5. KAPITEL


Am nächsten Morgen erwachte sie nicht nur erstaunlich ausgeruht und frisch, sondern zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit, ohne dass ihr irgendetwas wehtat, sie sich schlecht fühlte oder einfach Angst vor dem neuen Tag hatte. Es war noch nicht ganz hell. Das Licht der Sonne hatte kaum die Kraft, den dicken Stoff der Zeltbahn zu durchdringen. Durch einen Riss im Zelttuch stach ein schmaler Lichtstrahl wie eine spitze Messerklinge durch das Halbdunkel. Es war das Kribbeln dieses kleinen Sonnenflecks auf ihrem Gesicht gewesen, das sie geweckt hatte.

Sie war nicht allein. Als sie sich vorsichtig aufsetzte, hörte sie regelmäßige, flache Atemzüge neben sich und erkannte gleich darauf einen schmalen Körper, der sich im Schlaf zu einem Ball zusammengerollt hatte.

Obwohl man in dem Zwielicht kaum mehr als vage Schemen erkennen konnte, wusste Robin, dass es Nemeth war. Man hatte ihr das Kind als Aufpasserin ins Zelt geschickt, während die Erwachsenen im Haus übernachteten. Ein sanftes Lächeln stahl sich auf Robins Lippen, als sie das schlafende Mädchen betrachtete. Zugleich fühlte sie sich von einer seltsamen Melancholie ergriffen, die sie sich selbst nicht ganz erklären konnte.

Seit sie ihr heimatliches Dorf verlassen hatte, um mit Salim und den anderen Rittern der Komturei nach Süden zu ziehen, hatte sie niemanden mehr getroffen oder gar gesprochen, der nicht mindestens doppelt so alt gewesen wäre wie sie; von Salim selbst vielleicht einmal abgesehen. Der Anblick des schlafenden Mädchens machte ihr klar, wie viel seither geschehen war, und wie gewaltig die Kluft war, die zwischen ihnen klaffte. Sie selbst war ja nicht sehr viel älter als dieses Beduinenkind - fünf, allerhöchstens sechs Jahre -, aber es waren unglaublich wichtige Jahre. Die kostbare letzte Spanne im Leben, die ein Kind vom Erwachsensein trennte. Robin konnte das Gefühl nicht erklären: Während sie so dasaß und das friedlich schlafende Mädchen betrachtete, spürte sie, dass ihr etwas gestohlen worden war nicht von jemand Bestimmtem, nicht mit Absicht, aber etwas war ihr genommen worden, etwas unglaublich Wertvolles und Unwiederbringliches.

Sie streckte die Hand aus, um Nemeth durch das Haar zu streicheln, doch dann hielt sie in der Bewegung inne. Ärgerlich über sich selbst verscheuchte sie die melancholischen Gedanken. Sie sollte froh sein, noch am Leben und bei freundlichen Menschen zu sein, statt mit dem Schicksal zu hadern und Dingen nachzutrauern, die unwiderruflich verloren waren. Sie hatte wahrlich genug andere Probleme.

Robin überlegte einen Moment lang, Nemeth zu wecken, entschied sich aber dann dagegen. Auch das war etwas, was ihr erst jetzt wirklich klar wurde: So lange ein Leben auch dauern mochte, es gab viel zu wenige Nächte, in denen man in Frieden Schlaf fand, und jede Einzelne davon war unendlich kostbar. Sie hatte nicht das Recht, diesem Kind auch nur eine Stunde unschuldigen Schlafes zu rauben. Statt Nehmet allein aus dem eigensüchtigen Bedürfnis nach Gesellschaft zu wecken, erhob sich Robin und war mit ein paar Schritten am Ausgang. Schon fast an der herabgeschlagenen Zeltplane machte sie noch einmal kehrt, um das Tuch aufzuheben, das sie vor dem Schlafengehen abgelegt hatte. Nicht annähernd so geschickt und kunstvoll wie Saila am Tag zuvor, legte sie es an und befestigte den Schleier vor dem Gesicht, bevor sie das Zelt endgültig verließ.

Draußen war der Tag noch nicht wirklich angebrochen, aber in dem kleinen Dorf herrschte bereits reges Treiben. Mehrere Fackeln brannten und aus verschiedenen Richtungen hallten die Geräusche von Glocken und Hufen sowie Worte in einer unverständlichen Sprache an ihr Ohr. Sie blieb einen Moment stehen und versuchte, wenigstens etwas davon zu verstehen, doch es gelang ihr nicht. Wohl hatte Salim ihr einige Brocken Arabisch beigebracht, aber offensichtlich gab es in diesem Landstrich mehr als eine Sprache.

Salim... Der Gedanke an ihn erfüllte sie mit Traurigkeit. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass er noch am Leben war, und sei es nur, weil der bloße Gedanke, es könnte anders sein, einfach unvorstellbar gewesen wäre. Aber wo mochte er jetzt sein? Und wie war es ihm ergangen? Befand er sich in Freiheit oder war er nach der Seeschlacht in Gefangenschaft geraten? War er verletzt oder unversehrt? Vielleicht gar auf einer verzweifelten Flucht oder aber bereits auf der Suche nach ihr? Gestern hatte ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen Salim gegolten und der Frage, wie es jetzt mit ihr weitergehen sollte. Es bedrückte sie, dass es für sie keine Möglichkeit gab, sich für die Hilfe der Fischer erkenntlich zu zeigen. Ganz im Gegenteil, sie würde sogar noch mehr Unterstützung brauchen. Kleidung, Nahrungsmittel, ein Pferd und vielleicht jemanden, der sie in die nächste Stadt brachte oder zumindest zu einem Menschen, der ihre Sprache sprach und ihr weiterhelfen konnte.

Mit einem Male wurde Robin klar, wie aussichtslos ihre Lage war. Ihr Blick glitt über das Meer, das schier unendlich und unbeschreiblich trostlos vor ihr lag, so als wäre es nur zu dem Zweck erschaffen worden, ihr und allen anderen Menschen vor Augen zu führen, wie winzig und unwichtig sie waren.

Bedrückt wandte sie sich von der bleiernen Meeresfläche ab. Flüchtig glitt ihr Blick zu den flachen Dünen und wanderte dann über den kargen Hügel, an dessen Flanke das Fischerdorf lag. Dann wanderte er weiter zu den Bergen, hinter denen blutrot die Sonne aufging. Der Anblick dieser gewaltigen Felsbarriere verwirrte sie noch immer. Salim hatte ihr von einem Ozean aus Sand und Steinen erzählt, auf dem keine Schiffe fuhren und durch den keine Straßen führten. Wüsten, so weit und so tödlich wie das Meer. Er hatte so viele interessante Dinge von Outremer, dem christlichen Königreich im Heiligen Land, zu berichten gewusst. Seine Worte hatten Bilder in ihr entstehen lassen, die ihr bis in ihre Träume folgten. Akko, Jerusalem, Genezareth, der Tempelberg, all das war ihr verheißen gewesen und nun in unerreichbare Ferne gerückt. Ihre Welt war nicht nur größer, womöglich war sie vielleicht zu groß geworden.

Robin hörte ein Geräusch hinter sich, und als sie sich umdrehte, erkannte sie Nemeth, die ebenfalls aus dem Zelt geschlüpft war und sich verschlafen die Augen rieb, während sie ungeniert gähnte. Im schwachen Licht der Dämmerung wirkte sie älter, als sie vermutlich war, und ernster, als ein Kind es sein sollte. Nachdem sie aufgehört hatte, sich die Augen zu reiben, blinzelte sie zu Robin hoch und sagte etwas Unverständliches in ihrer Muttersprache, und ohne sie zu verstehen antwortete Robin ihr: »Ich wollte dich nicht wecken. Es tut mir Leid.«

Nemeth entgegnete etwas, schneller und in einer Tonlage, als hätte sie ihre Worte tatsächlich verstanden. Statt zu antworten, beschrieb Robin mit der linken Hand kreisförmige Bewegungen über ihrem Magen und deutete mit den Fingern der anderen auf ihren Mund. »Ich bin hungrig. Glaubst du, dass ich noch ein Stück von diesem köstlichen Fladenbrot bekommen könnte, und vielleicht einen Schluck Wasser?«

Diesmal bedurfte es keiner Übersetzung. Nemeth lachte erfreut, wenn auch noch ein bisschen müde, ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei und bedeutete Robin dabei, ihr zu folgen. Das Mädchen ging schnurstracks auf das Haus hinter dem Zelt zu. Drinnen brannte kein Licht, und die Morgendämmerung war noch so schwach, dass Robin nur grobe Umrisse ausmachte.

Das Gebäude war überraschend groß. Es schien zum Teil in den Hang hineingebaut zu sein. Nehmet verschwand hinter der Tür in der Dunkelheit. Robin folgte ihr vorsichtig und in der Erwartung, Saila und ihre Mutter anzutreffen, vielleicht auch den bärtigen Mann. Aber als sich ihre Augen an das schwache Licht hier drinnen gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass sie mit Nemeth allein war. Das Mädchen hantierte an einer gemauerten Feuerstelle mit einigen tönernen Vorratstöpfen. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. In einer Ecke erkannte Robin undeutlich mehrere Teppiche und lange, kunstvoll bestickte Kissen, die an der Wand lehnten. Auf einem runden Tablett standen die Reste eines Frühstücks. Fladenbrot, eine flache Schüssel mit Oliven und etwas Obst. Ein sonderbarer Geruch hing in der Luft, fremdartig, aber nicht unangenehm.

Nemeth sagte etwas, wartete einen Moment vergebens auf eine Reaktion und begleitete ihre Worte mit einem ungeduldigen Armwedeln, als sie sie wiederholte. Robin sah sie einen kurzen Moment lang verständnislos an, dann zuckte sie mit den Schultern und setzte sich im Schneidersitz auf einen der Teppiche. Nemeth hantierte eine Zeit lang im Halbdunkel herum, kam dann zurück und drückte ihr ein Fladenbrot in die Hand. Nichts von dem köstlichen Fisch, den sie am Vortag bekommen hatte, aber Robin gab sich damit zufrieden.

Das Mädchen verschwand nach draußen, blieb einen Augenblick fort und kehrte dann mit einer flachen Holzschale zurück, die sie vorsichtig mit beiden Händen vor sich her balancierte. Obwohl die Schale randvoll war, gelang es ihr, sie vor Robin abzusetzen, ohne auch nur einen einzigen Tropfen von ihrem Inhalt zu verschütten. Robin kaute tapfer an ihrem Fladenbrot. Es war ein Stück des gleichen Brotes, von dem sie am Tag zuvor bekommen hatte, aber jetzt schmeckte es trocken und zäh. Schließlich legte Robin es in ihren Schoß und griff mit beiden Händen nach der Schale. Sie enthielt eine helle Flüssigkeit, die wie Milch aussah und zweifellos auch Milch war, doch sie schmeckte anders als jede Milch, die sie je zuvor zu sich genommen hatte. Vielleicht nicht einmal schlecht, aber doch so unerwartet fremd, dass Robin den Schluck um ein Haar wieder ausgespien hätte. Vielleicht war es das stolze Leuchten in Nemeths Augen, als sie ihr beim Trinken zusah, das sie davon abhielt. Was immer das Mädchen ihr gebracht hatte, schien zumindest für sie etwas ganz Besonderes zu sein.

Robin schluckte tapfer, zögerte einen Moment und setzte die Schale erneut an. Diesmal kam ihr der Geschmack schon nicht mehr ganz so fremdartig vor. Vielleicht würde sie sich ja daran gewöhnen? Dennoch trank sie nur gerade genug, um das Brot herunterzuspülen und ihren ärgsten Durst zu löschen. Nachdem sie fertig gegessen hatte, sah sie Nemeth erwartungsvoll an, aber das Mädchen erwiderte ihren Blick nur lächelnd und machte keine Anstalten, ihr mehr zu bringen. Vielleicht hätte Robin sich mit Gesten verständlich machen können, doch das wäre ihr unhöflich erschienen. Ihr schlimmster Hunger war ja auch gestillt, und bestimmt würde sie später mehr bekommen, wenn sie Saila oder deren Mutter traf.

Sie wollte aufstehen und die Hütte verlassen, aber Nemeth forderte sie mit temperamentvollen Gesten zum Weitertrinken auf. Robin war nicht begeistert von der Vorstellung, aber sie spürte auch, dass sie Nemeth verletzen würde, würde sie ihr großmütiges Geschenk ausschlagen. Also setzte sie die Schale an und leerte sie in einem Zug bis auf den letzten Tropfen. Nemeth wirkte sehr zufrieden.

»Das hat wirklich gut getan«, log Robin. »Aber was war es eigentlich?«

Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen und sah sie fragend an, also wiederholte Robin ihre Worte und begleitete sie diesmal mit entsprechenden Gesten, um sich auf diese Weise verständlich zu machen. Nemeth runzelte nur weiter fragend die Stirn, aber plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf; offensichtlich hatte sie verstanden, was Robin meinte. Sie sprang hoch, war wie ein Wirbelwind aus der Tür und wartete erst einige Schritte vom Haus entfernt auf Robin. Als diese ihr folgte und neben ihr angekommen war, deutete sie den Hang hinauf und winkte ihr mit der anderen Hand mitzukommen.

Es gab einen Weg, doch der war voller Steine, sodass das Gehen mit nackten Füßen eine Tortur war. Schon die wenigen Schritte zum Hügelkamm machten Robin klar, wie naiv ihre gestrige Idee gewesen war, das Dorf sofort zu verlassen und sich auf die Suche nach Salim und den anderen zu machen. Sie würde noch eine Weile brauchen, um sich halbwegs zu erholen, und dann benötigte sie Ausrüstung, vernünftiges Schuhwerk und ein Reittier. Sie seufzte. Vielleicht würde sie auch warten müssen, bis Reisende durch diese Gegend zogen, denen sie sich anschließen konnte.

Oben auf dem Hügel angekommen, beschleunigte Nemeth ihre Schritte, um die jenseitige Böschung in einem geradezu atemberaubenden Tempo hinabzusausen. Robin folgte ihr nicht, sondern blieb stehen und warf einen langen Blick in die Landschaft. Es gab nicht besonders viel zu sehen. Vor ihr lag karges Hügelland. Ein gutes Stück entfernt zog sich eine schmale Linie von Grün durch das Graubraun aus ausgedorrter Erde und Felsen. Vermutlich ein kleiner Bach, der irgendwo südlich des Dorfes ins Meer mündete. Zu den Bergen am Horizont hin stieg das Land langsam an. Am Fuß des Hügels lief ein ausgetretener Pfad, der sich in Schlangenlinien in der Ferne verlor.

Vielleicht würde sie doch nicht so lange warten müssen, bis hier Reisende vorbeikamen, dachte Robin und schlang sich fröstelnd die Arme um den Leib. Die schneidende Kälte überraschte sie. Nach allem, was sie von Salim über dieses Land gehört hatte, sollte es nur aus Sand und Hitze bestehen. Aber der Wind, der ihr ins Gesicht schlug, war eisig, und er biss ohne den geringsten Widerstand durch ihr Kleid.

Frierend rieb sie sich die Oberarme und dachte ernsthaft darüber nach, wieder zum Zelt zurückzugehen und dort abzuwarten, bis die Sonne höher stieg und die Kälte vertreiben würde. Sie wollte schon wieder aufbrechen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Als sie sich umdrehte, fuhr sie entsetzt und mit einem halblauten, spitzen Schrei ein paar Schritte zurück. Vor ihr stand die bizarrste Kreatur, die sie jemals gesehen hatte! Im Halbdunkeln und aus einem Dutzend Schritten Entfernung hätte man sie vielleicht für ein Pferd halten können, aber das Tier war viel größer als jedes Ross, das sie je zu Gesicht bekommen hatte, und unvorstellbar hässlich. Es hatte lange, dürre Beine mit übergroßen, plumpen Fußballen und dicken, wie geschwollen aussehenden Kniegelenken. Sein Fell war struppig und ungepflegt. Der kurze Schwanz peitschte nervös hin und her. Auf seinem Rücken befand sich so etwas wie ein Buckel und am Ende des langen, biegsamen Halses saß ein abgrundtief hässlicher Schädel mit einem breiten, schlabbernden Maul und riesigen Augen, die Robin - wie es ihr schien - voller tückischer Bosheit musterten. Es hatte riesige stumpfe Zähne, die ununterbrochen mahlten, und es stank wortwörtlich zum Himmel.

Hinter dieser grässlichsten Kreatur unter den Geschöpfen Gottes erscholl helles Kinderlachen. Robin wandte nervös den Blick und begegnete Nemeths breitem und eindeutig schadenfrohem Grinsen. Robin sah zu dem Ungeheuer hoch und dann wieder in das Gesicht des Mädchens. Plötzlich kam sie sich ziemlich albern vor. Nachdem sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte - und vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass dieses Kind ganz eindeutig keine Angst vor dem Monster zu haben schien -, begann ihr Verstand ganz allmählich wieder zu arbeiten. Jetzt erinnerte sie sich auch daran, dass Salim ihr von genau diesen Tieren berichtet hatte: Kamele hatte er sie genannt, manchmal auch Dromedare, was ein Unterschied zu sein schien, auch wenn er Robin nicht ganz klar war. Er hatte ihr erzählt, dass sie in seinem Land sozusagen die Stelle von Pferden einnähmen und diesen, was Ausdauer und auch Schnelligkeit anging, sogar überlegen seien. Zumindest, dachte Robin, übertrafen sie auch den jämmerlichsten Klepper, den sie je gesehen hatte, was Hässlichkeit anging.

Um Nemeth - und vor allem sich selbst - zu beweisen, dass sie keine Angst vor dieser Kreatur hatte, machte sie einen Schritt auf das Kamel zu und blieb erschrocken wieder stehen, als das Tier seinerseits näher kam, den riesigen Kopf senkte und seine Nüstern so dicht an ihr Gesicht brachte, dass Robin von dem Gestank beinahe übel wurde. Sie schloss angewidert die Augen, blieb aber tapfer stehen, selbst als das Monster begann, ihr mit einer langen, schlabbernden Zunge das Gesicht abzulecken.

Nemeth lachte kichernd, kam mit ein paar schnellen Schritten näher und klatschte in die Hände. Das Kamel zuckte erschrocken zurück, sah das Mädchen einen Moment lang fast vorwurfsvoll an, drehte sich dann behäbig um und trottete davon. Jetzt erst bemerkte Robin verwundert die ledernen Fesseln an den Vorderbeinen des Tieres, die ihm lediglich erlaubten, sich mit ungelenken, trippelnden Schritten zu bewegen.

Robin sah dem grotesken Geschöpf stirnrunzelnd nach. Salims Behauptung über die angebliche Schnelligkeit dieser Tiere war wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeint gewesen. Zumindest dieses Kamel schien alle Mühe zu haben, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, denn abgesehen von den Fesseln schaukelte es auch noch bei jedem Schritt so gefährlich nach rechts oder links, dass Robin sich nicht gewundert hätte, wäre es auf die Nase gefallen. Nemeth zupfte an ihrem Kleid und machte eine Geste, deren Bedeutung Robin nicht verstand. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich weiß, du wolltest mir dein Tier zeigen«, sagte Robin. »Anscheinend bist du auch noch stolz auf dieses hässliche Vieh.«

Nemeth nickte heftig, wiederholte ihre Geste... und dann begriff Robin auch, was sie ihr sagen wollte.

»Die... die Milch?«, fragte sie. Ihre Stimme wurde ein wenig schrill. »Du willst mir sagen, ich habe Milch von diesem... diesem Ding getrunken?« Sie verstand Nemeths Antwort zwar nicht, aber an der Bedeutung ihres Nickens gab es keinen Zweifel.

»Oh«, sagte Robin. »Ja, das war... ganz köstlich. Ich danke dir noch einmal, aber ich glaube, in Zukunft werde ich doch lieber Wasser trinken.«

Nemeth deutete aufgeregt gestikulierend zum Pfad am Fuß des Hügels hinab, aber Robin war für den Augenblick nicht nach weiteren Abenteuern zumute. Sie schüttelte sanft, doch entschlossen den Kopf, drehte sich wieder herum und sah auf das Dorf hinab. Ihr war ebenso wenig danach, wieder ins Zelt zurückzugehen und tatenlos abzuwarten, was das Schicksal als Nächstes mit ihr vorhatte. Da sie ja schließlich keine Gefangene hier war, konnte sie die Gelegenheit ebenso gut nutzen und sich einen Überblick über das Dorf und seine Bewohner verschaffen.

Vom Kamm des Hügels herab konnte sie das gesamte Dorf überblicken. Ihre Einschätzung von gestern schien richtig gewesen zu sein, auch wenn sie noch ein paar weitere Häuser entdeckte. Dennoch lebten also an diesem Ort kaum mehr als hundert Menschen, vermutlich waren es eher weniger. Kaum eines der Häuser schien wesentlich größer zu sein als jenes, in dem Nemeth mit ihrer Familie lebte.

Neben und zwischen etlichen Gebäuden waren große Gestelle aufgebaut, auf denen Netze unterschiedlicher Größe und Machart trockneten. Bei einigen Häusern gab es Pferche mit Zäunen aus ausgeblichenem Treibholz. Sie waren jedoch alle leer. Vielleicht hielten die Dorfbewohner dort Schafe und Ziegen oder auch Tiere, von denen sie noch nie zuvor etwas gehört hatte.

Unten am Ufer, nahe dem Boot, machte sie eine Bewegung aus. Vielleicht würde sie ja Saila dort treffen. Ohne auf Nemeth zu achten, die unentwegt weiter an ihrem Gewand zupfte und ihr anscheinend etwas auf der anderen Seite des Hügels zeigen wollte, lief sie wieder den Pfad hinab. Wenn es sich bei den Bewohnern dieses Dorfes wirklich um Fischer handelte, dann machten sie sich jetzt vermutlich bereit, um mit dem ersten Licht des Tages auszulaufen und auf Fischfang zu gehen.

Sie kam an einigen Häusern vorbei, die allesamt verlassen waren. Die Stille hier war unheimlich. Vielleicht waren die Fischerboote auch schon ausgelaufen, beruhigte Robin sich in Gedanken. Als sie den Strand erreichte, war auch dort niemand zu sehen. Nur ganz weit draußen auf dem bleigrauen Meer entdeckte sie zwei winzige dreieckige Segel. Die Bewegung nahe dem Boot rührte vom Segeltuch her, mit dem es abgedeckt war. Träge flatterte der schmutzige Stoff in Morgenwind. Nach den zurückliegenden Tagen auf See interessierte sich Robin für alles, nur nicht für Schiffe. Dennoch fragte sie sich, warum man das Boot wohl abgedeckt hatte. Die Reling des langen Fischerkahns war recht hoch und man konnte nicht ohne Weiteres ins Innere des Bootes sehen. Dicke Schmeißfliegen krochen über das Segeltuch. Es stank nach Fisch, Tang und noch etwas anderem, Süßlichem. Robin zögerte noch einen Augenblick, dann griff sie nach der Reling. Nemeth, die ihr gefolgt war, stieß einen ängstlichen Schrei aus und zerrte heftig am Saum ihres Kleides.

»Keine Angst«, sagte Robin. »Ich habe nicht vor, das Boot ins Wasser zu schieben und damit davonzurudern.« Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um einen Blick über die niedrige Bordwand zu werfen. Und dann wünschte sie sich, sie hätte auf Nemeth gehört.

Das Boot war nicht leer. Direkt vor ihr lag der Leichnam eines Mannes. Es war kein Muselmane, sondern die übel zugerichtete Leiche eines Tempelritters. Sein Gesicht war von einer schrecklichen Wunde entstellt und von eingetrocknetem Blut bedeckt, sodass sich Robins Magen beim Anblick des Toten zu einem harten Klumpen zusammenballte, der mit aller Macht versuchte, ihren Hals emporzuklettern. Ihr Herz begann zu pochen. Der Schrecken ließ eisige Schauer über ihren Rücken laufen und ihre Knie wurden weich. Und dennoch zwang sie sich, zweimal tief ein- und auszuatmen und dann die Augen wieder zu öffnen und dem furchtbaren Anblick Stand zu halten.

Das Bild, das sich ihr bot, wurde auch beim zweiten Anblick nicht besser, aber sie war plötzlich sicher, dass es sehr, sehr wichtig für sie sein könnte, den Inhalt dieses Bootes genauer in Augenschein zu nehmen. Es gab nur diesen einen Leichnam. Darüber hinaus war das Boot so gefüllt mit Schwertern, Dolchen, Kleidungsstücken, Helmen, Schilden, Rüstungsteilen, Bögen und anderem Strandgut, dass sich Robin fragte, wie es bei diesem Gewicht überhaupt noch hatte schwimmen können. Allein die Waffen, die der Fischerkahn geladen hatte, mussten ausreichen, um eine kleine Armee auszustatten. Und es waren längst nicht nur die Krummsäbel und Rundschilde der Muselmanen. Da waren auch Breitschwerter, Morgensterne und Streitkolben - und mindestens ein Dutzend weißer Wappenröcke mit dem roten Tatzenkreuz der Tempelritter.

Während Robin das Boot weiter durchsuchte, wurde ihr nur allmählich klar, was geschehen war und auch wie sie hierher gekommen war. In dem dichten Nebel am vergangenen Tag hatte es keiner von ihnen bemerkt, aber die Schlacht gegen die Sarazenen musste in unmittelbarer Nähe des Ufers stattgefunden haben. Möglicherweise waren die Fischer hier sogar von seinem Lärm angelockt worden. Vielleicht hatte sie auch nur eine Laune des Schicksals mitten auf das maritime Schlachtfeld geführt. So oder so - sie mussten sich in unmittelbarer Nähe befunden haben, als Robin über Bord gegangen war. Doch allem Anschein nach war ihnen weniger daran gelegen gewesen, Überlebende der Schlacht zu finden und möglicherweise sogar vor dem Ertrinken zu retten, als vielmehr möglichst viel Beute zu machen.

Warum sie den toten Templer aus dem Wasser gezogen und mitgebracht hatten, blieb Robin ein Rätsel, aber sie verspürte ein neuerliches, noch kälteres Schaudern, als ihr klar wurde, dass Salim ihr in mehr als einer Beziehung das Leben gerettet hatte, als er darauf bestand, dass sie das schwere Kettenhemd auszog und sich ihrer Waffen entledigte. Hätten die Fischer sie im Wasser treibend gefunden und nicht praktisch auf Anhieb gesehen, dass sich unter dem weißen Wappenrock kein Mann verbarg, hätten sie sie zweifellos ertrinken lassen - oder ihr vielleicht auch kurzerhand die Kehle durchgeschnitten.

Hinter ihr wurde plötzlich eine erboste Stimme laut. Robin verstand zwar die Worte nicht, aber ihr Sinn war ihr klar, noch bevor sie sich herumdrehte und ins Gesicht des bärtigen Mannes blickte, den sie schon am Tag zuvor kennen gelernt hatte. Er war nicht allein, sondern in Begleitung von fünf oder sechs anderen Arabern gekommen, die kein bisschen weniger aufgeregt und wütend zu sein schienen als er.

Robin wich unwillkürlich zwei Schritte vom Boot zurück. Sie konnte verstehen, dass der Bärtige nicht begeistert war, sie schon wieder - und noch dazu allein, denn Nemeth war offensichtlich davongelaufen - hier draußen zu erblicken. Die Mischung aus rasender Wut und eindeutigem Schrecken in seinen Augen blieb ihr aber ein Rätsel. Noch immer wütend auf sie einbrüllend und mit den Armen fuchtelnd, kam der Bärtige weiter auf sie zu.

Robin hob instinktiv die Arme vor das Gesicht; nicht aus Angst, dass er sie schlagen könnte, sondern einfach aus einem Reflex heraus. Der Bärtige deutete die Bewegung aber ganz offensichtlich falsch. Er packte sie grob mit der linken Hand an der Schulter - so fest, dass der Schmerz Robin die Tränen in die Augen trieb - und holte mit der anderen aus, um sie nun tatsächlich zu schlagen. Das war zu viel. Ganz so, wie Salim es ihr unzählige Male gezeigt hatte, griff sie nach seiner Hand, versuchte jedoch nicht, seinen Schlag abzufangen, sondern zerrte noch zusätzlich an seinem Arm und drehte sich dabei blitzartig halb um ihre eigene Achse. Der Bärtige ächzte vor Überraschung, als er plötzlich nach vorne gerissen wurde und das Gleichgewicht verlor. Er stolperte an ihr vorbei und prallte mit großer Wucht gegen das Boot. Mit einem ächzenden Wimmern brach er in die Knie. Robin wich rasch ein Stück zurück und spannte sich, um auf einen neuen Angriff vorbereitet zu sein.

Aber es kam keine weitere Attacke. Der Bärtige krümmte sich, presste die Arme gegen den schmerzenden Leib und rang japsend nach Luft. Für einen Augenblick legte sich eine fast schon geisterhafte Stille über den Strand. Dann begann einer der Männer zu lachen. Einen Moment später stimmte ein Zweiter ein, und dann hallte das ganze Dorf vom grölenden Hohngelächter der Männer wider, - nur Robin lachte nicht. Ganz im Gegenteil: Sie verfluchte sich in Gedanken dafür, den Schlag nicht einfach hingenommen zu haben. Wer immer diese Männer waren, mittlerweile war Robin klar, dass die Situation viel komplizierter war, als sie bisher angenommen hatte, und sie nicht automatisch davon ausgehen konnte, unter Freunden zu sein. Und indem sie den Bärtigen um eines billigen Triumphes willen zu Boden geworfen hatte, hatte sie sich vielleicht des einzigen Vorteils beraubt, den sie überhaupt besaß. Ein zweites Mal würde sie ihn wohl kaum überrumpeln können.

Mühsam rappelte sich der Bärtige wieder auf, wobei er sich mit der rechten Hand am Bootsrumpf festhalten musste und die andere immer noch gegen die Rippen presste. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, aber seine Augen loderten vor Wut. Hätte er in diesem Moment die Kraft dafür gehabt, dann hätte er sich zweifellos auf sie gestürzt, um sie niederzuschlagen. Aber auch so war Robin klar, dass die Sache damit ganz und gar nicht erledigt war.

Sie zog sich einen weiteren Schritt zurück, und blieb dann aber wieder stehen, als sie spürte, dass die Männer hinter ihr nicht zur Seite wichen. Einige von ihnen lachten noch immer, aber auf den Gesichtern der meisten hatte sich eine Mischung aus Überraschung und Unmut breit gemacht. Und da war vielleicht auch noch etwas anderes, etwas, das sie nicht genau deuten konnte. Ja, dachte sie noch einmal, es war bestimmt ein Fehler gewesen, den Bärtigen niederzuwerfen. Doch es war nun einmal geschehen und ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

Der Mann kam torkelnd auf die Füße und tat einen Schritt auf sie zu. Er streckte den Arm nach ihr aus, aber Robin spürte genau, dass er nicht noch einmal versuchen würde, sie zu schlagen. Gestikulierend kam er näher und es war nicht nötig, dass sie die Worte verstand, die in einem wahren Schwall auf sie niederprasselten. Sie nickte ein paar Mal, zum Zeichen, dass sie nun tun würde, was er von ihr verlangte. Der Bärtige deutete herrisch in die Richtung, in der sich das Zelt befand. Robin senkte den Blick, schlang das Tuch enger um Kopf und Schultern und hielt demütig den Blick gesenkt, als sie sich auf einen unmissverständlichen Befehl des Bärtigen hin gehorsam in Bewegung setzte.

Die anderen Männer wichen zur Seite, um ihr Platz zu machen. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass Nemeth nicht weit entfernt vor ihr herlief. Zumindest würde sie so den Weg finden und nicht etwa versehentlich die falsche Richtung einschlagen, was den Bärtigen womöglich noch wütender gemacht hätte.

Robin bedauerte immer mehr ihre übereilte Reaktion. Sie hatte sich geschworen, sich nie wieder verprügeln zu lassen, und Salim hatte über ein Jahr voller Geduld und Langmut aufgewendet, ihr beizubringen, wie man sich verteidigte. Dennoch hätte sie jetzt alles darum gegeben, sich dieses eine Mal nicht gewehrt zu haben. Sie wusste nicht viel über dieses Volk, aber ihre Erfahrungen mit Salim hatten ihr gezeigt, wie stolz diese Menschen waren. Durch ihre unbedachte Handlung hatte der Bärtige sein Gesicht verloren, und wie immer er zuvor auch zu ihr gestanden haben mochte: Von diesem Moment an musste er sie einfach hassen.

Er rührte sie nicht noch einmal an, während sie zum Zelt zurückgingen. Dafür folgte er ihr so dichtauf und gestikulierte und schrie so wild, dass sie ein paar Mal stolperte, als hätte er sie tatsächlich gestoßen. Als sie das Zelt erreicht hatte und hineintrat, riss er sie an der Schulter herum und stieß sie in der gleichen Bewegung brutal zu Boden.

Robin rollte sich instinktiv ab und war wieder auf den Füßen, noch bevor der Bärtige richtig begriff, was geschehen war. Es wäre ihr in diesem Moment vermutlich ein Leichtes gewesen, ihn ihrerseits zu packen und nicht nur zu Boden zu werfen, sondern ihm einen solchen Denkzettel zu verpassen, dass er nie wieder die Hand gegen eine vermeintlich wehrlose Frau erheben würde, aber sie beherrschte sich. Es wäre ein tödlicher Triumph. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was die anderen Männer im Dorf mit einer Frau anstellen würden, die sich nachhaltig wehrte. Und gegen alle konnte sie nichts ausrichten.

Robin hätte am liebsten laut aufgeschrien. Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie geglaubt, in Sicherheit zu sein, unter Freunden, zumindest aber bei Menschen, die nicht ihre Feinde waren. Ihre Neugier und ihre Unbeherrschtheit hatten all das zunichte gemacht.

Sie wich so weit vor dem Bärtigen zurück, wie es in der Enge des Zeltes überhaupt möglich war, und hob schützend die Arme vors Gesicht. Dabei achtete sie ganz bewusst darauf, dass die Bewegung nicht aggressiv wirkte, sondern eher übertrieben ängstlich. Ihre Rechnung ging auf. Der Bärtige schrie und gestikulierte weiter, kam ihr aber nicht so nahe, dass er sie zu einer Reaktion gezwungen hätte. Nach einer Weile begann er sich auch wieder zu beruhigen.

Nemeth war ihnen ins Zelt gefolgt. Sie wagte es nicht, irgendetwas zu sagen, sondern blickte weiter aus angstvoll aufgerissenen Augen zu dem Mann auf, der vielleicht ihr Vater, oder aber auch ihr Großvater war. Vielleicht war es einzig ihre Gegenwart, die den Bärtigen davon abhielt, mehr zu tun, als Robin anzubrüllen und wütend mit den Armen zu gestikulieren.

Robin war sich nicht sicher, ob die Situation nicht dennoch ein böses Ende genommen hätte, wäre nicht plötzlich Saila unter dem Eingang aufgetaucht - zweifellos angelockt vom Gebrüll des Bärtigen. Sie schien die Situation mit einem einzigen Blick zu erfassen, denn sie trat sofort und ohne zu zögern zwischen Robin und den Muselmanen und zog - wie schon am Tag zuvor - seinen Zorn für einen Moment auf sich, ja, er schien sogar noch wütender zu werden. Zu Robins Erleichterung ließ er seinen Zorn nicht an Saila aus, sondern wandte sich plötzlich um und stürmte dann erbost aus dem Zelt.

»Danke«, sagte Robin. »Es tut mir wirklich Leid. Ich... ich wollte nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst. Bitte glaub mir das.«

Saila antwortete etwas, das Robin wie üblich nicht verstand, aber ihr Ton war sehr ernst, vielleicht auch erbost.

»Ich verstehe, dass du zornig auf mich bist«, bekannte Robin. »Ich verspreche dir, dass es nicht noch einmal vorkommt.« Sie war nicht sicher, ob sie dieses Versprechen wirklich würde halten können. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Gefühle mit ihr durchgegangen waren und sie Dinge tun ließen, die sie fast sofort bedauerte. Sie durfte nicht vergessen, dass sie hier fremd war. Eine Fremde in einer Welt, die so vollkommen anders und unverständlich war als alles, was sie jemals erlebt hatte, sodass sie eigentlich nur Fehler machen konnte. Das war in Ordnung, solange diese Fehler nur sie betrafen, aber wenn sie damit andere in Schwierigkeiten oder gar in Gefahr brachte, dann ging das eindeutig zu weit.

»Ich verspreche, dass es nicht noch einmal vorkommen wird«, sagte sie in ernstem, fast feierlichem Ton, und Saila schien die Bedeutung ihrer Worte zu erraten, denn sie nickte ein paar Mal und der Ärger verschwand rasch von ihrem Gesicht. Sie bedeutete Robin noch einmal mit einer Geste, das Zelt nicht zu verlassen, dann drehte sie sich ebenfalls um und folgte dem Bärtigen.

Nemeth, die mit ihnen hereingekommen war, sah Robin noch einen Augenblick lang eindeutig erschrocken an. Dann zog auch sie sich zurück und Robin blieb allein mit sich und ihren Gedanken.

Es waren keine sehr angenehmen Gesellschafter. Ganz egal, was sie noch am Morgen gedacht haben mochte: Sie hatte sich zumindest einen Feind in diesem Dorf gemacht, und es war besser, wenn sie in Zukunft auf der Hut war. Sie ging zum Ausgang, wagte aber nicht, das Zelt zu verlassen, sondern blickte nur stumm hinaus. Niemand war in ihrer Nähe. Augenscheinlich war sie keine Gefangene, und doch waren die unsichtbaren Ketten, die sie hielten, so stabil, als wären sie aus dem härtesten Eisen geschmiedet. Sie sah eine geraume Weile in das allmählich heller werdende Licht des neuen Tages hinaus. Schließlich wandte sie sich traurig ab, ging zu dem kleinen Teppich in der Mitte des Raumes zurück, auf dem sie geschlafen hatte, und ließ sich darauf nieder. Sie dachte wieder an Salim, aber nicht einmal dieser Gedanke brachte ihr jetzt noch Trost.


Der Tag, der ihr letzter in diesem Fischerdorf werden sollte, verging quälend langsam. Gegen Mittag kamen Nemeth und ihre Großmutter in Robins Zelt, um ihr Brot, Fisch und eine Schale Kamelmilch zu bringen. Robin nahm das Essen dankbar an, bedeutete der alten Frau aber mit Gesten, dass sie lieber Wasser trinken würde, und bekam es auch. Ihre Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, scheiterten diesmal nicht nur daran, dass sie verschiedene Sprachen sprachen. Es wäre ihr durchaus möglich gewesen, sich zumindest, was das Wesentliche betraf, mit Gesten zu verständigen, aber es wurde bald klar, dass der alten Frau nicht an Unterhaltung gelegen war, und ihre bloße Gegenwart hinderte wohl auch das Mädchen daran, es zu versuchen. Nachdem sie fertig gegessen hatte, nahm die Alte die geleerten Schalen wieder an sich, stand auf und befahl Nemeth mit barschen Worten, ihr zu folgen. Und wieder vergingen endlose, quälend langsam verrinnende Stunden, in denen Robin vollkommen allein in ihrem Zelt blieb.

Erst am späten Nachmittag kehrten die Fischerboote von der See zurück. Robin konnte die Stelle, an der sie an Land gingen, von ihrem Zelt aus nicht sehen, aber sie hörte aufgeregte Stimmen, Rufe und Schritte sowie eine allgemeine Unruhe, die sich in dem kleinen Dorf ausbreitete. Kurze Zeit darauf kehrten Saila, Nemeth und der Bärtige zurück. In ihrer Begleitung befand sich ein weiterer Muselmane, den Robin bisher noch nicht gesehen hatte. Dennoch war ihr sofort klar, dass dieser Mann weder ein Fischer war, noch aus dem Dorf stammte.

Er war sehr groß und - soweit man das unter dem lose fallenden Kaftan beurteilen konnte - von schlanker, fast athletischer Statur. An seiner Seite hing ein Krummsäbel, und Robins Herz begann unwillkürlich schneller zu klopfen, als sie seinem Blick begegnete. Der harte Glanz in seinen Augen erinnerte sie an den Mann, gegen den sie auf der sinkenden Sankt Christophorus gekämpft hatte. Vielleicht war er einer jener Sarazenen, denen sie mit Müh und Not entkommen war. Und vielleicht war er hierher gekommen, weil sich die Kunde von der Christenfrau, die das Meer ausgespien hatte, bereits im Land verbreitete und er zu Ende bringen wollte, was seine Kameraden vor zwei Tagen begonnen hatten.

Sein Blick war jedoch nicht wirklich feindselig. Er musterte sie alles andere als freundlich oder gar wohlgesinnt, aber sie las auch keinen Hass in seinen Augen. Seine linke Hand lag auf dem Schwert, jedoch auf eine Art, als läge sie einfach immer dort. Eine ganze Weile sprach er mit dem Bärtigen und etwas kürzer mit Saila - ohne sie in dieser Zeit auch nur einmal aus den Augen zu lassen -, dann trat er einen Schritt auf Robin zu und sprach sie auf Arabisch an: »Wer bist du? Wo kommst du her?«

Robin hätte vor Erleichterung fast gejauchzt. Diese einfachen Worte verstand Robin, als sie sich mit einiger Mühe in Erinnerung rief, was Salim ihr im Laufe des zurückliegenden Jahres beigebracht hatte. Es war gerade so viel, sich notdürftig zu verständigen, keinesfalls aber reichte es aus, um eine richtige Unterhaltung zu führen. Und dennoch hatte sie das Gefühl, einem Menschen gegenüberzustehen, mit dem man sich nicht bloß mit Händen und Füßen verständigen konnte und der ihr womöglich sogar helfen würde. Vielleicht war er über den Pfad gekommen, der in die Hügel führte. Ein reisender Händler, der sie zur nächsten christlichen Stadt mitnehmen würde.

»Robin«, sagte sie. »Mein Name ist Robin. Und ich komme von...« Fast hätte ihre Erleichterung sie dazu gebracht, etwas sehr Dummes zu sagen. Im buchstäblich allerletzten Moment hielt sie jedoch eine innere Stimme zurück. Statt sich um Kopf und Kragen zu reden, machte sie eine vage Bewegung in Richtung des Meeres und sagte: »Von weit her. Aus dem Abendland.«

Ein Schatten huschte über das Gesicht des Fremden, als sie das Wort »Abendland« erwähnte, aber er sagte nichts, und Robin fuhr radebrechend und in dem vermutlich schlechtesten Arabisch fort, das ihr Gegenüber jemals gehört hatte: »Ich war auf einem Schiff. Wir sind überfallen worden. Und ich bin über Bord gefallen. Könnt Ihr mir helfen?«

Sie bekam auch diesmal keine Antwort, obwohl sie ziemlich sicher war, dass der Araber sie verstanden hatte. Er sah sie einfach nur weiter an, auf eine Art, die ihr mit jeder Sekunde weniger gefiel. Plötzlich drehte er sich mit einem Ruck herum und begann nun wieder, in dem Robin unverständlichen Dialekt der Fischer mit dem Bärtigen zu reden. Soweit sie der Unterhaltung folgen konnte, waren die beiden nicht unbedingt einer Meinung, sondern stritten einen Moment hitzig. Schließlich aber nickte der Bärtige, und sie besiegelten, was immer sie ausgemacht hatten, mit einem Handschlag. Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ der Fremde das Zelt.

Auch Saila, Nemeth und der Bärtige gingen, doch bevor sie sie allein ließen, bedachte Saila Robin noch einmal mit einem sehr sonderbaren Blick. Diesmal war sie sicher, Schmerz darin zu lesen und ein so tief empfundenes Mitleid, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Etwas stimmte hier nicht. Dieser Fremde war nicht gekommen, um ihr zu helfen. Robin glaubte zwar nicht mehr, dass er zu den Sarazenen auf den Schiffen gehörte, denn wäre es so gewesen, hätte er sie zweifellos auf der Stelle getötet, dennoch war sie sich sicher, dass dieser Mann keinesfalls in freundlicher Absicht gekommen war.

Verwirrt und weitaus mehr beunruhigt, als sie selbst zugeben wollte, ging sie wieder zu ihrem Teppich zurück und ließ sich darauf nieder. Sie musste sich innerlich zur Ruhe zwingen. Nach allem, was sie gerade erlebt hatte, wäre sie am liebsten auf der Stelle aus dem Zelt gestürmt und davongelaufen. Aber ihre Vernunft sagte ihr, dass sie wahrlich genug Fehler begangen hatte. Vor allem aber war sie noch immer nicht in der Lage, einen möglicherweise tagelangen, strapaziösen Fußmarsch zu bewältigen. Sie würde hier bleiben, - zumindest noch für den Rest des Tages und die darauf folgende Nacht, und sich morgen früh entscheiden.

Es vergingen nur wenige Minuten, bis Saila und ihre Mutter zurückkehrten. Saila betrat das Zelt mit gesenktem Blick, während die ältere Frau Robin auf eine Weise musterte, die ihr abermals einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Irgendetwas war geschehen. Das Gespräch zwischen dem Bärtigen und dem hoch gewachsenen Fremden schien tatsächlich nicht so harmloser Natur gewesen zu sein, wie sie sich gerade einzureden versucht hatte. »Ich hoffe, ich habe euch nicht schon wieder Ärger bereitet«, sagte sie. »Ich wollte wirklich nicht...«

Die Alte brachte sie mit einer herrischen Geste zum Schweigen, zugleich warf sie ihr ein Bündel vor die Füße und sagte etwas, das eindeutig den Tonfall eines Befehls hatte.

Robin versuchte vergeblich, einen Blick aus Sailas Augen aufzufangen, sah dann einen Moment verständnislos ihre Mutter an, um dann ziemlich beunruhigt das Bündel anzustarren, das die Alte mitgebracht hatte. Zögernd bückte sie sich danach, faltete es auseinander und stellte fest, dass es sich um ein schwarzes Kleid handelte, in Schnitt und Farbe ähnlich dem, das sie trug, aber aus deutlich gröberem Stoff gewoben. Auch Kopftuch und Schleier waren viel schwerer und schmucklos. Zusätzlich fand sie in dem Bündel ein Paar grob gefertigte, stabil aussehende Sandalen. Offensichtlich erwartete die Alte von ihr, dass sie die Kleider, die sie trug, gegen diese hier austauschte. Vielleicht war ihre Sorge doch übertrieben gewesen. Es waren eindeutig Kleidungsstücke, die für eine lange Reise gedacht waren.

Sie zögerte noch einen letzten Moment, aber dann hob sie gehorsam die Schultern und zog sich um, so rasch sie konnte. Saila sah sie immer noch nicht an, sondern starrte mit unbewegtem Gesicht zu Boden, und es war gerade diese bemühte Beherrschtheit, die aus dem unguten Gefühl in Robin allmählich Furcht werden ließ. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ihr war mittlerweile klar geworden, dass dieser Fremde sie mitnehmen würde, doch jetzt war sie ganz und gar nicht mehr sicher, ob sie das tatsächlich wollte.

Sie streifte das Gewand über, das man ihr hingeworfen hatte. Es war viel schwerer als das Kleid, das sie bisher getragen hatte, und so grob, dass es sogleich auf der Haut zu scheuern begann. Mit dem schweren Stoff am Leib klebend durch die glühende Mittagssonne zu reiten würde eine reine Qual werden. In diesem unbequemen knöchellangen Kleid auf ein Pferd zu steigen erschien ihr so gut wie unmöglich. Vermutlich erwartete man von ihr, dass sie im Damensitz reiten würde.

Robin drehte sich zu Saila herum, legte sich das Tuch über Kopf und Schultern und bat sie mit Gesten, ihr dabei zu helfen, auch den Schleier anzulegen. Die junge Frau entsprach ihrer Bitte, wich jedoch ihrem Blick weiter aus und Robin glaubte für einen Moment, nicht nur Schmerz, sondern das feuchte Schimmern von Tränen in ihren Augen zu sehen. Sie war nicht sicher, aber allein der Gedanke, dass es so sein könnte, ließ sie vor Furcht innerlich erschauern. Sie verfluchte sich noch einmal für ihre Unbeherrschtheit gegenüber dem bärtigen Fischer. Hätte sie sich nicht dazu hinreißen lassen, ihn niederzuschlagen, dann hätten ihre Aussichten für eine Flucht jetzt eindeutig besser gestanden. Aber was nutzte es jetzt noch, sich mit Worten wie »hätte«, »wenn« und »wäre« abzugeben? Vielleicht sah sie die Dinge ja auch einfach zu schwarz.

»Also gut«, sagte sie, »gehen wir.« Sie begleitete ihre Worte mit einer entsprechenden Geste, woraufhin sich Saila herumdrehte und so schnell aus dem Zelt lief, dass es schon fast einer Flucht gleichkam. Hätte Robin jetzt noch im Leisesten daran gezweifelt, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war, dann hätte die Haltung der Alten diese Zweifel endgültig zerstreut. Sie verzog keine Miene, als Robin hinter Saila das Zelt verließ, und folgte ihr dann in so dichtem Abstand, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu ergreifen. Es war sinnlos, sich noch etwas vorzumachen, dachte Robin. Spätestens seit dem Moment, in dem der Fremde ihr Zelt betreten hatte, war sie nicht mehr Gast in diesem Dorf, sondern Gefangene.

Sie wurde zu dem Platz in der Ortsmitte geführt. Von dort aus hatte sie freien Blick auf das Boot am Strand. Einige Männer und Frauen aus dem Dorf waren damit beschäftigt, die Beutestücke zu sortieren und zu handlichen Bündeln zusammenzuschnüren. Andere trugen diese Pakete dann den Hügel hinauf und verschwanden mit ihrer Last auf der anderen Seite. Der Fremde, der vorhin in ihr Zelt gekommen war, beaufsichtigte die Arbeit zusammen mit zwei weiteren Männern, die ähnlich wie er gekleidet waren und ebenfalls Waffen trugen. Robin wurde zu ihnen gebracht, aber Sailas Mutter ergriff sie am Arm und hielt sie mit einem groben Ruck fest, als sie sich den Männern auf fünf Schritte genähert hatten.

Robin widerstand nur mit Mühe dem Impuls, sich mit einem Ruck frei zu machen. Vielleicht hatte sie ja Glück, und der Bärtige verschwieg dem Fremden in seinem Stolz, dass Robin nicht das wehrlose Kind war, für das er sie möglicherweise hielt. Sie beging auch nicht den Fehler, dem Krieger direkt in die Augen zu blicken und ihn damit vielleicht herauszufordern, sondern starrte wortlos zu Boden und versuchte, ihn und die anderen aus den Augenwinkeln zu beobachten. Was sie sah, rundete das Bild ab, das sie sich bereits auf dem Weg hierher von der Situation gemacht hatte.

Die Fremden waren offensichtlich Händler, denen die Fischer ihre Beute verkauften, und offensichtlich gehörte auch sie zu dieser Beute. Der Gedanke war so erschreckend, dass sie ihn im ersten Moment einfach von sich wies. Aber er war unglückseligerweise auch der einzige, der Sinn machte. Plötzlich verstand sie die Trauer in Sailas Blick. Und ebenso plötzlich wurde ihr klar, dass das, was sie für Schmerz gehalten hatte, vielleicht viel mehr ein Ausdruck von schlechtem Gewissen gewesen war. Aber noch immer mochte sie nicht glauben, dass die Fischer sie nicht aus purem Mitleid und Menschlichkeit aus dem Wasser gezogen hatten, vielmehr weil sie ihr wertvollstes Beutestück gewesen war.

Genau in diesem Moment, fast als hätte er ihre Gedanken gelesen und wollte nun auch ihren letzten Zweifel zerstreuen, deutete der Bärtige mit einer fordernden Geste in ihre Richtung und streckte gleichzeitig die andere Hand nach dem Krieger aus. Dieser antwortete mit einem ärgerlichen Kopfschütteln, aber der Bärtige wiederholte seine Bewegung und bekräftigte sie mit entschieden klingenden Worten. Schließlich griff der Krieger unter seinen Umhang und zog einen Beutel hervor, aus dem er sieben kleine, golden schimmernde Münzen auf die ausgestreckte Hand des Bärtigen abzählte. Die Finger des Fischers schlossen sich so schnell darum wie die Fänge einer zuschnappenden Tarantel. Nach einem letzten, eindeutig boshaften Blick in Robins Richtung drehte er sich herum und ging davon.

Gemächlich wandte sich der Krieger um, kam auf Robin zu, legte die Hand unter ihr Kinn, und schob ihr Gesicht nach oben. Mit der anderen löste er den Schleier, den sie vor dem Gesicht trug. Robin versteifte sich und spannte die Nackenmuskeln an, so sehr sie nur konnte, aber der Krieger drehte ihr Gesicht mühelos zur Seite. Dann zwang er ihr sogar mit Daumen und Zeigefinger die Lippen auseinander, um ihre Zähne, zu begutachten, als wäre sie ein Pferd, das er gerade auf dem Markt erstanden hatte.

Dieser Gedanke war zu viel. So unvernünftig es sein mochte - Robin schlug mit einer blitzschnellen Bewegung seinen Arm zur Seite und wich gleichzeitig einen Schritt zurück. Ein Ausdruck von Verblüffung machte sich auf dem Gesicht des Kriegers breit, und sie wäre nicht überrascht gewesen, hätte er sie auf der Stelle niedergeschlagen. Stattdessen aber schüttelte er nur den Kopf und begann plötzlich zu lachen. Er lachte nicht sehr lange, und es war auch kein Lachen, das Robin gefallen hätte, aber wenigstens schlug er sie nicht.

Mit einer herrischen Geste befahl er ihr, zu ihm zu kommen. Robin schüttelte heftig den Kopf und trat im Gegenteil einen weiteren Schritt zurück. Daraufhin verdüsterte sich das Gesicht des Kriegers wieder. Ohne noch etwas zu sagen, ging er auf sie zu, packte sie mit der linken Hand hart an der Schulter und streckte die andere nach ihrem Gesicht aus. Robin war davon überzeugt, dass er sie nun schlagen würde, doch befestigte er nur wieder den Schleier, ehe er ihr erneut befahl: »Komm mit mir«, sagte er.

»Nein«, erwiderte Robin, ebenso entschieden wie er, und auf Arabisch.

»Dann werde ich dir wehtun«, sagte der Krieger. »Willst du das?« In seiner Stimme war nicht einmal ein Hauch einer Drohung. Aber es war gerade die Gelassenheit, die Robin begreifen ließ, wie bitter ernst seine Worte gemeint waren. Sie hatte von diesem Mann kein Mitleid zu erwarten.

»Nein«, antwortete sie. »Aber rühr mich nicht noch einmal an.«

Der Krieger verzichtete auf eine Antwort. Er machte nur noch einmal eine - diesmal einladend wirkende - Geste, und diesmal siegte Robins Verstand über ihren Stolz. Sie trat an seine Seite und folgte dann den Dörflern, die die Waffenbündel den steinigen Hang hinauftrugen.

Robin war nicht überrascht, auf der anderen Seite des Hügels eine stattliche Anzahl weiterer Fremder vorzufinden, die den Fischern ihre Lasten abnahmen und dann auf Maultiere und Kamele verluden, die in langer Reihe auf dem Pfad am Fuß des Abhangs aufgereiht standen. Aus ihrer Besorgnis war mittlerweile pure Angst geworden, obwohl sie noch beharrlich gegen dieses Gefühl ankämpfte. Inzwischen klopfte ihr Herz bis in den Hals und sie war mit einem Mal froh, das grobe Gewand zu tragen, denn darunter konnte man das Zittern ihrer Hände und Knie wenigstens nicht sehen. »Wohin... bringt Ihr mich?«, fragte sie.

Ihr Begleiter sah sie auf eine Art an, als wäre er überrascht, dass sie es überhaupt wagte, ihn anzusprechen. »Das geht dich nichts an«, antwortete er. »Geh weiter!«

»Bin ich... bin ich Eure Gefangene?«, fragte Robin. Die Frage schien den Krieger im ersten Moment ehrlich zu verblüffen. Er zog die Augenbrauen zusammen und maß sie mit einem schwer zu deutenden Blick, dann spielte ein abfälliges Lächeln um seine Lippen. »Das liegt ganz bei dir«, antwortete er. »Wenn du keine Schwierigkeiten machst, wird die Reise einigermaßen bequem für dich verlaufen. Wenn nicht...« Er ließ den Satz unbeendet und hob viel sagend die Schultern, aber das Schweigen nach seinen Worten war Antwort genug.

Auch wenn Robin das Arabisch des Fremden wenigstens etwas verstand, im Vergleich zu dem Kauderwelsch der Fischer, so war sie sich keineswegs sicher, ob sie für ihre Frage die richtigen Worte gewählt hatte. Seine Blicke jedoch, sein Gesichtsausdruck und seine Gesten waren in diesem Moment Antwort genug. Als Robin den Missmut in seinen Augen gewahrte, ging sie rasch weiter und nutzte die Gelegenheit, die kleine Karawane noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Sie bestand aus fünfzehn bis zwanzig Tieren und ungefähr genauso vielen Männern, von denen einige den Fischern beim Beladen der Kamele und Maultiere halfen. Die meisten jedoch standen nur tatenlos herum und begnügten sich damit, bedrohlich auszusehen. Robin war oft genug Menschen begegnet, die Angst hatten, um die Bewegungen und die Blicke der Fischer richtig zu deuten. Mochten sie auch Handel mit diesen Männern treiben - so waren sie ganz gewiss nicht ihre Freunde. Außer den Tieren gab es noch zwei große Karren mit kastenförmigen Aufbauten. Hinter den Wagen schienen noch weitere Begleiter der Karawane zu stehen, doch waren sie durch die Karren so weit verdeckt, dass Robin ihre Anzahl nicht ausmachen konnte. Es kam ihr jedoch so vor, als seien sie merkwürdig dicht zusammengedrängt.

Am Fuße des Hügels angekommen, blieb sie stehen und sah ihren Begleiter unschlüssig an. Er deutete nach rechts, und Robin ging ein Stück weiter, doch dann stockte ihr Schritt. Es war weder Neugier noch Erschöpfung, was sie am Weitergehen hinderte, sondern der pure Schrecken: Die Menschen hinter dem Wagen waren keine Wachen oder Lastenträger, sondern Sklaven. Die meisten waren junge Männer, aber es gab auch ein paar Frauen und etliche Kinder darunter, und alle waren mit groben Stricken an den Händen aneinander gebunden.

»Großer Gott!«, flüsterte sie entsetzt.

»Dein Christengott wird dir hier nicht helfen«, verhöhnte sie der Krieger. »Er hat keine Macht in diesem Land. Du weißt doch: Hier ist sogar sein Sohn gestorben.«

Robin sah ihn entsetzt an, wagte es jedoch nicht, zu antworten; stattdessen drehte sie sich wieder herum und blickte zu den aneinander gebundenen Sklaven. Erst jetzt konnte sie sehen, wie viele es wirklich waren: Es mussten fünfzig oder mehr sein, und kaum einer von ihnen befand sich in einem guten Zustand. Viele sahen aus, als hätten sie einen tagelangen Marsch und schreckliche Entbehrungen hinter sich. Einige schienen kaum noch die Kraft zu haben, sich auf den Beinen zu halten.

»Ihr... Ihr seid Sklavenhändler?«, murmelte sie. Die Frage war reichlich überflüssig und dennoch ließ der Krieger sich zu einer Antwort herab.

»Ja. Aber mach dir keine Sorgen. Wenn du vernünftig bist und tust, was ich dir sage, dann wirst du deutlich bequemer reisen.« Statt seine Worte näher zu erläutern, packte er sie grob am Arm und stieß sie eilig vor sich her, sodass sie laufen musste und ein paar Mal fast aus dem Tritt gekommen und gestürzt wäre. Schließlich erreichten sie das Ende der langen Kette aus aneinander gebundenen, ausgemergelten Menschen, von denen die meisten zu schwach zu waren, um überhaupt Notiz von ihr zu nehmen.

Der Anblick jagte Robin einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. Ihr Herz schien sich zusammenzuziehen, bis es schwer wie ein Stein in ihrer Brust lag. Obwohl sie mit jedem Moment neue Schrecknisse und noch mehr Leid sah, war es ihr zugleich auch unmöglich, den Blick von den aneinander gebundenen Sklaven zu wenden. Noch vor drei Tagen, während des Kampfes gegen die Sarazenen, war sie fest davon überzeugt gewesen, das Schlimmste mitzuerleben, was Menschen einander antun konnten. Jetzt wusste sie, dass das nicht stimmte. Dies hier war unendlich grausamer.

Am Ende der langen Kette aus Menschenleibern warteten zwei weitere Kamele und ein dritter, von zwei kräftigen Pferden gezogener Karren auf sie. Ihr Begleiter zerrte sie zum hinteren Ende des Wagens und hielt Robin dabei mit der linken Hand mit eisernem Griff fest, während er mit der anderen den schweren Riegel zurückschob, mit dem die Tür des Wagens gesichert war. Dahinter war es so dunkel, dass Robin nur ein schwarzes Rechteck wahrnahm. Bei diesem Anblick erwachte sie aus ihrer Lethargie und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Griff des Sklavenhändlers. Vergebens! Es bereitete ihm nicht die geringste Mühe, sie in den Karren hineinzustoßen. Als sie heftig auf den hölzernen Boden der Kutsche, aufschlug schürfte sie sich die Knie und die Handflächen an den rauen Brettern auf. Mit einem gepeinigten Keuchen rollte sie sich auf die Seite.

Dann biss sie die Zähne zusammen, um den Schmerz zu überwinden und sich wieder hochzustemmen. Abwehrbereit hob sie die Arme, fest davon überzeugt, dass der Sklavenhändler hinter ihr in den Wagen steigen und unverzüglich über sie herfallen würde. Der blieb jedoch reglos an der Tür stehen und sah sie mit einer Mischung aus Überraschung, aber auch widerwilliger Bewunderung an.

»Was willst du von mir?«, fragte Robin keuchend. »Ich bin nichts wert. Niemand wird ein Lösegeld für mich bezahlen.«

Der Sklavenhändler schürzte abfällig die Lippen. »Das wird sich zeigen«, antwortete er. »Wir brechen auf, sobald die Kamele beladen sind. Wenn wir unser Nachtlager aufschlagen, komme ich wieder. Bis dahin kannst du überlegen, ob du vernünftig sein und die Reise bequem zurücklegen oder lieber zusammen mit den anderen zu Fuß gehen willst. Aber überleg es dir gut. Der Weg ist weit.« Er deutete mit einer geringschätzigen Geste in Richtung der Sklaven. »Ein Drittel von ihnen wird das Ziel nicht erreichen.«

»Wohin bringt Ihr mich?« Auf diese Frage bekam sie keine Antwort mehr. Die Tür wurde geschlossen. Dunkelheit schlug wie eine Woge über ihr zusammen und sie hörte das scharrende Geräusch des Riegels, der vorgeschoben wurde.

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