16. KAPITEL


Unwillig blickte Robin zu dem Kamel hoch. Wozu hatte man eigentlich ein Reittier, wenn man die allermeiste Zeit zu Fuß ging? Und: Wozu hatte man ein Reittier, das eindeutig müheloser und ausdauernder zu Fuß ging als man selbst?

Sie fand auf diese Frage so wenig eine Antwort wie in der vergangenen Nacht oder während des zurückliegenden Tages. Aber nicht zum ersten Mal drehte das Kamel, dessen Zügel sie hielt (oder sich daran festhielt, um überhaupt mit ihm Schritt zu halten), den Kopf und blickte aus seinen großen, wässrigen Augen auf sie herab. Flockiger Schaum tropfte von seinen vorgestülpten Lippen, die unentwegt auf irgendetwas zu kauen schienen, obwohl sich Robin nicht erinnern konnte, es bisher auch nur einmal fressen gesehen zu haben. Auch wenn sie natürlich wusste, wie dumm dieser Gedanke war: Für einen Moment war sie sicher, dass dieses blöde Vieh sie eindeutig spöttisch ansah und sich über ihren hilflosen Zorn amüsierte.

Sie verscheuchte den Gedanken. Er war so albern und nutzlos wie das meiste, was sie in der zurückliegenden Nacht gedacht hatte, und diente ebenso dem Zweck, sie vom trostlosen Einerlei dieses Fußmarsches abzulenken. Es ihr irgendwie zu ermöglichen, immer weiter einen Fuß vor den andern zu setzen, obwohl sie schon vor Stunden geglaubt hatte, dass der nächste Schritt der unwiderruflich letzte wäre, für den sie noch die Kraft aufbrachte.

Der Rest der Nacht und der allergrößte Teil des darauf folgenden Tages waren bereits die Hölle gewesen. Abgesehen von der ersten, kaum drei Stunden währenden Strecke aus Hama heraus hatten sie ungezählte Meilen zu Fuß zurückgelegt, um die Kräfte der Tiere für die vor ihnen liegende Etappe zu schonen. Robin hatte Omar gebeten, wenigstens Nemeth reiten zu lassen, doch er war hart geblieben. Der Befehl galt für alle, ihn selbst eingeschlossen. Für ein nutzloses Fischermädchen, das den nächsten Winter vermutlich sowieso nicht überleben würde - das war sein genauer Wortlaut -, war er schon gar nicht bereit, eine Ausnahme zu machen.

»Weißt du, was ich mich die ganze Zeit über frage, Christenmädchen?«

Robin schrak aus ihren Gedanken hoch und wandte müde den Kopf. Harun al Dhin ging rechts neben ihr. Auch er führte sein Kamel am Zügel, und auch unter seinen Füßen stoben bei jedem Schritt kleine rotbraune Sandwolken hoch, die sich in der fast windstillen Hitze, die über der Wüste flirrte, nur ganz langsam wieder zu senken schienen. Aber trotz seiner Größe und seines gewaltigen Übergewichts bewegte er sich mit erstaunlicher Leichtigkeit.

»Wo das nächste Gasthaus ist, in dem Ihr etwas zu essen bekommt?«, vermutete sie.

Harun blieb ernst. »Das natürlich auch«, sagte er. »Aber ich frage mich auch, wie viel Omar für das geöffnete Tor bezahlt haben mag.«

»Was für ein Tor?«

»Das Stadttor von Hama«, erklärte Harun. »Ist es bei euch etwa nicht üblich, dass die Tore einer Stadt bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden, Ungläubige?«

»Doch«, antwortete Robin. Sie hob die Schultern. »Jedenfalls meistens.«

»Nun, hier ist es immer üblich«, erwiderte Harun. Er sah sie nicht an, während er mit ihr sprach, und sein Blick war auf einen unbestimmten Punkt irgendwo zwischen dem Ende der Karawane und dem Horizont gerichtet. »Du musst wissen, der Statthalter versteht in diesem Punkt wenig Spaß. Omar muss ein kleines Vermögen dafür bezahlt haben und der Kommandant dieses Stadttores sollte sich in Zukunft besser nicht mehr in Hama blicken lassen, wenn er seinen Kopf auf den Schultern behalten will. Ich muss gestehen, ich bin beeindruckt. Sich mit Mussa einzulassen, war närrisch, aber Omar Khalid scheint seine Flucht hervorragend organisiert zu haben. Vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit ihm geblieben ist.«

Robin hörte nur mit halbem Ohr zu. Die Hitze war unerträglich und sie hatte Durst, und es gab kaum noch einen Fleck an ihrem Körper, der nicht auf die eine oder andere Art wehtat oder sich zumindest unangenehm bemerkbar machte. Neidisch wandte sie den Blick und sah zu Saila und Nemeth hin. Das Mädchen hob die Hand und winkte ihr zu und Robin antwortete mit einem müden Nicken. Den beiden schienen die vielen Stunden Fußmarsch nicht das Geringste auszumachen. Nemeth ging sogar barfuss, obwohl der Sand so heiß sein musste wie eine glühende Herdplatte. Und dabei hatte sie gedacht, dass sie es sein würde, die den beiden Kraft und Zuversicht gab.

Das genaue Gegenteil war der Fall. Robin war völlig erschöpft. Seit sie in Bruder Abbés Orden eingetreten war, war sie nie mehr eine wirklich lange Strecke zu Fuß gegangen - einer der Vorteile, die es mit sich brachte, ein Ritter zu sein. Ihre Muskeln waren verkrampft, ihr Rücken tat weh und ihre Füße schmerzten unerträglich. Der feinkörnige Sand war längst in ihre Stiefel gekrochen, und so schön und weich deren Leder auch war, so waren sie neu und noch nicht eingelaufen. Robin fragte sich, wie lange es dauern würde, bis das Blut, das aus ihren zahllosen aufgeplatzten Blasen quoll, die Stiefel weit genug gefüllt hatte, um oben herauszulaufen.

Irgendwo vor ihnen erklang Lärm. Die Geräusche drangen nur langsam durch den Nebel aus Schmerz und mühsam gehegtem Selbstmitleid, der sich über Robins Gedanken gelegt hatte, aber dann hob sie müde den Kopf und blinzelte in das unbarmherzige Licht der Sonne. Nicht mehr weit vor der Karawane erhob sich ein Dorf aus sonderbar geformten, an Bienenkörbe erinnernden Lehmhäusern. Mehrere Gestalten kamen ihnen entgegen, die meisten davon Kinder, die vermutlich einfach nur neugierig waren. Aber zwischen den ersten Häusern entdeckte Robin auch einige Kamelreiter, auf deren Kopf es silbrig und kupferfarbig aufblitzte. Weitere Verbündete von Mussa Ag Amastan?

Die Karawane wurde schneller, als sie sich dem Ort näherte. Selbst Robin beschleunigte ihre Schritte, fast ohne es zu merken, obwohl sie noch vor einem Moment felsenfest davon überzeugt gewesen war, einfach nicht mehr schneller gehen zu können, und hinge auch ihr Leben davon ab. Doch in diesem Punkt schienen sich Mensch und Tier nicht besonders zu unterscheiden: Der Anblick der nahen Stadt, der Schatten und Erholung versprach, erweckte Kraftreserven in ihnen, von deren Existenz Robin gar nichts gewusst hatte.

Aber die Hoffnung erwies sich als trügerisch. Robin hielt vergebens nach einer Karawanserei, einem Gasthof oder auch nur irgendeinem Gebäude Ausschau, das ihr groß genug erschien, die aus kaum weniger als hundert Tieren bestehende Karawane zu versorgen. Hinter einem lang gezogenen Hain aus Dattelpalmen, der von einer hüfthohen Mauer aus Bruchsteinen eingefasst war, konnte sie den Orontes erkennen, und hätte auch nur ein schwacher Wind geweht, dann hätte sie das Flusswasser vermutlich schon gerochen. Das Dorf selbst aber bestand nur aus sonderbaren, vollkommen fremdartig geformten und allesamt sehr kleinen Lehmgebäuden. Es gab kein größeres Anwesen, keinen zentralen Platz, nicht einmal ein paar Sonnensegel, wie sie sie von Hama her kannte und die wohl das Mindeste gewesen wären, um einer Karawane einen Platz zum Rasten zu bieten.

Vielleicht, weil sie hier nicht rasten würden.

Robin weigerte sich noch eine ganze Weile ebenso beharrlich wie erfolglos, diesem Gedanken auch nur eine Spur von Glaubwürdigkeit zuzubilligen. Doch je näher sie dem Ufer kamen, desto mehr wurde er zur Gewissheit. Die Karawane war längst zu einer weit auseinander gezogenen, zerbrochenen Kette zerfallen, deren vorderste Glieder das Ufer erreichten, als Robin noch eine Viertelstunde qualvollen Fußmarsches davon entfernt war. Dennoch konnte sie über die große Entfernung hinweg erkennen, wie Mussa und Omar Khalid ihre Männer antrieben, die bisher nicht beladenen Kamele auszusondern und zu einer Stelle direkt am Fluss zu führen, an der ein kleines Gebirge Leinensäcke und in langen Reihen stehender dickbauchiger Wasserkrüge auf sie wartete. Vorräte, die sie brauchten, um ihren Weg fortzusetzen.

Die fertig beladenen Kamele wurden zur Tränke an den Fluss geführt. Doch keiner der Männer machte Anstalten, sich von ihnen zu entfernen oder sich auch nur für einen Moment in den Schatten einer der wenigen Dattelpalmen zu setzen, die ihre Wurzeln in den schmalen Streifen fruchtbarer Erde nahe des Flusses gesteckt hatten. Als Robin näher kam, erkannte sie neben Omar Khalid und Mussa einen alten Mann im weißen Kaftan, der heftig gestikulierend auf die Ankömmlinge einredete. Vermutlich gehörte er zum Dorf und war wenig begeistert über die ungeladenen Gäste.

Endlich, nach einer Ewigkeit, hatte auch Robin den Palmenhain erreicht. Sie konnte jetzt den kühlen Hauch spüren, der vom Fluss heraufwehte, und das Murmeln des Wassers hören. In diesem Moment hätte sie ihre rechte Hand darum gegeben, die wenigen Schritte weiter gehen und sich einfach in die Fluten stürzen zu können. Aber keiner der anderen machte auch nur Anstalten, dem Wasser nahe zu kommen. Deshalb ließ auch Robin nur erschöpft den Zügel ihres Kamels los - es war ihr völlig gleich, ob das Tier seinen Platz zwischen den anderen fand, oder sich spontan entschloss, seine Verwandtschaft fünfhundert Meilen entfernt in der Wüste zu besuchen -, taumelte kraftlos noch zwei Schritte weiter und ließ sich erschöpft auf den Rand der niedrigen Bruchsteinmauer sinken, die den Palmenhain umschloss.

Auch Saila tat es ihr mit einem erleichterten Seufzer gleich, hielt aber einen deutlich größeren Abstand, als nötig gewesen wäre, und wich Robins Blick sorgsam aus. Ihr Benehmen schmerzte Robin, aber sie konnte es verstehen. Sie hielt Saila für eine kluge Frau, die vermutlich durchaus wusste, wie wenig Schuld Robin an dem grausamen Schicksal trug, das sie und ihr ganzes Dorf getroffen hatte. Aber auch sie selbst hatte schon zu viel Schmerz erlitten, um nicht zu wissen, dass Vernunft und Empfinden nicht immer Hand in Hand gingen. Wahrscheinlich war sie selbst sogar das beste Beispiel dafür.

»Und es ist wirklich wahr, dass wir deine Dienerinnen werden sollen?«

Robin hatte im ersten Moment Mühe, die Stimme irgendeinem Namen zuzuordnen. Müde hob sie den Kopf, blinzelte, dann erkannte sie Nemeth. Das Mädchen musste so erschöpft und durstig sein wie sie, was es aber nicht daran hinderte, mit einem strahlenden Lächeln zu Robin aufzusehen und offensichtlich eine Antwort auf seine Frage zu erwarten.

Robin konnte sich gar nicht erinnern, Nemeth oder ihrer Mutter von dem Handel erzählt zu haben, den sie mit Omar Khalid geschlossen hatte, aber es musste wohl so sein. »Ja«, sagte sie. »Ihr werdet meine Dienerinnen und ich werde eure Herrin. Und als solche befehle ich dir, dich jetzt in den Schatten zu setzen und auszuruhen. Und den Mund zu halten.«

Nemeth strahlte noch breiter. »Aber eine Dienerin muss sich um das Wohl ihrer Herrin kümmern.«

Ohne Robins Antwort abzuwarten, drehte sie sich herum und war wie ein Wirbelwind verschwunden. Robin verspürte einen schwachen Anflug von Neid auf ihre kindliche Energie und Zähigkeit. Sie selbst würde jedem die Kehle durchschneiden, der innerhalb der nächsten drei oder vier Tage von ihr verlangte, auch nur noch einen einzigen Schritt zu tun. Aber sollte Nemeth sich ruhig austoben. Vielleicht waren die wenigen Stunden, die sie das noch konnte, der Rest ihrer Kindheit. Sie hatte nicht das Recht, sie ihr streitig zu machen.

Es verging nur eine kleine Weile, in der Robin einfach dasaß und in der Sonne döste, bis Nemeth zurückkam. Sie trug eine flache Schale mit Flusswasser in beiden Händen, die sie Robin voller Stolz hinhielt. Als Robin danach griff, musste sie feststellen, dass sie mehr Sand als Wasser enthielt und dieses zudem nicht besonders sauber war. Aber sie war entsetzlich durstig, und selbst wenn sie es nicht gewesen wäre - das Leuchten in Nemeths Augen hätte es ihr vollkommen unmöglich gemacht, irgendetwas anderes zu tun, als die Schale anzusetzen und mit wenigen Schlucken so weit zu leeren, bis der Sand zwischen ihren Zähnen zu knirschen begann. Das Wasser schmeckte nicht besonders gut. Wahrscheinlich hatte Nemeth es unterhalb der Stelle, wo die Kamele standen, geschöpft. Dennoch war es nach dem stundenlangen Marsch durch die glühende Wüstensonne eine solche Labsal, dass Robin fast enttäuscht war, als die Schale leer war.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, fragte Nemeth: »Soll ich noch mehr holen?«

Robin schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es ist nicht gut, wenn man zu viel auf einmal trinkt, weißt du? Vielleicht später, bevor wir weiterreiten.«

Eine Stimme hinter Robin sagte: »Aber du könntest gehen und uns ein paar frische Datteln pflücken, Kleines.«

Das Mädchen nickte eifrig und verschwand wie der Blitz.

Robin drehte den Kopf und blinzelte in das breite, alt aussehende Gesicht Harun al Dhins hinauf. Obwohl sie den ganzen Tag neben ihm marschiert war, fiel ihr erst jetzt auf, wie mitgenommen er wirkte. Auf seinen Wangen, die bislang immer sorgsam rasiert gewesen waren, zeigten sich graue Bartstoppeln. Sein Gesicht war ungeschminkt und er hatte nicht mehr viel von dem verkleideten Gecken, als der er bisher aufgetreten war. Viel deutlicher als bisher sah sie das Geflecht feiner Falten, das seine Augen umgab. Es kam Robin fast so vor, als habe die gnadenlose Wüstensonne die weichen Formen von seinem Gesicht geschmolzen, sodass nun zum ersten Mal der wahre Harun al Dhin darunter zum Vorschein kam.

Ein äußerst besorgter Harun al Dhin.

Mit einem erschöpften Seufzer ließ er sich neben Robin auf die Mauerkante sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie und betrachtete stirnrunzelnd, was der stundenlange Marsch, Sonne und Sand seinen kostbaren Kleidern angetan hatten. Von ihren grellen Farben war nicht mehr viel zu sehen.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte er.

»Was?«, fragte Robin. Sie spürte genau, dass Harun eine andere Antwort von ihr erwartet hatte. Aus irgendeinem Grund schien er niemals willens zu sein, von sich aus etwas preiszugeben, sondern wartete immer auf ein Stichwort, selbst wenn er es seinem Gegenüber selber liefern musste. Aber sie war zu erschöpft und zu müde für solcherlei Spielchen.

»Das, was hier passiert«, murmelte Harun.

»Was passiert denn?«, erkundigte sich Robin. Nicht, dass es sie wirklich interessierte. Aber sie würde auch keine Ruhe finden, bevor Harun seine Botschaft losgeworden war. »Sie tränken die Kamele. Wir machen Rast.«

»Ich fürchte, nicht«, antwortete der riesige Mann.

Nun sah Robin doch hoch. Etwas von der Angst, die sie bislang auch sich selbst gegenüber nicht zugegeben hatte, musste sich wohl deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Harun nickte besorgt und fuhr in leiserem, ebenso mitfühlendem wie auch zugleich alarmiertem Ton fort: »Sie tränken die Kamele, das ist wahr. Aber nur, bis die Tiere fertig beladen sind. Wir nehmen Proviant und Wasser auf und ziehen sofort weiter.«

Robin sog scharf die Luft ein. Warum war sie eigentlich so entsetzt? Sie war längst zu dem gleichen Schluss gekommen, hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Trotzdem sagte sie: »Aber das ist doch Wahnsinn. Uns wird alle der Hitzschlag treffen!«

»Das wohl nicht«, antwortete Harun. »Aber es ist eine elende Schinderei, die eigentlich nicht nötig wäre. Es sei denn...«

Robin tat ihm den Gefallen zu fragen: »Es sei denn - was?«

»Eine Karawane so reichlich mit Nahrung und Wasser zu versorgen, die durch fruchtbares Gebiet und noch dazu in der Nähe eines Flusses zieht, ist vollkommen überflüssig. Wir schleppen nur unnötiges Gewicht mit uns herum und vergeuden unsere Kräfte.« Er seufzte tief. »Ich hoffe, dass Omar in seiner Angst vor den Assassinen keine Dummheit begeht.«

»Was genau meint Ihr mit Dummheit?«

Bevor Harun antworten konnte, kam Nemeth zurück. Sie hatte ihren Kaftan hochgeschlagen und transportierte darin ein gutes halbes Dutzend frischer Datteln, die sie Robin stolz anbot. Obwohl Robin sehr hungrig war, war ihr der Gedanke an Essen fast zuwider, so erschöpft war sie. Dennoch griff sie danach, nahm sich die Hälfte der Datteln und forderte Harun mit einer Geste auf, ihrem Beispiel zu folgen.

Nemeth wirkte ein bisschen verärgert, als auch der riesige Tanzlehrer eine seiner Pranken ausstreckte und die restlichen Datteln in seiner geschlossenen Hand verschwinden ließ. »Soll ich noch Wasser holen?«, fragte sie.

Robin schüttelte den Kopf, doch Harun sagte: »Ja. Aber geh diesmal auf die andere Seite der Karawane.«

Nemeth blickte ihn eine Sekunde lang verstört an, dann konnte Robin sehen, wie sie erschrak und ein schuldbewusster Ausdruck auf ihrem Gesicht erschien.

»Harun hat Recht«, sagte sie. »Aber mach dir nichts draus. Das Wasser war in Ordnung. Dennoch solltest du auf ihn hören. Und trink auch selber, und bring für deine Mutter etwas mit.«

»Was muss sie eigentlich noch anstellen, damit du die Geduld mit ihr verlierst?«, fragte Harun.

»Die Hoffnung verlieren«, antwortete Robin.

Harun sah sie stirnrunzelnd und mit undeutbarem Ausdruck an. Er schwieg, während er drei der Datteln, die Nemeth mitgebracht hatte, verzehrte. »Ich werde jeden Tag weniger schlau aus dir, Ungläubige«, gestand er. »Du selbst bist in einer Lage, die dem, was ihr Christen mit dem Wort Hölle bezeichnet, ziemlich nahe kommt. Und deine einzige Sorge gilt einem Kind, das du kaum kennst.«

Das Thema war Robin unangenehm, deshalb erinnerte sie: »Ihr wolltet von Omars Dummheiten erzählen.«

»Das ist wahr«, seufzte Harun und verzehrte die letzte Dattel. Robin hatte ihre noch nicht angerührt, wollte das aber nachholen, bevor Nemeth zurück war, schon um das Mädchen nicht vor den Kopf zu stoßen.

»Auf der Route, die wir bisher eingeschlagen haben, und bei dem Tempo, das Omar vorlegt, werden wir bis zur Dämmerung Homs erreichen - eine große Stadt im Westen. Ich war bis jetzt der Meinung, Omar Khalids Ziel sei Damaskus. Homs ist die erste Etappe vor dem Weg durch das Libanon-Gebirge.«

»Wieso Damaskus?«

»Es ist die Residenz Sultan Saladins«, antwortete Harun. Sein Blick streifte gierig das Vierteldutzend Datteln, das Robin in ihren Schoß gelegt hatte. Wortlos nahm sie sie, streckte die Hand aus und die süßen Früchte verschwanden so schnell in Haruns Mund, als hätte er sie weggezaubert. »Nicht einmal die Assassinen würden es wagen, so ohne weiteres nach Damaskus zu gehen oder dort gar ein Attentat zu verüben.«

Das klang schlüssig, doch Robin spürte den Zweifel hinter Haruns Worten. Er wirkte völlig anders als bisher - ernst, erschöpft -, aber da war noch etwas, ohne dass Robin es hätte benennen können. Selbst seine Art zu reden hatte sich verändert. Seine Ausdrucksweise wirkte plötzlich geradlinig und schnörkellos, was ihn ihr eher sympathisch machte.

»Und?«, fragte sie schließlich.

Harun deutete mit dem Kopf in Richtung Flussufer und Kamele. Fast gegen ihren Willen stellte Robin fest, dass der Großteil der Waren bereits aufgeladen war. Wenn Harun mit seiner Vermutung Recht hatte, dass sie keine Pause einlegen würden, würde es wohl in wenigen Minuten weitergehen. »Was ich dort sehe, deutet eher darauf hin, dass Omar nach Osten in die Wüste fliehen will. Ich kann das nicht begreifen. Vor allem nicht in Begleitung eines Mannes wie Mussa. Er ist nicht nur gewissenlos, sondern auch gierig. Und das macht ihn noch gefährlicher.«

»Und was ist im Osten?«, fragte Robin. »Außer Wüste?«

»Noch mehr Wüste«, brummte Harun. Dann schien er zu begreifen, dass seine Worte Robin nicht unbedingt beruhigten, und er versuchte seine Aussage mit einem übertrieben optimistischem Lächeln zu relativieren. »Es gibt einen Weg hindurch. Viele Karawanen sind ihn schon gegangen - mach dir keine Sorgen.«

»Wenn man will, dass sich jemand Sorgen macht«, sagte Robin, »muss man ihm nur sagen, er solle sich keine Sorgen machen.«

Harun lachte. »Er ist gefährlich. Du hast Recht. Aber nicht unpassierbar. Und ich meine es ernst - mach dir keine Sorgen. Ich glaube, Allah selbst hat ein Auge auf dich geworfen. Nach allen Unmöglichkeiten, die du bisher bewältigt hast, wird dir wahrscheinlich auch die Wüste nichts anhaben können.« Er stand auf. »Weißt du, das ist der Grund, aus dem ich immer in deiner Nähe bleibe. Vielleicht fällt ja etwas von deinem Glück auf mich ab.«

Nur wenige Minuten später gab Omar das Zeichen zum Aufbruch. Die letzten Kamele waren gesattelt, die letzten Wasserkrüge und Futtersäcke verstaut und diesmal gelang es Robin sogar, auf den Rücken ihres Kamels zu steigen, ohne damit zur Erheiterung der gesamten Karawane beizutragen. Sie sah bewusst nicht in seine Richtung, aber sie spürte Omars Blicke. Ein absurdes Gefühl von Enttäuschung begann sich in ihr breit zu machen, als sie begriff, dass er sich zwar davon überzeugen wollte, dass sie unversehrt im Sattel saß, aber nicht zu ihr kommen würde, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Sie verscheuchte den Gedanken. Was Omar anging, so hoffte sie inständig, dass er bei der Überquerung des Flusses ertrank oder vielleicht von einem Stein erschlagen wurde, der zufällig vom Himmel fiel.

Zumindest für diesen Tag jedoch regnete es keine Steine und in der Furt konnte auch niemand ertrinken. Der Orontes war an dieser Stelle zwar sehr breit, dafür aber so seicht, dass das Wasser den Kamelen nicht einmal bis an die Bäuche reichte. Allein der Anblick des Wassers ließ Robin wieder spüren, wie durstig sie noch immer war, und wie entsetzlich heiß es unter ihren Kleidern war. Hätte sie auf einem Pferd gesessen, hätte sie sich vorgebeugt, um sich Wasser ins Gesicht und über den Kopf zu schöpfen. Aber auf diesem hin und her schwankenden Monstrum konnte sie froh sein, wenn sie sich überhaupt im Sattel hielt. Sie betete, dass Harun sich täuschte und sie nicht nach Osten, sondern weiter nach Homs ritten. Selbst wenn sie dort der nackte Boden einer Karawanserei als Nachtlager erwartete, so wäre es nicht so entsetzlich wie eine weitere Nacht in diesem Sand. Aber zumindest mussten sie nicht mehr gehen.

Bis sie das gegenüberliegende Ufer des Flusses erreicht hatten und Omar ihnen befahl, wieder von den Kamelen abzusteigen, die Tiere bei den Zügeln zu nehmen und ihren qualvollen Fußmarsch fortzusetzen.

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