Kurz nach Einbruch der Dämmerung erschien Naida in Robins Zimmer und befahl ihr mit groben Worten, ihr zu Omar zu folgen. Sie wirkte noch verbitterter als sonst, ihre Stimme kälter, und der Zorn in ihrem nicht zugeschwollenen Auge noch brennender. Robin registrierte all dies sehr wohl, aber sie hütete sich, eine Frage zu stellen. Sie hätte viel darum gegeben, auch nur einen Augenblick mit Naida zu reden, ihr zu erklären, wie unendlich Leid ihr alles tat und dass sie selbst wohl am meisten unter Omars Grausamkeit litt, der anderen Schmerzen zufügte, um sie zu bestrafen. Aber sie wagte es nicht, die alte Sklavin darauf anzusprechen. Als sie jedoch das Zimmer verlassen wollte, versperrte Naida ihr die Tür und starrte sie so hasserfüllt an, dass Robin einen halben Schritt zurückwich.
»Ich dachte, Omar Khalid erwartet mich«, sagte sie, nachdem die Sklavin eine ganze Weile einfach nur dagestanden und sie auf diese unheimliche Art gemustert hatte.
Naidas Kiefer mahlten. Robin sah ihr an, dass sie mit den folgenden Worten rang, dass sie einfach nicht mehr die Kraft hatte, sie zurückzuhalten.
»Dich hat der Sheitan geschickt, Unselige!«, murmelte Naida. »Du bringst Unglück und Tod über dieses Haus.«
»Ich habe es nicht freiwillig betreten«, erwiderte Robin. Fast schämte sie sich dieser Worte. Statt Naida um Vergebung für all das Unglück zu bitten, das sie ihretwegen erleiden musste, griff sie sie nun ihrerseits an. Doch erging es ihr nicht anders als der alten Sklavin: Sie hatte ihre Worte nicht zurückhalten können.
Naida sah sie lange und mit einem undeutbaren Ausdruck im Gesicht an. Dann fragte sie ganz leise: »Welchen Zauber hast du auf Omar Khalid gelegt, Ungläubige?«
»Zauber?«
»Er ist nicht mehr er selbst, seit er mit dir aus der Wüste zurückgekehrt ist.« Plötzlich war aller Hass, alle Verbitterung aus ihrer Stimme verschwunden. Sie klang traurig, und der Schmerz, den Robin jetzt in ihren Worten hörte, war nicht mehr körperlicher Natur. »Welches Gift hast du ihm in seinen Becher gemischt? Noch nie war er in eine Frau verliebt wie in dich. Auch wenn er schon so viele Frauen besessen hat.«
Robin fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sie weigerte sich zu glauben, was die Alte ihr sagte. Verliebt? Aber das war doch grotesk! Und doch: Da war eine Ahnung, ganz tief unten am Grunde ihrer Seele, wohin sie sie verbannt hatte, um sich diesem völlig aberwitzigen Gedanken nicht stellen zu müssen.
»Er ist nicht einmal unglücklich darüber, dass du heute nicht verkauft worden bist«, fuhr Naida fort. »Und das trotz der Drohung des Assassinen.«
»Aber... es war doch nur ein einzelner Mann«, murmelte Robin. Doch innerlich überschwemmte sie ein Sturm sich widersprechender Gefühle.
»Nur ein einzelner Mann?« Naida lachte hämisch. »Die Assassinen haben schon Sultane und Wesire inmitten ihrer Paläste getötet, und im Herzen ihrer Heere. Sie haben es gewagt, sich mitten im Feldlager in das Zelt Saladins zu schleichen und ihn mit dem Tod bedroht, wenn er es wagen sollte, ihre Burg Masyaf anzugreifen. Wenn es nicht Liebe ist, was sollte meinen Jungen dann dazu bringen, sich mit den Söhnen Ismaels anzulegen, wo er doch genau weiß, dass es seinen sicheren Tod bedeutet.«
»Naida, ich versichere dir, dass...«, begann Robin, wurde aber sofort wieder von Naida unterbrochen, die eine herrische Geste mit der unverletzten Hand machte. Ihre Stimme bebte jetzt wieder vor Hass. »Du gehörst doch auch zu dieser verfluchten Schattenbrut! Warum bist du noch hier, wenn nicht um Omar ins Verderben zu reißen?«
»Aber, wie sollte ich denn...?«
Wieder wurde sie unterbrochen. »Ihr versteht euch doch darauf, eins mit der Finsternis zu werden und an jeden Ort zu gelangen«, behauptete Naida. »Warum rufst du nicht deinen verfluchten Zauber an und fliegst einfach davon?«
»Naida, bitte!«, sagte Robin mühsam. »Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Was dir meinetwegen angetan wurde, ist mehr, als ich jemals wieder gutmachen kann. Aber du irrst dich. Für deinen Herrn bin ich nicht mehr als ein kostbarer Besitz, den er möglichst gewinnbringend verkaufen will. Wenn er mich wirklich lieben würde, dann hätte er dir das nicht angetan - und er hätte den armen Jungen ganz gewiss nicht verstümmeln lassen.«
Naida lachte verbittert. »Was er mir angetan hat, war nichts gegen die Strafe, die ich eigentlich verdient hätte für meinen Verrat. Und was Rustan angeht... Omar lässt alle Jungen von hübscher Statur und schönem Gesicht zu Eunuchen machen. Das war schon so, bevor du hergekommen bist, und das wird auch noch so sein, wenn du längst fort bist. Falls wir dann noch am Leben sind.«
»Alle Jungen? Aber wieso?«
»Weil sich ihr Wert dadurch vervielfacht, du dummes Ding«, antwortete Naida verächtlich. »Und er in dem Franken einen Heilkundigen gefunden hat, der sich so gut auf die Kunst der Entmannung versteht, dass nur noch einer von zwei Knaben stirbt, statt acht von zehn, wie vorher.«
»Dennoch ist es unbeschreiblich grausam!«, rief Robin, aber Naida wischte auch diese Antwort mit einer zornigen Handbewegung weg.
»Grausam? Glaubst du denn, er hätte ihn nur bestraft, um dich zu treffen? Wofür hältst du dich? Es war genau anders herum. Nur, um dir zu gefallen, hat er die Knaben im Keller verschont. Und hättest du nicht diesen närrischen Aufstand angezettelt, dann hätte er gewiss keinen einzigen der Jungen kastrieren lassen - obwohl er dadurch viel Geld verliert.«
Robin fühlte sich immer verwirrter und hilfloser. Es wäre leicht gewesen, sich selbst einzureden, dass Naida all das nur sagte, um sie zu quälen. Aber es entsprach nicht der Wahrheit.
»Ich warne dich, Ungläubige«, fuhr Naida fort. »Du wirst den Liebesbann, den du auf meinen Herrn gelegt hast, wieder aufheben, oder es wird dich selbst das Leben kosten. Glaub nur nicht, dass ich nichts als ein hilfloses altes Weib bin.«
»Was willst du tun?«, fragte Robin ruhig. »Mich töten?«
Naida nickte grimmig. »Ich bin bei einem heiligen Mann gewesen und weiß, wie man einen Schatten töten kann«, sagte sie. »Nur der Schmerz, den ich Omar damit zufügen würde, hat mich bisher davon abgehalten. Aber wenn du mir keine andere Wahl mehr lässt...«
Robin fuhr ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie fürchtete sich nicht vor Naida. Schon mehr als einmal war sie in Lebensgefahr gewesen und die meisten der Gegner, deren sie sich hatte erwehren müssen, waren keine hilflosen, kranken alten Frauen wie Naida gewesen. Aber was sie erschauern ließ, war dieser aus Furcht geborene Hass.
»Jetzt komm!«, befahl Naida. »Mein Herr hat darauf bestanden, dich in seinem eigenen Gemach zu empfangen. Und vergiss meine Worte nicht. Ich werde dich im Auge behalten.«
Zutiefst verwirrt folgte Robin der alten Sklavin auf den Flur hinaus. Naida hatte ihr Zimmer allein betreten, draußen aber wurden sie von Omars ganz in Schwarz gekleidetem Leibwächter Faruk empfangen. Der Anblick hatte schon fast etwas Vertrautes und dennoch musterte Robin den hünenhaften Krieger mit neuem Interesse. Der schwarz gekleidete Araber, der sie im Auftrag Sheik Raschid es-Din Sinans hatte erwerben wollen, war deutlich kleiner und von schmalerem Wuchs als Faruk gewesen, aber dieser Hüne hielt keinem Vergleich mit Arslan stand. Den Assassinen hatte eine fast körperlich spürbare Aura umgeben, als trüge er über seinem schwarzen Kaftan einen zweiten unsichtbaren Umhang des Unheimlichen und der Bedrohung.
Der Krieger und Naida führten sie die Treppe hinab in einen Teil des weitläufigen Gebäudes, in dem sie noch nie gewesen war. Die sauber verputzten Wände waren mit einer Unzahl von Wandteppichen und Bildern, aufgehängten Waffen, Fahnen und Schilden verziert und der Boden war ein kunstvolles Mosaik, auf dem jeder ihrer Schritte ein helles Echo hervorrief. Omars Zimmer lag ganz am Ende des Flures, in den sie geführt wurde. Faruk trat zur Seite und nahm mit vor der Brust verschränkten Armen neben der Tür Aufstellung; ein sicherer Hinweis darauf, dass er nicht mit hineingehen würde. Aber Naida eilte voraus und öffnete die Tür, ohne sich die Mühe zu machen, anzuklopfen. Da Robin ihr keine Gelegenheit geben wollte, sie wieder anzufahren, beeilte sie sich, der alten Sklavin zu folgen.
Sie hatte eine prachtvolle Einrichtung erwartet, weißen Marmor mit sprudelnden Zimmerspringbrunnen und goldenen Möbeln; wie in einem jener Märchenpaläste, von denen Salim ihr so oft erzählt hatte. Der Raum, in dem sie sich befand, war jedoch deutlich kleiner als Robins eigenes Zimmer eine Etage höher. Im Gegensatz zu diesem waren seine Fenster vergittert und der einzige Schmuck an den Wänden war eine riesige Sammlung von Dolchen, Säbeln und verschieden geformten Schilden. Auf dem Boden lag ein dicker, kunstvoll geknüpfter Teppich, unter dessen Rändern das gleiche kostbare Mosaik wie draußen sichtbar wurde, und die Möblierung war zwar spärlich, aber von erlesenem Geschmack. Direkt neben der Tür stand eine große Truhe aus dunklem Holz mit Einlegearbeiten aus Muschelkalk, vielleicht auch Perlmutt. Von der Decke hing eine große Lampe aus Messing mit mehreren Armen, die in brennenden Dochten endeten. Ein angenehm warmes Licht erfüllte den Raum.
Omar saß auf dem Boden auf einem Lager aus Kissen. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, und seitlich von ihm stand ein niedriges Tischchen, auf dem Robin eine Schale mit getrockneten Datteln erblickte. Der Anblick ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie hatte seit der misslungenen Versteigerung weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen und vor lauter Aufregung auch vorher den ganzen Tag über praktisch nichts gegessen. Entsprechend groß war ihr Hunger. Ihr Magen knurrte hörbar, und Robin spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg.
Naida fuhr herum und funkelte sie an, als hätte sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, brachte Omar sie mit einer raschen Geste zum Schweigen und deutete aus der gleichen Bewegung heraus auf das freie Kissen neben sich. Er machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden, um Robin anzusehen, und als sie - Naidas hasserfüllte Blicke nicht beachtend - zu ihm ging, um seiner Aufforderung Folge zu leisten, sah sie, dass seine Augen geschlossen waren. Auf seinem Gesicht lag ein so entspannter, ruhiger Ausdruck, wie sie ihn bisher selten darauf gesehen hatte.
»Bedien dich, Kind«, sagte er, nachdem sie Platz genommen hatte. »Bist du hungrig?«
Robin hob nur die Schultern - obwohl Omar die Bewegung nicht sehen konnte, war sie sicher, dass er sie wahrnahm -, aber sie musste sich zugleich beherrschen, um nicht gierig nach den Datteln in der hölzernen Schale zu greifen. Daneben standen ein schwarz-rot bemalter Tonkrug sowie drei tönerne Becher im gleichen Muster: Auf einem zweiten, etwas kleineren Tischchen neben diesem erhob sich ein zierlicher Käfig aus dünnen Rohrstangen, ähnlich dem, den Omar ihr vor zwei Tagen geschickt hatte. Nur, dass sich darin keine Singvögel, sondern eine große, fast schon hässliche graue Taube befand.
»Ich habe Euch das Christenmädchen gebracht«, sagte Naida überflüssigerweise.
»Das ist gut«, antwortete Omar. Er öffnete immer noch nicht die Augen, aber ein sonderbar sanftmütiges Lächeln erschien auf seinen Lippen - als spürte er Naidas Feindseligkeit ganz genau und verzeihe sie ihr auf der Stelle. »Jetzt sei so lieb und geh und suche Harun al Dhin. Er muss noch im Haus sein. Richte ihm aus, ich würde mich freuen, seine Gesellschaft zu genießen.«
Naida gehorchte, wenn auch nicht ohne unter der Tür noch einmal rasch den Kopf zu wenden und Robin einen eindeutig drohenden Blick zuzuwerfen. Denk an meine Worte.
Robin konnte sich nun nicht mehr beherrschen. Sie griff zu, nahm gleich drei der getrockneten Datteln auf einmal und schlang die erste so gierig herunter, dass sie sich daran verschluckte und einen kleinen Hustenanfall bekam. Während sie mühsam nach Atem rang, öffnete Omar nun doch die Augen und maß sie mit einem Lächeln, das ebenso sonderbar war wie das, mit dem er soeben auf Naidas Worte reagiert hatte.
»Nimm, so viel du willst, aber iss langsam, Robin. Ich lasse dir später noch zu essen bringen. Es tut mir wirklich Leid. Ich hätte dich nicht damit bestrafen sollen, dass ich dich hungern lasse wie einen störrischen Welpen, der dem Befehl seines Herrn nicht gehorchte.«
Allmählich war Robin wieder zu Atem gekommen. Sie nahm rasch eine zweite Dattel in den Mund und kaute sie langsam und mit großer Sorgfalt; weniger, weil Omar es ihr geraten hatte, sondern um Zeit zu gewinnen. Das sanfte Lächeln, mit dem er sie maß, wirkte durchaus ehrlich. Und es verwirrte sie vollkommen. Sie konnte sich nicht erinnern, Omar jemals in einer so sanftmütigen Stimmung erlebt zu haben. Zweifellos war es nur ein Trick, irgendeine neue Teufelei, die er sich ausgedacht hatte, damit sie sich in Sicherheit wog, um falsche Hoffnungen in ihr zu wecken und sie dann nur umso härter zu treffen.
Omar sagte nichts mehr, sondern sah sie nur an, und nach einer Weile schluckte Robin den Bissen herunter, auf dem sie mittlerweile so lange herumgekaut hatte, bis er völlig geschmacklos geworden war. Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: »Es tut mir Leid, Herr.«
»Was?« Omar runzelte die Stirn.
»Mein Benehmen«, antwortete Robin. »Ich hätte... ich hätte mich nicht so aufführen dürfen. Ich habe es nur getan, weil ich Angst hatte, und...«
»... und um mir zu schaden«, unterbrach sie Omar. Trotz dieser Worte lächelte er. »Aber das ist mir doch klar.«
»Und Ihr... Ihr seid nicht zornig auf mich?«
»Natürlich bin ich das«, sagte Omar, und diese Worte klangen keineswegs überzeugend. »Aber ich kann dich zugleich auch verstehen. Vielleicht hätte ich nicht anders gehandelt, wäre ich an deiner Stelle gewesen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich nicht bestrafen.«
Robin ließ die Hand mit der dritten Dattel, die sie schon an die Lippen geführt hatte, wieder sinken und sah Omar Khalid mit einer Mischung aus Unglauben und schuldbewusstem Misstrauen an. »Obwohl ich Euch in so große Gefahr gebracht habe?«
»So große Gefahr?« Omar schüttelte lachend den Kopf, drehte sich im Sitzen halb herum und goss eine dunkelrote Flüssigkeit aus dem Tonkrug in zwei Becher. »Wer sagt einen solchen Unsinn? Ich konnte mein Geschäft nicht abschließen, aber das gefährdet allerhöchstens meine Bilanz. Und es ist noch lange nicht vorbei. Sie werden wiederkommen, und vielleicht erhöht sich mein Gewinn dann sogar noch.«
»Aber ist es nicht genau das, was Ihr fürchtet?«
Omar reichte ihr einen der Becher und führte den zweiten an die Lippen. Ohne zu trinken, sah er sie aus schmalen Augen an. »Warum sollte ich das fürchten?«
»Die Assassinen«, antwortete Robin. »Die Söhne Ismaels. Sie werden zurückkommen und dann...«
»Wer hat dir davon erzählt?«, unterbrach sie Omar.
Robin schwieg.
»Naida«, sagte Omar düster.
»Nein!« Robins Antwort kam ein wenig zu schnell, um überzeugend zu wirken. »Sie hat nur...«
»Dieses törichte alte Weib!«, murrte Omar. Er wirkte zornig. »Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat, aber es war zweifellos übertrieben. Sie ist nur eine alten Frau, die Unsinn redet und sich darin gefällt, dir mit wilden Geschichten Angst einzujagen.«
»Aber sie hat gesagt...«
»Was immer sie gesagt hat, es war zu viel und es war nicht wahr und zweifellos hoffnungslos übertrieben«, fiel ihr Omar ins Wort. »Ich werde sie auspeitschen lassen.«
»Nein, bitte nicht!«, sagte Robin heftig. »Es war meine Schuld. Bitte, Herr, Ihr dürft Naida nicht bestrafen. Sie wollte nichts sagen, aber ich habe so lange auf sie eingeredet, bis sie es schließlich doch getan hat. Wahrscheinlich habt Ihr Recht. Sie hat nur irgendetwas erzählt, damit ich Ruhe gebe.«
Omar trank einen Schluck, leckte sich nachdenklich über die Lippen und musterte sie plötzlich wieder mit diesem seltsam warmen Lächeln in den Augen. Dann stellte er den Becher auf den Tisch zurück und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Robin. Ich versuche es, aber es gelingt mir einfach nicht. Naida ist nicht deine Freundin, das ist dir doch klar?«
»Sie hat schon zu viel erleiden müssen, meinetwegen«, sagte Robin. »Ich will nicht, dass Ihr sie bestraft.«
»Weißt du, dass sie mich allein heute zweimal gebeten hat, dich zu töten?«, fragte Omar.
Nein, das hatte Robin natürlich nicht gewusst. Sie erschrak. Sie hatte geahnt, dass Naida sie inzwischen hasste, aber nicht, wie weit dieser Hass ging. Dennoch schüttelte sie den Kopf. »Ihr dürft ihr nichts antun«, beharrte sie.
»Verstehe einer euch Christen. Ist das jetzt eines eurer christlichen Gebote? Liebe deine Feinde?«
»Vielleicht.«
»Dann frage ich mich, warum andere wie du mit Feuer und Schwert in unser Land kommen, um uns zu vernichten«, sagte Omar. »Aber gut, wenn dir so viel daran liegt, dann verspreche ich dir, dass ich Naida nicht bestrafen werde.«
Um sich ihre nächsten Worte überlegen zu können, hob Robin den Becher und trank einen winzigen Schluck. Er enthielt einen schweren, süßlichen Wein, der ausgezeichnet schmeckte. Aber schon nach dem allerersten Schluck ließ er sie leicht schwindeln. Sie hatte zeit ihres Lebens so gut wie keinen Alkohol zu sich genommen, nur das eine oder andere Mal war ihr nichts anderes übrig geblieben weil außer Bier oder Wein nichts zu trinken da und sie durstig gewesen war. »Dieser Mann, Asef Arslan, der heute hier war... Ist er wirklich ein Assassine?«
Omar nickte.
»Und dann sitzt Ihr so ruhig hier und trinkt Wein mit mir? Obwohl Euch ein Meuchelmörder mit dem Tod gedroht hat?«
Omar zuckte nur mit den Schultern und murmelte: »Inschallah.«
»Dann habt Ihr beschlossen, hier auf den Tod zu warten«, vermutete Robin. Allmählich kam ihr Omars Ruhe schon fast unheimlich vor. Vielleicht war es gar keine Ruhe, sondern Fatalismus.
»Ich glaube, es war einer eurer Kriegsherren, der einmal den Spruch geprägt hat: Kenne deine Feinde«, erwiderte Omar. »Die Assassinen sind weit fort. Ihr Hauptquartier ist in der Burg Masyaf, weit weg in den Nosairi-Bergen. Mehr als einen Tagesritt entfernt. Selbst wenn Arslan Hama noch heute verlassen hat... Es ist Neumond. Bei völliger Dunkelheit in den Bergen unterwegs zu sein mag einem Schatten vielleicht möglich sein, doch Pferde brechen sich dabei die Beine. Arslan wird unter günstigsten Umständen vielleicht im Morgengrauen seinen Sheik erreichen. Und selbst wenn Raschid es-Din Sinan tatsächlich mit seinen Männern nach Hama kommt, so kann er frühestens morgen hier sein. Wohl eher übermorgen.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Die Soldaten des Statthalters werden wohl kaum in aller Ruhe zusehen, wie Scharen von Assassinen in Hama einreiten. Viel wichtiger jedoch ist, dass ich dann nicht mehr hier sein werde. So wenig wie du. Zur Stunde wird in der Karawanserei am Damaskus-Tor eine Karawane für uns zusammengestellt, mit der wir noch im Morgengrauen die Stadt verlassen werden. Das heißt, wir werden einen ganzen Tag Vorsprung haben, wenn der Alte vom Berge wirklich hierher kommt. Was ich im Übrigen nicht glaube.«
Den letzten Satz schien er eher zur eigenen Beruhigung zu sagen.
»Die Assassinen«, fragte Robin, »wer sind sie?«
»Hat dir Naida das nicht gesagt?«, gab Omar mit einem angedeuteten Lächeln zurück.
Robin nickte mit großem Ernst. »Doch«, sagte sie. »So wie auch Harun und Nemeth. Sie haben viel geredet, aber im Grunde hat mir niemand wirklich etwas gesagt.«
»Weil niemand gern über die Hashashin spricht«, sagte Omar. »Das ist ihre stärkste Waffe, weißt du? Ich will nicht behaupten, dass sie ungefährlich sind, aber viel gefährlicher als ihre Schwerter und ihr Gift ist die Furcht, die sie in die Herzen der Menschen säen.«
»Und wer genau sind sie nun?«
»Das ist ein großes Geheimnis«, antwortete Omar nachdenklich. »Manche halten sie für Geister, die nur die Gestalten von Menschen angenommen haben, um sich zu tarnen, andere für eine Bande von Meuchelmördern, die sich in den Bergen verkrochen hat und dort ihre Intrigen spinnt. Was immer man jedoch über sie erzählt, letzten Endes sind sie Menschen, keine Dschinn. Sie sind gefährlich, aber nicht unbesiegbar. Asef hat versucht, mich einzuschüchtern, und beinahe wäre ihm das auch gelungen. Ich bin dir dankbar, dass du mich letzten Endes davon abgehalten hast, mich der Furcht zu beugen, mit der er mich erpressen wollte.«
»Und wenn Sheik Sinan und seine Männer wirklich kommen?«
Omar schüttelte - und diesmal wirkte er wirklich überzeugt - den Kopf. »Raschid ist kein Narr«, sagte er. »Er ist ein mächtiger Mann, vor dem selbst Könige und Heerführer zittern, aber er ist kein Dummkopf. Er wird keinen Krieg vom Zaun brechen, um eines Mädchens willen, das er gar nicht kennt... Das ist doch so, oder?«
»Ich weiß nicht genau, warum Ihr das fragt«, sagte Robin.
»Dein Ring.«
Robin stellte vorsichtig den Becher zu Boden, um sich den Ring vom Finger zu streifen, aber Omar schüttelte nur den Kopf.
»Ich habe ihn mir lange genug angesehen«, sagte er. »Mich interessiert nicht, wie er aussieht oder welchen Wert er hat. Mich interessiert, von wem du ihn hast.«
»Von einem Freund«, antwortete Robin.
»Das hast du nun schon mehrmals gesagt, und ich glaube es dir«, sagte Omar. »Aber wer war dieser Freund? Was hat er gesagt, als er ihn dir gegeben hat, und warum? Wie war sein Name?«
»Salim«, antwortete Robin.
Noch während sie den Namen aussprach, kam es ihr wie ein Verrat vor, als gäbe sie damit das letzte Geheimnis preis, das sie und Salim noch vor dem Rest der Welt und vor allem vor Omar Khalid gehabt hatten.
Omar dachte einen Moment lang angestrengt über diesen Namen nach, bevor er erneut ein Kopfschütteln andeutete. Nachdenklich trank er einen Schluck Wein. »Nun, das ist ein Allerweltsname, hierzulande. Wer war er? Wo hast du ihn getroffen, und warum hat er dir diesen Ring gegeben?«
»Er war der Diener eines... Edelmannes.«
»Edelmann?« Omar war das winzige Stocken in ihren Worten nicht entgangen. »Was für ein Edelmann?«
»Ein Ritter«, antwortete Robin ausweichend. Sie sah Omar nicht an, denn sie fürchtete, dass er in ihren Augen lesen konnte. »Salim war sein Diener, so, wie ich seine... Dienerin. Als Abbé mich fand, da war ich sehr, sehr krank.«
»Krank?«
»Verletzt.« Robin hob die Hand und legte die Finger auf die dünne, aber deutlich sichtbare Narbe an ihrer Kehle. »Bruder Abbé und vor allem Salim waren es, die mich gesund gepflegt haben.«
»Dann war es die Wahrheit, als du heute Nachmittag behauptet hast, du seist nur ein einfaches Bauernmädchen.« Omar nippte wieder an seinem Wein. Seine Worte hatten nicht wie eine Frage geklungen, sondern wie die Bestätigung eines lang gehegten Verdachts. Er klang auch nicht zornig. Nicht einmal wirklich enttäuscht.
Robin nickte nur. »Abbé hat mich gesund gepflegt und zu sich genommen. Er hat sich um mich gekümmert wie um eine Tochter...«
»Und dieser Salim zweifellos wie um eine Schwester«, sagte Omar spöttisch.
»Ja«, antwortete Robin. »Wenigstens am Anfang. Aber später...«
»Ich kann mir denken, wie die Geschichte weitergeht.« Omar seufzte. »Später habt ihr euch ineinander verliebt. Du kannst es ruhig zugeben. Auch ich bin aus Fleisch und Blut und ich habe Augen im Kopf. Dieser Salim müsste schon ein Dummkopf gewesen sein, wenn er nur die Schwester in dir gesehen hätte. Weißt du, wer er war?«
»Nein«, antwortete Robin wahrheitsgemäß. Noch vor wenigen Tagen hätte sie voller Überzeugung behauptet, sie wüsste es, aber mittlerweile... Nein. Sie müsste nur die Augen schließen, um Salims Gesicht vor sich zu sehen, seine Stimme zu hören und die Berührung seiner Hände zu spüren... Aber jetzt... Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dann müsste sie zugeben, dass sie nicht wusste, wer er war. Sie konnte nicht einmal sagen, er habe sie belogen. Er hatte einfach kaum über sich geredet. Über Outremer, die Wüsten und seinen Glauben, über Allah - über all das hatte er gerne gesprochen. Doch über sich hatte er stets Schweigen bewahrt. Vielleicht stimmte nicht einmal der Name, den er ihr genannt hatte, dachte Robin plötzlich - aber selbst wenn, würde das keinen Unterschied machen.
»Salim und ich haben Abbé begleitet, als er zusammen mit seinen Brüdern auf das Kreuzfahrerschiff ging«, fuhr Robin fort. »Als wir dann angegriffen wurden, hat Salim mir den Ring gegeben und gesagt, er würde mich beschützen, sollten wir getrennt werden und ich in Gefahr geraten.«
»Damit hat er die Wahrheit gesagt«, sagte Omar.
»Ich weiß«, sagte Robin. »Aber damals wusste ich es nicht. Ich dachte, es wäre nur ein Andenken. Ich... glaube einfach nicht, dass Salim ein Assassine ist.«
»Das muss er auch nicht sein«, sagte Omar. Er dachte einen Moment nach. »Ein Assassine, der am Hof eines christlichen Ritters dient?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist schwer vorstellbar. Wahrscheinlicher ist, dass er diesen Ring irgendwo gestohlen oder auch gefunden hat.« Er lachte leise. »Vielleicht wusste er nicht einmal selbst genau, was er bedeutete - nur, dass er seiner Liebsten fernab der Heimat nützlich sein könnte.«
»Aber dazu müsste er doch das Geheimnis des Ringes kennen!«
Omar schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Er hat vielleicht ein paar Gerüchte über Schutzringe aufgeschnappt - aber dass er sie in Zusammenhang mit den Assassinen gebracht hat, ist unwahrscheinlich. Selbst ich weiß kaum etwas über die Geheimnisse dieser gefährlichen Brut, da sie meist nur aus dem Verborgenen zuschlägt.«
»Und obwohl Ihr sie für so gefährlich haltet, reizt Ihr sie bis aufs Messer?«, fragte Robin, teilweise aus wirklicher Neugier, viel mehr aber, weil sie damit von Salim ablenken konnte. »Was, wenn Arslan schon einen Attentäter in der Stadt hat? Meuchler schicken in der Regel keine Armeen aus.«
Omar zuckte gelassen mit den Schultern. »Das stimmt«, sagte er. »Doch ganz gleich, was man über die Assassinen erzählt, letzten Endes sind sie auch nur Menschen aus Fleisch und Blut.« Er deutete auf das vergitterte Fenster. »Niemand, der nicht wirklich ein Geist ist, käme dort herein, und vor der Tür steht der treueste Wächter, den ich mir nur wünschen kann. Glaub mir, mein Kind, nicht einmal der Alte vom Berge selbst, dem ängstliche Weiber wie Naida magische Kräfte nachsagen, würde es schaffen, unbemerkt in dieses Zimmer zu gelangen.«
»Und wenn er von Eurem Plan weiß, Hama zu verlassen?«
»Man merkt, dass du am Hofe eines Ritters aufgewachsen bist«, lobte Omar. »Eines Kreuzritters, da bin ich jetzt fast sicher. Aber keine Angst.« Er deutete auf den Taubenkäfig. »Niemand kennt meine Pläne. Und was meinen Boten angeht, dort siehst du den zuverlässigsten überhaupt. Verrat ist ihm fremd und er fliegt schneller über Berge, Täler und Wüsten, als jedes Kamel und jedes Pferd zu laufen vermögen.« Er nahm eine Hand voll Körner aus einer flachen Schale neben dem Käfig und fütterte die gurrende Taube damit. »Weißt du, Robin, ich bin nicht einmal wirklich unglücklich über den Ausgang der Versteigerung heute Nachmittag.«
Eingedenk der Worte Naidas war Robin dieses Thema mehr als unangenehm. Deswegen schwieg sie lieber.
Omar drehte sich wieder zu ihr herum. »Gerade bevor du gekommen bist, hat mir meine treue Freundin hier eine sehr interessante Nachricht aus dem fernen...«
Die Tür wurde aufgestoßen und ein kurzatmiger, schwitzender und deutlich übel gelaunter Harun al Dhin trat ein.
»Omar Khalid!«, beschwerte er sich, wobei er so heftig mit den Armen ruderte, als könnte er nur so sein Gleichgewicht halten. »Warum lasst Ihr mich behandeln wie einen Gefangenen? Ich bin weder Euer Sklave noch Euer Diener!«
»Aber mein Gast«, sagte Omar.
»Fürwahr, Ihr legt das Wort Gastfreundschaft auf eine Weise aus, die mir bisher völlig fremd war.« Harun kam nur langsam näher, aber sein unentwegtes Gefuchtel mit beiden Händen und seine gewaltige Körpermasse verliehen der Bewegung etwas von einer Steinlawine, die, einmal ins Rollen gekommen, durch nichts auf der Welt mehr aufzuhalten war.
»Eure Krieger haben mich direkt aus einer Garküche gezerrt, genau in dem Moment, in dem mein Essen aufgetragen wurde.«
»Oh«, sagte Omar. Der Zorn, der kurz in seinen Augen aufgeflammt war, als Harun so unsanft hereinplatzte, war längst erloschen und hatte einem spöttischen Funkeln Platz gemacht. »Das tut mir Leid. Ich konnte nicht ahnen, dass man Euch im heiligsten all Eurer heiligen Augenblicke überrascht.«
»Ihr wisst nicht, was mir entgangen ist«, jammerte Harun. »Seit der Morgenstunde hatte ich keine Gelegenheit mehr, etwas zu mir zu nehmen, und seht mich an: Ich bin ein stattlicher Mann, der sein Essen braucht und aufpassen muss, dass er nicht vom Fleisch fällt. Immerhin leiste ich anstrengende Arbeit, und die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern. Gerade hatte man mir Sfeehas, Ihr wisst schon, jene köstlich gewürzten Hefeteigtaschen, von denen jede eine andere Füllung hat...« - Harun verdrehte genießerisch die Augen und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen - »kredenzt. Die Luft war geschwängert vom Duft frisch gebratenen Hammelfleisches, von Petersilie und Minze. Gerade hatte ich die erste Teigtasche verspeist, als dieses nutzlose alte Weib mit Euren Wächtern hereinplatzte. Ah - sie war gefüllt mit Paprika und Pinienkernen - die Sfeehas, nicht Naida. Es war, als wollte jeder Bissen ein Feuer auf meiner Zunge entfachen, das danach schrie, mit Laban, frischem Joghurt, so weiß wie die Brüste unserer kleinen Ungläubigen hier, gelöscht zu werden.«
Robin spürte, wie sie rote Ohren bekam, zugleich aber kämpfte sie ebenso gegen ein Lächeln an wie Omar, oder mehr noch, sie war kurz davor, vor Lachen laut herauszuplatzen.
»Nach den Sfeehas hätte ich mein Mahl mit Mussacha fortgesetzt«, schwärmte Harun. »Ich selbst habe das Hühnchen ausgewählt, das mir bereitet werden sollte. Ein prächtiges fettes Geschöpf mit Fleisch so zart wie Rosenblätter. Bei meinem Barte, Herr, ich schwöre Euch, dieses Hühnchen war die Urenkelin eines jener vollkommenen Geschöpfe, mit denen Allah einst das Paradies bevölkern ließ.«
Harun stockte, während Omar ihm mit einem immer breiter werdenden Grinsen lauschte. Die Stirn des Hünen legte sich in Falten. Er rollte mit den Augen und plötzlich platzte es nur so aus ihm heraus: »Herr, erlaubt, dass ich Euch und Eure ehrenwerte Dienerin einlade, dieses Festmahl mit mir zu teilen? Habt Ihr jemals bei Kemal Mustafa gespeist? Gewiss, es mag Garstuben in dieser Stadt geben, in denen feinere Gesellschaften verkehren, und seine verrunzelte alte Dienerin, die das Essen an die Tische trägt, ist wahrlich keine Augenweide - sie ist fast so hässlich wie Naida -, doch Ihr werdet in der ganzen Stadt einschließlich der Palastküche des Statthalters keinen besseren Koch finden. Ja, ich bezweifle, dass selbst der Beherrscher aller Gläubigen, unser geliebter Kalif al Nasir, einen solchen Meister in seinen Küchen beschäftigt. Allah muss Kemal Mustafa mit einem gesegneten Bratspieß bedacht haben, und so, wie er seinem Propheten eine Zunge schenkte, die in unseren Köpfen die ganze Herrlichkeit des Paradieses entstehen zu lassen vermag, so ist es Kemal gegeben, uns in seiner Küche die Köstlichkeiten erahnen zu lassen, mit denen die Rechtgläubigen dereinst im Paradies belohnt werden. So lasst mich noch einmal meine Einladung wiederholen: Folgt mir in Kemals Garküche, und ich werde Euch für die Dauer einer Mahlzeit durch die Pforten des Paradieses führen.«
Omars Lächeln wirkte mittlerweile etwas verzweifelt. Er wandte für einen Moment den Blick in Robins Richtung, verdrehte viel sagend die Augen und sah dann wieder zu Harun hoch. Der riesige Mann war dabei, sich selbst in Verzückung zu reden. Seine Augen leuchteten, und während er mit der linken Hand in der Luft herumfuhrwerkte, fuhr er sich mit der anderen unentwegt über den langen, bis weit auf die Brust herabfallenden weißen Bart.
»Und dann erst die Spezereien!«, schwärmte er. »Ihr wisst schon, all jene Kleinigkeiten, die für sich genommen nicht einmal viel...«
»Meisterlich!« Omar stand auf und klatschte, Begeisterung heuchelnd, in die Hände. Während Harun verdutzt abbrach und ihn einen Moment lang fast erschrocken ansah, lächelte Omar noch breiter, ließ sich wieder auf seine Kissen sinken und bemerkte dann: »Mir scheint, ich habe Euch verkannt. Ich sollte die Küchensklaven von Euch ausbilden lassen und würde vermutlich reicher werden als die Omayyadenkalifen. Denn wenn ich Euch weiter Haremsdamen ausbilden lasse, so wird es wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis ich mir all dieses Speisen, von denen Ihr mir gerade vorgeschwärmt habt, kaum noch leisten kann.«
Harun al Dhin blinzelte verwirrt. »Was... meint Ihr damit, Herr?«
»Habt Ihr eine Vorstellung davon, wie viel mich Euer Vergleich dieser zierlichen Wüstenrose mit einer gefährlichen Raubkatze gekostet hat, Harun?«
»Aber das war doch nur...«
»Ich spreche jetzt nicht von den tausend Denar, die mir entgangen sind«, unterbrach ihn Omar, und in seinem freundlichen Ton schwang eine leise Drohung mit. Harun erbleichte plötzlich sichtbar und schluckte zwei-, dreimal trocken, als hätte er einen Kloß im Hals. »Das ist, mit Verlaub gesagt, eine Summe, die ich verschmerzen kann. Und manchmal ist es sogar von Vorteil, wenn ein Handel nicht sofort zum Abschluss kommt.«
»Wovon... redet Ihr dann, Herr?«, fragte Harun nervös.
»Zum Beispiel davon, dass der Statthalter glauben wird, dass ich ihn mit der Geschichte über diesen verrückten Sklaven in Frauenkleidern betrogen habe«, meinte Omar.
Harun blickte ihn bestürzt an. »Aber, o Herr, das habt Ihr doch auch...«
»Und dank deiner tatkräftigen Unterstützung, du Sohn eines einfältigen Hammels, vermochte er es auch noch herauszufinden!« Omar machte eine bedrohliche Pause. »Manchmal frage ich mich, in wessen Diensten du eigentlich stehst, Harun al Dhin.«
»Natürlich in den Euren, Herr«, beeilte sich Harun zu versichern.
»Ja, jedenfalls ist es das, was du behauptest«, antwortete Omar nachdenklich. »Und wofür du dich fürstlich von mir bezahlen lässt, nur nebenbei bemerkt.«
»Aber ich bitte Euch, Omar!« Harun rang nervös mit den fleischigen Händen. »Ihr kennt mich seit Jahren. Ich bin...«
»Und wenn ich es mir genau überlege«, fuhr Omar unbeirrt fort, den Blick auf einen imaginären Punkt gerichtet, »dann weiß ich so gut wie nichts über dich, Harun. Nur deinen Namen und den deiner Sklavin, und eine Menge interessanter Geschichten - die ich aber allesamt aus deinem eigenen Mund gehört habe, wenn ich es mir genau überlege. Sag mir, Harun: Was tust du so, wenn du nicht in Hama bist? Ich meine, manchmal vergehen Wochen, wenn nicht Monate, in denen du verschwunden bist, und niemand weiß, wo du dich aufhältst oder welchen Geschäften du nachgehst.« Er lächelte freundlich. »Natürlich ist es blanker Unsinn, aber man könnte auf den Gedanken kommen, dass es vielleicht noch einen zweiten Herrn gibt, in dessen Diensten du stehst - und für den du vielleicht nicht nur Tänzerinnen und Haremsdamen ausbildest.«
Harun wich erschrocken zurück. »Wie könnt Ihr so etwas auch nur denken, Herr?«, empörte er sich. »Niemandem bin ich so ergeben wie Euch!« Er hatte einen weinerlichen Ton angeschlagen, dicke Schweißperlen liefen über sein breites Gesicht und versickerten in seinem Bart. »Ich schwöre Euch beim Barte des Propheten, Omar Khalid, dass es niemanden gibt, dem ich...«
»Lüge!«, unterbrach ihn Omar, in scharfem Ton.
Harun wurde noch blasser und wäre weiter zurückgewichen, hätte das verzierte Gitter in seinem Rücken ihn nicht unvermittelt aufgehalten. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er den Sklavenhändler an.
Plötzlich jedoch brach Omar in schallendes Gelächter aus. »Du musst dich doch nur ansehen, um zu wissen, dass du niemandem so treu dienst wie deinem Bauch!«
Harun blinzelte. Zwei, drei Herzschläge lang starrte er Omar Khalid noch verwirrt und angstvoll an, dann begann sich vorsichtige Erleichterung auf seinem Gesicht breit zu machen.
Omar fuhr unbeirrt fort: »Dennoch werde ich gerade deinen Bauch bestrafen, Harun al Dhin. Wir werden morgen zu einer weiten Reise durch die Wüste aufbrechen, auf der du uns begleiten wirst. Und ich fürchte, der Luxus im Lager wird bei weitem nicht an die Köstlichkeiten von Kemal Mustafas Küche heranreichen. Aber du wirst sehen: Mit der Zeit gewöhnt man sich auch an Haferbrei und harten Käse.«
»Ich bin ein freier Mann!« Harun wedelte gebieterisch mit den Armen, was einen krassen Gegensatz zu der Furcht bildete, die ihm noch immer im Gesicht geschrieben stand. »Niemand hat mir zu sagen, wohin ich gehe!«
Omar hob nur die Schultern. »Ich fürchte, die Assassinen werden nicht begeistert sein, wenn sie morgen um diese Zeit feststellen, dass ich längst schon die Stadt verlassen habe«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht werden sie dann nach jemandem suchen, der ihnen etwas über meine schönste Sklavin erzählen kann, und darüber, wohin sie mit mir verschwunden ist. Möchtest du von einem nicht besonders gut gelaunten Assassinen befragt werden, Harun? Man sagt, selbst die Tapfersten der Tapferen vermögen ihnen nicht zu widerstehen.«
Der massige Mann erstarrte für einen Moment, und die sichtbare Erleichterung wich einer Maske blanken Entsetzens. Seine Stimme hatte einen seltsam heiseren Ton, als er antwortete: »Ich danke Euch, Herr. Ihr seid die Flamme der Weisheit, das Licht, das mir in der Nacht meiner Torheit leuchtet.« Er verneigte sich tief. »Ich werde mit Euch ziehen und wenn Ihr direkt in den Schlund der Hölle reitet. Alles, nur lasst mich nicht in die Hand der Schatten fallen!«
Omar lächelte milde. »Es freut mich, dass ich dich doch noch umstimmen konnte, freier Mann. Du weißt besser als ich, wie viele Lektionen unser kleines Mädchen noch zu lernen hat, bis es zu einer Frau wird.«
Robin straffte die Schultern und sah Omar so lange kampflustig und herausfordernd an, bis er ihren Blick spürte und sich zu ihr umwandte. »Ich werde nicht gehen«, sagte sie. »Nicht ohne Nemeth und Saila. Ihr werdet sie freilassen.«
Sie hatte damit gerechnet, dass Omar zornig reagieren würde, aber der Ausdruck in seinen Augen war nur eine Art gutmütiger Spott, an dem nichts Verletzendes war. »Wieder in Leoparden-Laune?«, fragte er. Sein Blick löste sich von Robins Gesicht und glitt scheinbar versonnen über die Sammlung von Säbeln, Dolchen und anderen Waffen, die an der Wand hing. »Und was, wenn ich mich deinem Befehl widersetze? Wirst du mich dann zum stählernen Tanz fordern? Ich wüsste gern, wer so verrückt war, ein Kind das Töten zu lehren.« Sein Blick wirkte jetzt warm, fast sehnsüchtig. »Aber das wirst du mir natürlich niemals verraten. Und sollte ich mich entschließen, dich selbst zum Weibe zu nehmen, so müsste ich wohl jeden Morgen an mein Herz fassen und mich vergewissern, dass noch kein Dolch darin steckt.«
»Bestimmt nicht«, beteuerte Robin.
»Du würdest mir natürlich nichts zuleide tun«, meinte Omar spöttisch.
Robin schüttelte den Kopf. »Ich töte niemandem im Schlaf«, sagte sie. »Messt mich nicht mit Eurem Maß, Omar Khalid. Ich habe vielleicht das Kämpfen gelernt, aber nicht das Morden.«
Sie wartete auf eine Reaktion des Sklavenhändlers. Darauf, dass seine Hand ihr ins Gesicht klatschte und sie für diese ungeheuerlichen Worte bestrafte; Worte, für die sie sich selbst verfluchen könnte, auf die sie zugleich aber auch stolz war. Aber nichts dergleichen geschah. Sowohl Spott als auch überhebliche Selbstsicherheit waren aus Omars Antlitz verschwunden. Er sagte nichts, verwies sie nicht in ihre Schranken, lachte sie nicht aus - nur ein leises, mahlendes Geräusch störte die fast feierliche Stille dieses Augenblickes. Und es dauerte noch eine geraume Weile, bis Robin auffiel, dass Omar gar nicht sie anstarrte.
Er blickte an ihr vorbei in Richtung des Fensters, vor dem Harun al Dhin stand.
»Was... was esst Ihr da, Harun?«, fragte der Sklavenhändler. Irgendetwas im Ton seiner Stimme alarmierte Robin. Er wirkte erschrocken - dabei war der Umstand, dass Harun irgendetwas aß, nun wirklich nichts Außergewöhnliches.
»Die Gebäckkringel, die auf dem Fenstersims liegen«, antwortete Harun, mit vollem Mund und kaum verständlich kauend. »Sie sind noch ganz warm. Ich dachte, Eure Diener hätten sie hierher gestellt, damit sie ein wenig auskühlen. Ich sagte doch, ich habe seit der Morgenstunde nichts mehr gegessen - abgesehen von jener winzigen Teigtasche, die zwar köstlich war, aber kaum meinen Appetit entfacht hatte, als...«
»Gebäckkringel?«, krächzte Omar. Mit einem einzigen weiten Satz sprang er hoch und an die Seite des riesigen Arabers, um ihm das angebissene Gebäck aus der Hand zu reißen.
Harun rang erschrocken nach Luft, verschluckte sich und begann zu husten, wobei er Omar einen Teil der Krümel, die noch in seinem Mund waren, ins Gesicht spuckte. »Aber Herr - es war doch nur...«
Omar hörte ihm gar nicht zu. Er starrte aus weit aufgerissen Augen den mehr als zur Hälfte aufgegessenen Gebäckkringel an, den er Harun aus der Hand gerissen hatte. »Ein Sesamkringel«, murmelte er. Dann riss er Harun grob zur Seite. Jetzt konnte auch Robin das Fenstersims erkennen. Da lagen noch zwei weitere Sesamkringel - sowie ein schmaler, silbern schimmernder Dolch mit beidseitig geschliffener, gekrümmter Klinge. Harun ächzte.
»Sie waren hier«, flüsterte Omar. »Die Schatten. Sie waren am Fenster. Sie haben uns belauscht.«
»Aber was ist denn so schlimm an diesem Stück Gebäck?«, murmelte Robin kopfschüttelnd.
»Ein Sesamkringel und ein Dolch?«, antwortete Harun. »Die Assassinen. Das ist ihr Zeichen!« Er keuchte. »O Allah. Ich werde sterben! Ich spüre schon, wie sich das Gift in meine Gedärme frisst!«
Ohne ihn zu beachten, ließ Omar den Sesamkringel fallen und klatschte zweimal hintereinander in die Hände. Die Tür wurde aufgerissen, und sein Leibwächter stürmte mit gezogenem Säbel herein.
»Wir müssen sofort weg!«, befahl der Sklavenhändler. Seine Stimme überschlug sich nicht vor Panik wie die Haruns, aber es gelang ihm auch nicht ganz, seine Furcht zu verbergen. »Auf der Stelle. Wir müssen die Stadt verlassen, noch in dieser Stunde. Bereite alles vor!«
»Ich werde sterben«, wimmerte Harun. Er röchelte, griff sich mit beiden Händen an den Hals und taumelte zwei Schritte rückwärts, bis er gegen die Wand stieß und langsam daran zu Boden sank, ein Gebirge aus Stoff und wogendem Fleisch.
»Du Narr«, sagte Omar. »Das hier war ein Zeichen, kein Anschlag.«
»Aber Ihr habt doch selbst gesagt...«
»Diese Kringel sind niemals vergiftet«, beharrte Omar. »Sie wollten uns nur sagen, dass sie hier sind. Und bei Allah: Das ist ihnen gelungen. Der Dolch und das Gebäck sind das Gift der Angst, das sie in unsere Herzen säen.«
Und aus seinen Worten und dem Ton seiner Stimme zu schließen, war die Saat bereits aufgegangen. Der Wächter war herumgefahren und wieder aus dem Zimmer gestürmt, um Omars Befehle auszuführen. Der Sklavenhändler indessen stand reglos da und starrte abwechselnd die beiden Sesamkringel auf dem Fenstersims und den dritten, halb aufgegessenen zwischen seinen Füßen an.
Harun - keineswegs beruhigt durch die Worte des Sklavenhändlers - röchelte und hechelte noch immer, und sein Gesicht verlor auch noch das letzte bisschen Farbe. Es hätte Robin nicht gewundert, wäre er im nächsten Moment tot umgefallen.
Langsam stand auch sie auf und trat an das vergitterte Fenster heran. Omar machte keine Bewegung, um sie aufzuhalten, ja, er schien sie gar nicht wahrzunehmen. Robins Finger glitten über die beiden so harmlos aussehenden Sesamkringel, die sich, wie aus Gold getrieben, deutlich vom weißen Stein des Simses abhoben. Sie waren tatsächlich noch warm, als wären sie gerade erst aus dem Ofen des Bäckers gekommen. Und Robin war jenseits allen Zweifels sicher, dass weder sie noch der Dolch dort gelegen hatten, als sie das Zimmer betreten hatte.
Mit klopfendem Herzen sah sie nach draußen. Die Gasse unter dem Fenster war menschenleer und dunkel. Das Zimmer lag im ersten Stockwerk des Hauses und die Mauer war so glatt, dass es eigentlich unmöglich war, ohne Werkzeug zu benutzen - und damit Lärm zu verursachen - daran emporzuklettern. Es gab keinen Sims, keine Verzierung, nichts, woran sich ein Kletterer hätte festhalten können. Wie also kam diese Botschaft der Söhne Ismaels hierher?
Robin wusste die Antwort darauf so wenig wie Omar Khalid oder Harun al Dhin, aber plötzlich war es ihr, als hörte sie Naidas Worte noch einmal: Sie werden kommen, um uns zu töten. Und eine Kälte nistete sich in ihrer Seele ein, wie sie sie noch niemals zuvor gespürt hatte.