Menschen, sondern nur eine Ware, um die er sich nur insofern Sorgen machte, als dass sie seinen Gewinn schmälern würden, wenn er zu viele davon verlor. Sie fragte sich, wie sie jemals auch nur einen Hauch von Sympathie für diesen Mann hatte empfinden können. Er war kein Mensch, er war ein Ungeheuer.

Es waren Zorn und Wut, die ihr die Tränen in die Augen trieben, aber sie wusste, dass er sie falsch deuten würde, und drehte sich deshalb mit einem Ruck herum und zwang sich, den Blick noch einmal auf die bejammernswerten Gestalten jenseits der Gitterstäbe zu richten. Viele von ihnen starrten sie und ihren Begleiter an. In manchen Augen gewahrte sie ein stummes Flehen oder eine verzweifelte Hoffnung, in den allermeisten aber nur noch Resignation.

»Warum zeigt Ihr mir das?«, fragte sie.

»Weil ich glaube, dass du trotz allem ein vernünftiger Mensch bist«, entgegnete er. »Du hast die Wahl: Entweder wirst du Naidas Anweisungen gehorchen und dich fügen oder deine luxuriöse Unterkunft mit dem hier tauschen. Entscheide dich jetzt.«

»Sagtet Ihr nicht, dass ich wertvoll für Euch bin?«, fragte Robin bitter.

»Das stimmt«, sagte er. »Aber überschätze deinen Wert nicht. Du bist ein hübscher Bonus, das ist wahr. Aber so kostbar nun auch wieder nicht. Widersetzt du dich noch einmal oder machst du anderweitig Schwierigkeiten, wirst du hier heruntergebracht und in einem Monat auf dem Sklavenmarkt verkauft - falls du dann noch lebst.«

Seine Worte klangen nicht nach einer bloßen Drohung, und gerade das war es, was Robins Herz erneut mit Furcht erfüllte. Er sagte das nicht nur, um sie einzuschüchtern. Er meinte es bitter ernst. Sie antwortete nicht laut, sondern nickte nur, und ihm schien es zu genügen, denn er seufzte zufrieden. Als Robin zu ihm hochsah, winkte er ihr mit der Hand, dass sie ihm folgen sollte. Sie drehte sich gehorsam herum und trat hinter ihn, doch gerade, als sie schon gehen wollten, erscholl im hinteren Teil des Verlieses ein schriller Schrei, und diesmal war Robin sicher, dass sie ihren Namen hörte.

Und sie wusste sogar, wer es war, der ihn rief.

So schnell, dass sie den erschrockenen Wachen zuvorkam, die sie aufzuhalten versuchten, fuhr sie herum und rannte den schmalen Gang zwischen den Gitterstäben entlang. Der Schrei ertönte abermals, fast ein Kreischen jetzt, und Robin rannte so schnell, dass sie auf den letzten Schritten ins Stolpern kam und vor der Tür des hintersten Verschlages auf die Knie fiel.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Und dennoch verstand sie nicht, was sie sah. Sie versuchte nicht einmal, es zu begreifen. Dort in dem Kerker war Nemeth. Das Mädchen stand auf der anderen Seite des Gitters, hatte die Hände um die rauen Stäbe geschlossen und blickte sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit an, die Robin erneut die Tränen in die Augen steigen ließ. Die Kleine war so abgemagert und blass wie alle anderen hier, und ihre Haut starrte vor Schmutz. Ihr Kleid war zerrissen und ihr ehemals hübsches Gesicht von der Sonne verbrannt und an vielen Stellen verschorft. Sie rief ununterbrochen Robins Namen und rüttelte dabei mit aller Kraft an den Gitterstäben. Dann war eine der Wachen heran, riss Robin mit einer derben Bewegung an der Schulter zurück und schlug zugleich Nehmet so fest mit der Faust auf die Finger, dass das Mädchen mit einem gellenden Schmerzensschrei zurücksprang.

Mit einer wütenden Bewegung fuhr Robin herum, schlug die Hand des Wachpostens zur Seite und funkelte den Sklavenhändler an, der ihr gefolgt war.

»Warum habt Ihr das getan?«, fragte sie. Das drohende Glitzern in den Augen ihres Gegenübers entging ihr nicht, aber sie konnte sich nicht mehr beherrschen.

Plötzlich war es ihr gleichgültig, was mit ihr geschehen mochte. Nur noch mit Mühe konnte sie sich davon zurückhalten, sich auf den Sklavenhändler zu stürzen und so lange mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen, bis er wusste, wie sich seine hilflosen Gefangenen fühlen mochten. »Wieso habt Ihr sie mitgenommen? Dieses Mädchen ist keine Sklavin!«

»Jetzt schon«, antwortete er ruhig. »Ihre Familie wollte mich betrügen.«

»Und da habt Ihr...« Robin verstummte mitten im Satz, drehte sich wieder herum und ließ ihren Blick erneut über die Gesichter auf der anderen Seite der Gitterstäbe wandern. Im ersten Moment war sie nicht ganz sicher - für sie sahen die meisten Muselmanen so fremdartig aus, dass es ihr schwer fiel, sie zu unterscheiden -, aber dann entdeckte sie ein Gesicht, das sie nur zu gut kannte.

»Saila!«, entfuhr es ihr.

Die Angesprochene sah hoch, aber auch in ihrem Blick waren nur noch Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Einen Augenblick lang sah sie Robin wortlos an, dann erhob sie sich auf Hände und Knie, kroch zu Nemeth hinüber und schloss das weinende Kind in die Arme.

»Ihr... Ihr habt sie alle mitgenommen?«, murmelte Robin. »Das ganze Dorf?«

»Ich schätze es nicht, betrogen zu werden«, antwortete der Sklavenhändler kalt. »Ich habe ihnen einen fairen Preis geboten und wir waren uns einig. Aber sie haben versucht, mich zu hintergehen, und so musste ich mir nehmen, was mir von Rechts wegen zusteht.«

»Zusteht?«, flüsterte Robin. »Ihr...«

Sie sprach nicht weiter, nicht aus Furcht. Das Entsetzen über das, was sie sah und gerade erfahren hatte, schnürte ihr einfach die Kehle zu. Vielleicht hatten Abbé, Horace und die anderen Ritter ja Recht, dachte sie. Vielleicht waren die Menschen in diesem Teil der Welt ja tatsächlich die Ungeheuer, als die sie sie so oft beschrieben hatten. Barbaren, die sich hinter prachtvollen Gewändern und in Städten voller unvorstellbarem Luxus versteckten, die tief im Inneren aber nicht besser waren als wilde Tiere.

Robin achtete nicht auf die ungeduldige Gebärde des Sklavenhändlers und trat wieder dichter an das Gitter heran. Zum zweiten Mal ließ sie sich auf die Knie sinken und streckte den Arm durch die Stäbe nach Nemeth aus.

Das Mädchen starrte sie nur angsterfüllt an. Es weinte lautlos und auch über das Gesicht ihrer Mutter liefen Tränen. Nach ein paar Augenblicken machte Nemeth eine Bewegung, als wollte sie sich aus den Armen ihrer Mutter lösen und zu ihr kommen, aber Saila umklammerte sie nur noch fester, und schließlich zog Robin enttäuscht den Arm zurück und stand auf.

»Ich werde dir helfen«, sagte sie. »Das verspreche ich.«

»Du solltest nichts versprechen, was du nicht halten kannst, dummes Kind«, sagte der Sklavenhändler. »Weißt du nicht, dass falsche Hoffnungen das Schlimmste sind, was man einem Menschen antun kann? Und jetzt komm. Strapazier meine Geduld nicht über die Maßen.«

Ich werde dir helfen. Robin wagte es nicht, die Worte laut auszusprechen, aber sie dachte sie mit solcher Intensität, dass sich etwas davon wohl in ihrem Blick spiegeln musste, denn das Letzte, was sie in Nemeths Augen las, bevor sie sich herumdrehte, war eine neu aufkeimende, jähe Hoffnung und ein so verzweifeltes Flehen, dass ihr der Anblick schier das Herz brach. Sie würde sich jetzt nicht weiter widersetzen, aber in Gedanken wiederholte sie ihr lautloses Versprechen noch einmal, als sie die Treppe hinaufstiegen, um wieder in ihren goldenen Käfig zurückzukehren, und es war gewiss keine leere Versprechung. Jetzt hatte sie noch einen Grund mehr, einen Ausweg aus diesem Albtraum hier zu finden.

Robin leistete keinen Widerstand mehr und war innerlich auf das Schlimmste vorbereitet, nachdem man sie auf ihr Zimmer zurückgebracht hatte. Es mochte seitdem eine Stunde vergangen sein, bis Naida in Begleitung zweier jüngerer Frauen wiederkam.

Was konnte man ihr schon noch antun, dachte Robin verbittert, was ihr nicht bereits angetan worden war? Hätte sie ehrlich über diese Frage nachgedacht, dann hätte die Antwort vermutlich gelautet: eine ganze Menge. Man konnte sie töten. Man konnte sie foltern. Man konnte sie weiter erniedrigen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, bereits so tief gestürzt zu sein, wie es nur ging. Es gab nichts, was man ihr noch wegnehmen, keinen Schrecken, mit dem man sie noch ängstigen konnte. Sie würde schweigend alles erdulden, was immer das Schicksal noch für sie bereithielt, und währenddessen still auf ihre Gelegenheit warten.

Zunächst jedoch widerfuhr ihr nichts Schlimmeres, als dass Naida ihr mit groben Gesten befahl, sich zu entkleiden. Robin gehorchte, woraufhin eine der beiden jüngeren Sklavinnen ihr Gewand nahm und damit das Zimmer verließ. Die andere brachte eine Schale mit frischem Wasser, weiche Tücher und ein Stück wohlriechender Seife, mit der sie Robin von Kopf bis Fuß wusch, als wäre sie ein kleines Kind, das nicht allein dazu in der Lage war. Naida stand die ganze Zeit schweigend dabei und sah mit verdrießlichem Gesicht zu. Offensichtlich war sie mit dem Ergebnis der Bemühungen nicht zufrieden, denn sie sagte ein paar grobe Worte, und die Sklavin begann erneut mit ihrer Prozedur. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Robin herausfand, dass alles, was Naida sagte, irgendwie grob klang, jedoch längst nicht immer so gemeint war.

Die Seife roch köstlich und fühlte sich so wunderbar auf der Haut an, dass Robin noch stundenlang dieses Gefühl hätte genießen wollen. Aber schließlich war das Wasser eiskalt, und als Naida endlich zufrieden gestellt war und dies mit einem angedeuteten Nicken kundtat, da zitterte sie am ganzen Leib und sah sich suchend nach einer Decke um, in die sie sich wickeln konnte. Naida verzog spöttisch das Gesicht und klatschte in die Hände. Die Sklavin nahm die Wasserschale und ging damit hinaus, und nur einen Augenblick später kehrte die andere Frau zurück. Über dem Arm trug sie ordentlich zusammengefaltete Kleider, in der rechten Hand hielt sie ein Paar zierlicher mit Perlen bestickter Pantoffeln, die aus dünnen goldfarbenen Schnüren geflochten waren, und in der anderen einen zusammengeschnürten Leinensack. Naida nahm ihr beides ab, warf die Kleider und Schuhe achtlos aufs Bett und schnürte den Beutel auf. Robin beobachtete misstrauisch ihr Tun, doch die Alte zog keine Folterwerkzeuge hervor, sondern nur einige weitere, kleinere Beutel und Säckchen sowie schmale Streifen eines weißen Tuches.

Sie winkte Robin heran, befahl ihr, sich herumzudrehen. Dann begutachtete sie ausführlich ihre auf dem ganzen Körper verteilten Kratzer und Verletzungen. Die meisten davon waren harmlos, aber Robin mutmaßte, dass zwei oder drei der Wunden tief genug waren, um hässlich zu vernarben. Naida untersuchte all ihre Verletzungen gründlich, kratzte hier und da mit dem Fingernagel ein wenig Schorf ab. Es tat weh, aber Robin biss tapfer die Zähne zusammen und gab nicht den mindesten Laut von sich. Schließlich begann die Alte, die unterschiedlichsten Tinkturen und Salben aus ihren Beutelchen hervorzuholen und auf die Verletzungen aufzutragen. Manches brannte wie Feuer, das meiste aber war kühl und tat gut. Robin ließ es gerne mit sich geschehen, dass Naida ihr zwei neue Verbände anlegte.

Als sie endlich fertig war, schielte Robin verlangend nach den Kleidern, die auf dem Bett lagen. Sie fror so erbärmlich, dass sie mittlerweile am ganzen Leib zitterte, obwohl die Sonne mit großer Kraft durch das Fenster hereinschien und es im Zimmer eher zu warm als zu kalt war. Offensichtlich hatte sie immer noch ein wenig Fieber, und ihr Körper protestierte mit Nachdruck gegen die grobe Behandlung, die sie ihm seit Wochen zuteil werden ließ. Doch Naida schüttelte nur den Kopf, schob sie am ausgestreckten Arm ein Stück von sich weg und begutachtete sie von Kopf bis Fuß, so wie ein Maler, der gerade ein Bild fertig gestellt hatte, aber nicht ganz zufrieden mit seiner Arbeit war.

Die Alte deutete auf die Narbe an Robins Kehle, sagte etwas, das sich wenig freundlich anhörte, und griff dann nach Robins Arm. Ihr Daumen grub sich so derb in Robins Oberarm, dass sie schmerzerfüllt die Luft einsog. Robin brauchte ihre Worte gar nicht zu verstehen, denn die Miene der alten Frau ließ ihre Missbilligung deutlich erkennen. Es war nicht schwer zu erraten, was sie sagen wollte. Körperlich hatte sich Robin im Verlauf des zurückliegenden Jahres endgültig vom Mädchen zur Frau entwickelt und mit ihrem Gesicht und ihrer Figur konnte sie sich ohne Weiteres mit den allermeisten anderen Frauen messen, denen sie begegnet war - auch wenn ihre Rundungen weniger üppig ausfielen als bei den meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen. Schlimm stand es jedoch um ihre Frisur, die gewiss praktisch war, wenn man einen schweren Topfhelm trug, doch nüchtern betrachtet alles andere als damenhaft aussah.

Schließlich war sie auch nicht zur Hofdame erzogen worden! Stattdessen hatte sie Reiten, Bogenschießen und Schwertkämpfen gelernt. Salim hatte sie gnadenlos geschunden, weil er ahnte, was ihnen bevorstehen würde, und das Ergebnis seiner Bemühungen war nicht zu übersehen. Unter ihrer glatten, seidenweichen Haut hatte Robin Muskeln, die so stark wie die eines Mannes waren, und ganz offensichtlich gefiel dieser Umstand Naida nicht besonders. Eine Weile murmelte sie kopfschüttelnd und verdrießlich vor sich hin, dann drehte sie sich herum und gestikulierte mit der Hand. Sogleich begann die Sklavin, ihr zu helfen, die fremdartigen Kleider richtig anzulegen. Als Letztes schlüpfte Robin in die Sandalen.

Die Kleider bestanden aus wenig mehr als nichts. Wenn sie im Sonnenlicht stand, mussten sie beinahe durchsichtig sein, sodass man den Umriss ihres Körpers darunter in allen Einzelheiten erkennen konnte, und auch die flachen Schuhe dienten deutlich mehr der Zierde als dem Schutz. Die Sohlen waren so dünn, dass sie die Kälte des Bodens darunter spüren konnte. Trotzdem war das Zittern verschwunden. Sie hatte sogar das Gefühl, nicht mehr ganz so schrecklich zu frieren wie noch vor einem Augenblick, auch wenn ihr natürlich klar war, dass das nur Einbildung sein konnte.

Sie sah an sich herab und strich bewundernd mit den Fingern über den glatten, seidenweichen Stoff des Gewandes. Naida nahm sie bei der Schulter und führte sie zur anderen Seite des Zimmers, wo sie in dem kleinen Wasserbecken ihr Spiegelbild bewundern konnte.

Fassungslos starrte Robin das Bild an, das sich ihr bot.

Seit sie Salim kennen gelernt hatte, war der junge Tuareg nicht müde geworden, ihr immer wieder zu versichern, dass sie eine der schönsten Frauen sei, denen er jemals begegnet war, aber natürlich hatte sie das für Schmeichelei gehalten. Worte, die Männer Frauen eben sagten, um das zu bekommen, was Männer im Allgemeinen von Frauen haben wollen. Jetzt aber, als sie vor dem Becken stand und sich selbst betrachtete, fragte sie sich zum ersten Mal, ob er vielleicht Recht hatte. Ihr Gesicht wirkte noch immer ein wenig blass und kränklich, und ihr Haar hatte mehr als nur eine Wäsche nötig, um seinen früheren Glanz zurückzuerlangen, und dennoch weckte ihr Spiegelbild in ihr den Eindruck, einer Fremden gegenüberzustehen.

Man hatte ihr eine Hose angelegt! Das männlichste aller Kleidungsstücke. Und doch war diese Hose anders als die, welche sie kannte. Der Stoff war zart wie ein Windhauch und durchscheinend. Man hatte ihn mit stilisierten goldenen Rosenblüten und Blättern bestickt. Die Hosenbeine waren weit und warfen im Schritt so viele Falten, dass vor neugierigem Blick verborgen blieb, was verborgen bleiben sollte.

Dennoch fühlte sich Robin zunächst unwohl in diesem Kleidungsstück, denn sie hatte das Gefühl, nackt zu sein. Ihre Brüste waren unter einem eigenartigen kurzen Wams aus Brokatstoff verborgen, das nicht einmal bis zu ihrem Rippenbogen reichte. Darüber trug sie einen offenen, durchscheinenden Kaftan, der aus ähnlichem Stoff wie die Hose gefertigt war. Ihre Taille blieb auf diese Weise nackt, was in der Hitze dieses Wüstenlandes jedoch nicht unangenehm sein mochte.

Um das Bild zu vervollkommnen, hatte man ihr einen schweren Gürtel aus silbernen Münzen angelegt und einen dünnen Seidenschal um den Hals geschlungen, der ihre Narbe verbarg. Je länger Robin ihr Spiegelbild betrachtete, desto besser gefiel es ihr. Zum ersten Mal seit weit über einem Jahr durfte sie wieder eine Frau sein.

Der Silbergürtel lag schwer auf ihren Hüften, fast als hielten sie dort sanfte Männerhände umschlungen. Ein warmes, wohliges Gefühl nistete sich in ihrem Bauch ein. Sie konnte kaum fassen, dass wirklich sie das Mädchen sein sollte, das sie dort im Becken sah, und sie ertappte sich bei dem heimlichen Wunsch, dass Salim sie einmal in diesen Gewändern zu sehen bekam.

Die alte Araberin ließ ihr hinlänglich Zeit, ihr Spiegelbild im Becken zu bewundern. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie entschied, dass es genug war. Dann ergriff sie Robin am Handgelenk, um sie zurückzuziehen. Mitten in der Bewegung fuhr sie erschrocken zusammen. So stand sie einen Augenblick wie vom Blitz gerührt. Schließlich hob sie Robins Hand und führte sie dicht vor die Augen, so als könne sie nicht glauben, was sie gesehen hatte.

»Was hast du?«, fragte Robin.

Die Alte reagierte nicht. Stattdessen betrachtete sie stirnrunzelnd und mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf dem Gesicht den Ring, den Salim Robin angesteckt hatte. Was immer sie darin sah, es schien ihr ganz und gar nicht zu gefallen. Schließlich versuchte sie, Robin den Ring abzustreifen, aber diese ballte die Rechte zur Faust, riss sich los und machte zwei Schritte rückwärts.

»Nein!«, stieß sie hervor. »Der gehört mir.«

Naida schien erbost über ihren Widerspruch. Erneut ergriff sie Robins Handgelenk, aber Robin schüttelte nur noch heftiger den Kopf, riss sich abermals los und rief noch einmal: »Nein! Eher lasse ich mir die Hand abhacken!«

»Das wird wohl nicht nötig sein.«

Robin fuhr erschrocken herum und blickte ins Gesicht des Sklavenhändlers. Er war hereingekommen, ohne dass sie es auch nur bemerkt hatte, und sie fragte sich ganz automatisch, wie lange er schon dastand und sie beobachtete. Sein Gesicht hatte den gewohnten finsteren Ausdruck, aber zumindest der Zorn, den sie vorhin im Kerker darauf gelesen hatte, war verflogen.

»Hat dein Ring Naida erschreckt?«, fragte er.

Robin wich einen weiteren Schritt zurück und presste die Hand mit dem Ring schützend an die Brust, der Araber indessen ließ sich davon nicht beirren. Mit einem einzigen Schritt war er bei ihr, packte sie grob am Unterarm und riss sie zu sich heran. Dann zwang er ihre Finger auseinander und zog ihr das unscheinbare Schmuckstück ab. Robin wollte danach greifen, aber ein einziger drohender Blick aus seinen schwarzen Augen sorgte, dass sie mitten in der Bewegung erstarrte.

»Das ist ein einzigartiges Stück«, sagte er, nachdem er den Ring eine Weile interessiert, jedoch ohne den besorgten Ausdruck, den sie bei Naida bemerkt hatte, betrachtet hatte. »Woher hast du ihn?«

»Er gehört mir!«, sagte Robin.

»Das habe ich nicht gefragt«, antwortete der Sklavenhändler. »Ich will wissen, woher du ihn hast!«

»Von einem Freund«, antwortete Robin. »Bitte gebt ihn mir zurück. Er ist völlig wertlos. Nur ein Andenken, aber das Letzte, das ich an ihn habe.«

»Nur ein Andenken, so?« Der Sklavenhändler verzog spöttisch die Lippen. »Es muss ein sehr guter Freund gewesen sein, wenn er dir ein so kostbares Andenken schenkt. Es ist pures Gold.«

»Ich möchte ihn behalten«, sagte Robin. »Bitte.«

Das letzte Wort kam ihr so schwer über die Lippen, dass es wohl selbst dem Sklavenhändler auffiel, denn er hörte auf, den Ring in den Fingern zu drehen, und sah sie einen Moment lang mit auf die Seite gelegtem Kopf an. Sie wusste, dass sie von diesem Mann keine Gnade und schon gar kein ritterliches Verhalten zu erwarten hatte. Wenn er ihr den Ring wegnehmen wollte, dann würde er das tun, und alles Bitten und Flehen würden ihr nicht helfen. Wahrscheinlich würde er ihn schon allein deshalb behalten, weil sie ihn darum gebeten hatte. Robin verfluchte sich in Gedanken dafür, es überhaupt getan zu haben.

Omar sah sie noch immer nachdenklich an, dann schloss er die Faust um den schmalen Goldring und wandte sich mit einer Frage an Naida. Die alte Araberin antwortete, woraufhin der Sklavenhändler die Schultern hob und die Hand wieder öffnete, um den Ring erneut zu betrachten. Naida wandte sich von ihrem Herrn ab. Sie streifte Robin mit einem Blick, der ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Die Templerin wusste nicht, woher das Gefühl kam, aber irgendwie ahnte sie, dass Naida ihrem Herrn nicht die Wahrheit gesagt hatte, was diesen Ring anging.

»Ein Andenken an einen Freund also«, sagte der Sklavenhändler nachdenklich. »Gut, dann magst du ihn behalten, solange du tust, was man von dir verlangt.«

Robin musste sich mit aller Gewalt beherrschen, um den Ring nicht an sich zu reißen, als er ihr die Hand entgegenstreckte. So ruhig, wie es ihr möglich war, nahm sie den Ring, streifte ihn wieder über den Finger und schloss schützend die Faust darum. Der Sklavenhändler sah ihr wortlos zu. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber Robin meinte ein sonderbares Glitzern in seinen Augen wahrzunehmen, wobei sie nicht sicher war, ob es sich um einen Ausdruck von Spott oder Herablassung handelte.

»Danke«, sagte sie.

»Du wirst gleich zu essen bekommen«, erklärte Omar, ohne noch weiter auf den Ring einzugehen. »Für den Rest des Tages magst du dich ausruhen, aber schon morgen früh wirst du anfangen, unsere Sprache besser zu lernen.« Er deutete auf die alte Frau. »Naida ist eine ausgezeichnete Lehrerin, wenn auch manchmal etwas ungeduldig. Tu, was sie von dir verlangt, und es wird dir gut gehen. Wenn sich erweist, dass du es wert bist, wird noch ein weiterer Lehrer kommen, der dich in die Dinge unterweist, die eine Frau wissen sollte.« Der Sklavenhändler lächelte anzüglich. »Im Übrigen werde ich nach einem Heilkundigen schicken, der sich deine Wunden ansehen soll. Du siehst ja aus, als sei eine Herde wilder Pferde über dich hinweggetrampelt.«

»Zu gütig«, murmelte sie leise.

»Versteh mich nicht falsch. Ich habe einen Namen zu verlieren und kann es mir nicht leisten, dass man mir nachsagt, ich hätte meine Kunden mit schadhafter Ware oder schlimmer noch... Gütern aus zweiter Hand beliefert.« Damit drehte er sich herum und wollte das Zimmer verlassen, aber Robin rief ihn noch einmal zurück. »Herr?«

Der Sklavenhändler blieb stehen, drehte sich widerwillig herum und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Was ist denn noch?«

Robins Herz begann zu pochen. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie dabei war, einen schweren Fehler zu begehen. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage hätte sie jetzt ebenso gut gefesselt und halb verhungert bei den anderen Sklaven unten im Keller sein können. Sie war vermutlich gut beraten, wenn sie den Bogen nicht überspannte und das Schicksal, das es so unerwartet gut mit ihr gemeint hatte, nicht noch zusätzlich auf die Probe stellte. Dennoch fuhr sie mit leiser, fast unterwürfiger Stimme fort: »Darf ich noch eine Bitte äußern?«

Auf dem Gesicht ihres Gegenübers war deutlich abzulesen, wie sehr Robin seine Geduld strapazierte. Dennoch nickte er knapp und Robin fuhr fort: »Nemeth. Das... das Mädchen aus dem Fischerdorf. Erinnert Ihr euch? Ihr habt sie mitgenommen.«

»Und?«

»Ich... würde sie gerne besuchen«, sagte Robin. »Vielleicht nur... ab und zu.«

Der Sklavenhändler dachte einen Moment über ihre Bitte nach, dann machte er eine Bewegung, von der sie nicht ganz sicher war, ob sie ein Nicken oder ein Kopfschütteln darstellte. »Wenn deine Pflichten es zulassen«, sagte er.

Und damit ging er endgültig.

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