Robin sollte bereits am nächsten Morgen herausfinden, wie diese Worte gemeint waren. Nach der Ankündigung des Sklavenhändlers hatte sie erwartet, ihre Tage in diesem luxuriösen Gefängnis mit nichts anderem als einigen Stunden Sprachunterricht und sehr vielen Stunden Langeweile zu verbringen, aber das Gegenteil war der Fall. Trotz des Sturms von Gefühlen, der in ihr tobte, und all der unzähligen Ängste und Befürchtungen, mit denen sie sich quälte, hatte sie ausgezeichnet und sehr tief geschlafen.
Noch nie hatte sie in einem solchen Bett gelegen, und zum ersten Mal seit Wochen schlief sie ein, ohne dass ihr übel war, ihr etwas wehtat, der Boden unter ihr bedrohlich schwankte und sie fürchten musste, sich durch eine unbedachte Bemerkung oder auch nur eine falsche Bewegung zu verraten. Sie erwachte erst, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Das Klappern der großen silbernen Teller, auf denen die beiden Sklavinnen eine Schale mit Wasser zum Waschen und ein reichhaltiges Frühstück hereinbrachten, hatte Robin geweckt. Obwohl unvermittelt aus dem tiefsten Schlaf gerissen, war sie sofort hellwach und versuchte, die beiden Frauen in ein Gespräch zu verwickeln. Ihr Arabisch war aber entweder zu schlecht, um sich mit den beiden Frauen zu verständigen, oder sie hatten Befehl, nicht mit ihr zu reden, denn ihre Antworten bestanden nur aus einem freundlichen Lächeln oder Gesten des Nichtverstehens.
Kaum hatte Robin ihr Frühstück beendet und sich angekleidet, da erschien auch schon Naida, und ihr Unterricht begann. Ganz, wie Omar es behauptet hatte, erwies sich die alte Frau als ausgezeichnete Lehrerin, die manchmal etwas unwirsch wirkte, doch dort, wo Geduld angebracht war, genug davon aufbrachte. Auch verzieh sie Robin so manchen Fehler, für den Bruder Abbé oder Heinrich sie heftig gescholten hätten.
Der Unterricht ging bis zur Mittagsstunde und Naida gab ihr gerade genug Zeit, etwas zu essen und sich ein wenig frisch zu machen, bevor sie auch schon fortfuhr. Robin erwies sich als gelehrige Schülerin und Naida als eine Lehrerin, die sehr viel besser war, als Salim es jemals hätte sein können. Schon nach wenigen Tagen bereitete es der Templerin keine Schwierigkeiten mehr, sich fließend mit der alten Sklavin zu verständigen, und noch ehe die erste Woche zu Ende war, ertappte sie sich manchmal dabei, schon auf Arabisch zu denken. Zwar beherrschte sie längst nicht alle Feinheiten dieser überaus blumigen und facettenreichen Sprache, doch konnte sie bereits ohne Mühe ihre Wünsche und Bedürfnisse artikulieren oder eine kurze Unterhaltung führen, ohne sich zu blamieren und ihren Gesprächspartner unwillentlich zum Lachen zu reizen.
Darüber hinaus aber unterwies Naida sie auch in vielerlei anderen Dingen. Sie zeigte ihr, wie man die ungewohnten Kleider richtig anlegte, auf welche Art man die fremdartigen Speisen aß und welche Gesten man in Gegenwart eines Fremden besser unterließ. Auch lehrte die Alte sie, wann es angezeigt war, den Blick zu senken, und wann sie reden durfte, ohne dazu aufgefordert zu sein. Zunächst hatte Robin nicht darüber nachgedacht - aber langsam begriff sie, dass sie keine Behandlung erfuhr wie eine Sklavin, die in weniger als zwei Wochen auf dem Markt verkauft werden sollte. Nachdem sie ihr anfängliches Misstrauen überwunden hatte und diese Behandlung nicht länger als einen grausamen Scherz empfand, indem ihr neuer Besitzer sie anschließend in noch tiefere Verzweiflung stürzen wollte, fragte sie sich, warum man ihr solche Aufmerksamkeit angedeihen ließ.
Zwar hatte sie von Salim erfahren, dass hellhäutige Frauen mit »pferdeäpfelfarbenem« Haar in den Harems so mancher Sultane seiner Heimat ganz besonders geschätzt wurden, aber das allein konnte nicht der Grund sein. Sicher, sie war gefangen. Sie durfte ihren Raum nicht verlassen, und auch wenn Naida auf ihre bärbeißige Art im Grunde freundlich zu ihr war, so ließ die alte Frau doch keinen Zweifel daran aufkommen, dass Robin ihr zu gehorchen hatte, ganz egal, was auch immer sie von ihr verlangte.
Manchmal schrie Naida sie an und einmal hatte sie Robin sogar geschlagen, als sie sich zu unbeholfen dabei angestellt hatte, ein festliches Gewand anzulegen. Davon abgesehen jedoch wurde sie behandelt wie eine Königin. Warum auch immer, der Sklavenhändler schien etwas ganz Besonderes in ihr zu sehen; eine Investition, die sich für ihn überaus lohnen musste, denn sonst hätte er sich wohl kaum solche Mühe mit ihr gegeben.
Vielleicht hätte sie sogar ganz vergessen, was sie in Wahrheit war, wären da nicht ihre regelmäßigen Besuche bei Nemeth gewesen.
Es hatte drei Tage gedauert, bis sie zum ersten Mal Gelegenheit bekam, das Versprechen einzulösen, das sie dem Fischermädchen und vor allem sich selbst gegeben hatte. Naidas Unterrichtsstunden dauerten stets bis zum Sonnenuntergang, und Robin war anschließend so müde, dass sie auf der Stelle einschlief und sogar das Nachtmahl hätte ausfallen lassen, hätte Naida es ihr gestattet. Erst am vierten Tag nach ihrer Ankunft in Hama bat sie die alte Frau, sie hinunter in den Keller zu führen, wo die anderen Sklaven untergebracht waren.
Naida zeigte sich davon nicht begeistert. Sie tat sogar so, als hätte sie Robins Bitte nicht verstanden, aber Robin beherrschte das Arabische mittlerweile so gut, dass sie durchaus in der Lage war, ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Schließlich stimmte Naida widerwillig zu, machte aber eine rüde Geste, als Robin zusammen mit ihr das Zimmer verlassen wollte, und ließ sie für eine geraume Weile allein. Als sie zurückkam, befand sich ein hoch gewachsener Krieger in einem schwarzen Gewand in ihrer Begleitung, der ihr und vor allem Robin so lautlos wie ein Schatten und auch ebenso beharrlich folgte.
Robin fand nie heraus, ob er zu ihrem Schutz oder zu ihrer Bewachung da war, obgleich er in den nächsten Tagen tatsächlich zu so etwas wie ihrem persönlichen Schatten wurde, denn er begleitete sie auf Schritt und Tritt, wann immer sie ihr Gemach verließ. Als sie jedoch das Kellergewölbe betrat und der Sklavenkäfige ansichtig wurde, vergaß sie den Krieger.
Obwohl sie schon einmal hier gewesen war, traf sie der Anblick wie ein Schlag. Das Verlies kam ihr dunkler vor als beim ersten Mal, die Zellen jenseits der Gitter noch winziger, schmutziger, und der Gestank war so schlimm, dass er ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Atem raubte. Sie vernahm ein leises Weinen, hier und da ein Stöhnen oder Schluchzen, das Rascheln von Stoff und ein allgemeines Wehklagen und Jammern, das die Luft durchtränkte und sich wie eine unsichtbare, glühende Messerklinge in ihre Brust bohrte.
Naida sagte etwas, das sie diesmal nicht verstehen wollte, und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Robin schüttelte sie ab, riss sich los und ging mit schnellen Schritten zum anderen Ende des schmalen, von Gitterstäben gebildeten Ganges, der den großen Kellerraum in zwei Hälften teilte. Sie versuchte, den Blick von den bemitleidenswerten Gestalten zu wenden, aber es gelang ihr nicht. Sie hätte wissen müssen, was sie erwartete, schließlich war sie nicht das erste Mal hier, aber es kam ihr plötzlich hundertmal schlimmer vor. Hätte sie genauer hingesehen, dann wäre ihr aufgefallen, dass die Zahl der Sklaven abgenommen hatte. Ganz, wie der Sklavenhändler vorhergesagt hatte, waren die Schwächsten den Strapazen erlegen, die sie auf dem Weg hierher hatten erleiden müssen. Diejenigen, die noch am Leben waren, begannen sich ganz allmählich zu erholen, auch wenn zweifellos noch einige von ihnen sterben würden. Robin aber kam es vor, als wäre das Leid hundertmal schlimmer geworden.
Als sie die Zelle erreichte, in der Nemeth und ihre Mutter sowie ein Dutzend weiterer Sklaven untergebracht waren, konnte sie die Tränen kaum noch zurückhalten.
Nemeth starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie machte keine Anstalten, zu ihrer selbst ernannten Retterin zu kommen, sondern klammerte sich weiter so fest an ihre Mutter, als befürchtete sie, sie im nächsten Moment zu verlieren. Das Gesicht des Mädchens blieb völlig unbewegt - so weit das unter der Kruste aus Schmutz und eingetrockneten Tränen überhaupt erkennbar war -, und in seinen Augen war ein Ausdruck, der Robin erneut einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Mit aller Kraft kämpfte Robin die Tränen nieder und versuchte, wenigstens die Andeutung eines Lächelns auf ihr Gesicht zu zwingen. Weder das eine noch das andere hatte etwas mit Stolz oder vorgetäuschtem Mitleid zu tun. Wie sollte sie den Menschen auf der anderen Seite der Gitter Mut zusprechen, wenn diese ihre Verzweiflung bemerkten und begriffen, dass sie selbst kurz vor dem Zusammenbruch stand?
Sie hörte ein Rascheln hinter sich und wusste, ohne sich umblicken zu müssen, dass es Naida war. Die alte Araberin sagte etwas, das Robin nicht verstand, sich aber ungewohnt mitfühlend und sanft anhörte. Robin beachtete sie nicht weiter, ließ sich in die Hocke sinken und zog ein Stück Fladenbrot und eine Hand voll Datteln unter ihrem Gewand hervor. Beides hatte sie während ihres Abendessens beiseite geschafft und versteckt. Bis vor einem Augenblick war es ihre größte Sorge gewesen, wie sie Nemeth unbemerkt das Essen zustecken konnte; jetzt war es ihr egal. Wenn Naida auch nur den Ansatz machen sollte, dem Mädchen diese kümmerliche Mahlzeit vorzuenthalten, dann würde sie ihr die Augen auskratzen.
Keiner der Gefangenen rührte sich. Auch Nemeth starrte vollkommen reglos auf das Brot und die Früchte in Robins Hand. Doch jetzt füllten sich die Augen des Mädchens mit Tränen, und als hätte es damit eine Schranke durchbrochen, verzog sich sein Gesicht vor Leid, Hunger und Angst. Der Anblick war so schrecklich, dass Robin meinte, ein glühender Dolch grabe sich in ihre Brust.
»Bitte nimm es«, sagte sie. »Mehr habe ich nicht. Aber ich verspreche, dass ich dir wieder etwas bringe.«
»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, sagte Naida hinter ihr. Abermals beachtete Robin sie nicht.
In Nemeths Augen stand ein Ausdruck von Verwirrung, als begriffe sie erst allmählich, dass Robin diesmal mehr als nur undeutlich gestammelte arabische Worte über die Lippen gekommen waren. Auch Saila hob verwundert den Kopf und starrte in ihre Richtung. Robin erschrak erneut, als sie sah, in welch jämmerlichem Zustand sich die junge Frau befand, die vor kaum einer Woche noch so schön und anmutig gewesen war. Jetzt war sie kaum mehr als ein Zerrbild ihrer selbst; das Gesicht eingefallen und grau, nicht nur vor Schmutz, sondern auch vor Schwäche, die Augen trüb über tiefen, dunklen Augenringen und das Haar fleckig wie dreckiges Stroh.
Saila schwieg ebenfalls und sah Robin nur auf die gleiche, ebenso verwirrte wie ungewollt vorwurfsvolle Art an wie ihre Tochter. Schließlich hob sie die Hand, löste Nemeths Arme mit sanfter Gewalt von ihren Schultern und schob das Kind ein ganz kleines Stück in Robins Richtung, und endlich fiel der Bann von dem Mädchen ab. Mit einem einzigen Satz war sie am Gitter bei Robin und riss ihr Brot und Früchte so ungestüm aus der Hand, dass ihre Fingernägel zwei dünne Kratzer auf Robins Handrücken hinterließen. Augenblicklich sprang sie wieder zurück, das erbeutete Stück Brot und die drei Datteln wie einen Schatz an sich gepresst und am ganzen Leib zitternd. Doch sie machte keine Anstalten, etwas davon in den Mund zu stecken.
»Iss«, sagte Robin. »Bitte.«
Nemeth zögerte noch einmal, dann schlang sie das Brot regelrecht herunter, und Robin hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, ihr dabei zuzusehen. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Doch sie wollte nicht, dass Nemeth bemerkte, dass sie weinte. All diese Menschen so zu sehen tat ihr unendlich weh. Sie waren gewiss nicht ihre Freunde gewesen, Saila und ihre Tochter vielleicht einmal ausgenommen, aber sie hatten auch nichts getan, wodurch sie dieses Schicksal verdienten. Und das Allerschlimmste war: Es war nicht nur Mitleid, das die Tränen plötzlich ungehemmt über Robins Gesicht laufen ließ. Sie fühlte sich schuldig. Sie stand hier, als gehörte sie in eine ganz andere Welt, bekleidet wie eine Prinzessin, wohlgenährt und frei. Sosehr ihr Verstand auch versuchte, ihr klar zu machen, dass es nicht ihre Schuld war, so sehr sprach ihr Herz eine andere Sprache. Sie hatte das Gefühl, ihren Wohlstand all diesen Menschen zu verdanken - vor allem aber Nemeth und ihrer Mutter.
»Warum... tut ihr das?«, schluchzte sie. Die Worte galten Naida, die Robin noch immer keines Blickes würdigte.
»Es ist Allahs Wille, die Starken überleben zu lassen«, sagte die alte Sklavin hinter ihr.
»Allah?« Robin wollte lachen, aber der Laut, der aus ihrer Kehle kam, klang eher wie ein verzweifelter Schrei. »Du meinst wohl Omar, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass euer Gott die Menschen geschaffen hat, damit sie so gequält werden.«
»Schweig!«, sagte Naida scharf. »Es steht dir nicht zu, Allahs Namen in den Mund zu nehmen, Christin! Tu es noch einmal und ich lasse dich auspeitschen!«
»Das glaube ich nicht«, murmelte Robin. Vielleicht hatte Naida die Macht, sie bestrafen zu lassen, vielleicht auch nicht, aber welche Rolle spielte das jetzt noch?
»Wir müssen gehen«, sagte Naida scharf.
Robin nahm alle Kraft zusammen, hob den Blick und sah Naida fest in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich will zu deinem Herrn«, verlangte sie. »Ich will mit Omar sprechen, auf der Stelle!«
Die alte Sklavin zeigte sich nicht beeindruckt. Der Blick, mit dem sie Robin maß, war eher mitleidig. »Wenn unser Herr dich zu sehen wünscht, wirst du es schon früh genug erfahren«, antwortete sie. Dann schüttelte sie den Kopf. »Er weilt nicht im Haus.«
»Ich nehme an, er ist auf dem Markt, um Sklaven zu verkaufen«, sagte Robin böse. »Dann beeilt er sich besser. Wenn er seinen wertvollen Besitz weiter so behandelt, wird er bald niemanden mehr verkaufen können.«
Diesmal blitzte es ärgerlich in Naidas Augen auf, und Robin begriff, dass sie zu weit gegangen war. Sie mahnte sich selbst in Gedanken, vorsichtiger zu sein. Noch vor einem Augenblick war ihr ihr eigenes Schicksal gleich gewesen, aber jetzt dachte sie an das Stück Brot, das Nemeth so gierig heruntergeschlungen hatte, und ihr wurde klar, dass sie weder Nemeth noch ihrer Mutter oder irgendeinem hier helfen konnte, wenn sie es sich endgültig mit Naida verdarb.
»Unser Herr ist nicht einmal in der Stadt«, sagte Naida verächtlich. »Was für ein Glück für dich!«
»Dein Herr ist ein Dummkopf«, sagte Robin, langsam und so ruhig, dass aus diesen Worten eine Feststellung wurde, keine Beleidigung. Naida sah sie nur fragend an, aber der hünenhafte Krieger, der wie ein Schatten hinter der alten Frau stand, runzelte viel sagend die Stirn, und Robin spürte, wie sich seine Muskeln unter dem schwarzen Gewand spannten. Sie fragte sich, wie weit Naidas Macht über diesen Mann reichte, ob sie ihm Befehle erteilen oder ihrerseits Befehle von ihm annehmen würde und ob sie in der Lage oder auch nur willens war, sie zu beschützen, sollte der Krieger zu dem Schluss kommen, dass die Christensklavin sich zu sehr im Ton vergriffen habe.
In ruhigem und sachlichem Tonfall fuhr sie deshalb fort: »Tote Sklaven bringen keinen Gewinn auf dem Markt, und halb verhungerte und kranke wohl auch nicht.«
Zu ihrer Überraschung verwies Naida sie nicht in ihre Schranken, sondern sah sie auf eine Weise an, die Robin im ersten Moment nicht deuten konnte. Als die alte Frau schließlich antwortete, tat sie es beinahe im Tonfall einer Verteidigung. »Ich selbst bin für die Sklaven verantwortlich, solange unser Herr nicht in der Stadt weilt. Aber meine Befugnisse haben Grenzen.«
»Ich habe nicht verlangt, dass du sie frei lassen sollst«, antwortete Robin.
»Mir stehen nur begrenzte Mittel zur Verfügung, um Nahrung für die Sklaven zu kaufen«, entgegnete Naida. »Was soll ich tun? Diesem Mädchen und ihrer Mutter eine Extraration geben und einen anderen dafür verhungern lassen?«
»Nein«, antwortete Robin. »Aber es würde nichts kosten, ihnen Wasser zu geben, um sich zu waschen, und frisches Stroh, damit sie nicht in ihrem eigenen Schmutz schlafen müssen. Und es würde nichts kosten, wenn du ihnen erlaubtest, ihre Zellen zu reinigen. Viele von ihnen sind krank.«
»Und werden sterben«, sagte Naida. »Ich weiß.«
»Aber einige vielleicht nicht, wenn du sie nicht weiter in diesem Dreck verrotten lässt!«, erwiderte Robin. »Ich bitte dich, Naida! Sei barmherzig! Oder lass wenigstens deine Vernunft walten! Ihr würdet euer Vieh nicht in einem so schmutzigen Stall unterbringen, warum also tut ihr es mit Sklaven, die doch angeblich ein so wertvoller Besitz sind?«
Dem Krieger war nun noch deutlicher sein Missfallen über diesen Wortwechsel anzusehen. Oder war es Verwunderung, die sich in seinen Zügen spiegelte? Die alte Sklavin schwieg eine geraume Weile, und Robin glaubte schon, sie hätte den Bogen endgültig überspannt.
Dann aber nickte Naida plötzlich. »Also gut«, sagte sie. »Sie bekommen Wasser, und sie dürfen ihre Zellen reinigen. Wenn unser Herr danach fragt, dann wirst du ihm sagen, dass es meine Idee war, weil der Gestank das ganze Haus verpestet hat.« Sie drehte sich herum und sah den schwarz gekleideten Krieger hinter sich durchdringend an. »Und dasselbe gilt für dich, Faruk. Hast du mich verstanden?«
Der Krieger antwortete nicht, er nickte nur und trat, fast demütig und mit halb gesenktem Haupt, einen Schritt zurück. Naida war also mächtig genug, selbst diesem Mann Befehle zu erteilen. Robin fragte sich, wie eine einfache Sklavin so weit aufsteigen konnte, noch dazu in einer Welt, in der Frauen ganz offensichtlich noch sehr viel weniger zu sagen hatten als in Robins Heimat.
»Du musst jetzt gehen«, sagte Naida, nachdem sie sich wieder zu ihr herumgedreht hatte. »Verabschiede dich von deiner Freundin. Dies hier war dein letzter Besuch.«
Irgendetwas in Naidas Blick und Stimme warnte Robin. Sie hatte sehr viel mehr erreicht, als sie eigentlich hätte erwarten dürfen, aber nun spürte sie plötzlich, wie dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegte. Sie kannte Naida viel zu wenig, um beurteilen zu können, ob die alte Sklavin tatsächlich über ein gutes Herz verfügte, das sich nur unter einer vorgetäuschten Schale aus Härte und Unnahbarkeit verbarg, oder ob sie einfach nur einen glücklichen Moment erwischt hatte. So oder so war Robin klar, dass der Zwischenfall dem Sklavenhändler nicht verborgen bleiben würde.
Robin wollte Naida keine Schwierigkeiten bereiten. So nickte sie nur, drehte sich noch einmal zu der Wand aus Gitterstäben herum und ging in die Hocke, um auf einer Höhe mit Nemeths Gesicht zu sein.
Das Mädchen hatte Brot und Datteln mittlerweile bis auf den letzten Krümel verzehrt und sich wieder Schutz suchend in die Arme ihrer Mutter geflüchtet. Sie sah Robin weiter auf diese stumme, eindringliche Art an, die vermutlich gar nicht vorwurfsvoll gemeint war. Wieder musste Robin gegen die Tränen ankämpfen, die ihr in die Augen schießen wollten.
»Ich werde wiederkommen«, versprach sie. »Und dir wird nichts passieren, darauf gebe ich dir mein Wort.«
Nemeth reagierte nicht, aber ihre Mutter hob den Blick. In ihren rot entzündeten Augen mischte sich Verzweiflung mit einer jäh aufflammenden Hoffnung. Ihre Worte taten Robin bereits wieder Leid. Tief in sich spürte sie, dass sie vielleicht nicht in der Lage sein würde, dieses Versprechen zu halten, ganz egal, wie sehr sie es auch wollte - und genau dieses Gefühl schien Saila zu teilen. Trotzdem klammerte sie sich mit der verzweifelten Kraft einer Mutter, die um das Leben ihres Kindes kämpft, an diese so vorschnell und leichtfertig ausgesprochenen Worte. Und vielleicht gaben sie ihr ja Kraft. Vielleicht erfüllte dieses Versprechen, das Robin möglicherweise nicht würde halten können, doch seinen Zweck, indem es Saila und ihrer Tochter das entscheidende Quäntchen Mut und Hoffnung gab, das über Leben oder Tod entscheiden mochte.
Mit einem Ruck stand Robin auf, drehte sich herum und lief so schnell die Treppe hinauf, dass der Krieger ihr hinterhereilen und sie festhalten musste, damit Naida wieder zu ihnen aufschließen konnte.
Am nächsten Morgen erwachte sie noch vor Sonnenaufgang von den feierlichen Rufen der Muezzine, die von den zahlreichen Minaretten der Moscheen erklangen. Die Nacht hatte Robin einen von Albträumen und wirren Fantasien geplagten Schlaf beschert, der ihr eher Kraft geraubt als Erholung gebracht hatte. Vom Hof her drangen vielfältige Geräusche in ihr Zimmer, und als sie den Kopf wandte und zum Fenster hinsah, erblickte sie den rötlichen Schein mehrerer Fackeln. Sie fühlte sich nicht gut. Sie war in Schweiß gebadet, ihre Haut fühlte sich klebrig und schmutzig an. Das war verwunderlich. Denn so heiß die Tage in diesem Teil der Welt auch sein mochten, so eisig waren meist die Nächte. Unsicher setzte sie sich auf der Bettkante auf, klaubte die dünne Decke, die sie im Schlaf abgestreift hatte, vom Boden auf und schlang sie sich um die Schultern, ehe sie aufstand und ans Fenster trat.
Über Hama mit all seinen unzähligen Türmen, Kuppeldächern und Minaretten war die Sonne noch nicht aufgegangen, aber im Osten zeigte sich bereits ein rötlicher Schimmer am Horizont. Der ummauerte Innenhof unter ihr war von einem Dutzend Fackeln hell erleuchtet. Robin blinzelte ein paar Mal und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen, um den Schlaf endgültig fortzuwischen und halbwegs klar sehen zu können. Das ungewohnte Bild ließ sie einen winzigen Moment lang zweifeln, ob sie tatsächlich schon wach war oder noch träumte, zugleich aber stahl sich ein mattes Lächeln auf ihr Gesicht, als sie begriff, dass Naida tatsächlich Wort gehalten hatte.
Von dem mehr als einem Dutzend Gestalten, das sie unter sich auf dem Hof erblickte, war sicherlich ein Drittel bewaffnet und gehörte zu den Wachen, die in Omars Dienst standen, aber die anderen waren eindeutig die Sklaven, die sie am vergangenen Abend unten im Kerker gesehen hatte. Im flackernden Licht der Fackeln und aus der Höhe ihres Zimmers herab betrachtet, wirkten sie beinahe noch bemitleidenswerter und zerlumpter als am Tag zuvor. Immerhin waren sie zum ersten Mal seit einer Woche nicht in Ketten oder eingepfercht in winzige, licht- und luftlose Zellen, sondern bewegten sich frei auf dem Hof. Einige standen reglos da - den Kopf in den Nacken gelegt - und starrten vollkommen fassungslos in den sternenübersäten Himmel über sich, als hätten sie nicht geglaubt, diesen Anblick noch einmal zu erleben; die meisten aber bildeten eine lange Schlange vor dem steinernen Trog, der auf der anderen Seite des Hofes stand. Normalerweise diente er zum Tränken der Pferde und Robin bezweifelte, dass sich die Wächter die Mühe gemacht hatten, das Wasser auszutauschen. Dennoch schien diese Brühe für die Sklaven ein ungeheurer Luxus zu sein, - diejenigen, die an der Reihe waren, wuschen sich mehr als ausgiebig, und manche ließen sogar alle Scham fallen und rissen sich die besudelten Kleider gänzlich vom Leib, um sich von Kopf bis Fuß mit dem sicherlich kalten Wasser zu säubern. Robin hörte ein allgemeines Wehklagen und Seufzen, aber auch Laute der Erleichterung, ja, des Glücks, die ihr vollkommen unangemessen erschienen. Sie hatte schon wieder einen bitteren Kloß im Hals, als sie auf die gequälten Kreaturen hinabsah, die frierend und halb nackt in der Kälte standen und für die ein Trog voll schmutzigen Wassers das höchste Glück zu sein schien. Zugleich empfand sie ein Gefühl tiefer Dankbarkeit Naida gegenüber, deren Herz vielleicht doch nicht so versteinert war, wie sie gerne vorgab.
Unwillkürlich hielt sie nach Nemeth und ihrer Mutter Ausschau, aber die beiden befanden sich nicht unter den Sklaven im Hof. Überhaupt war dort höchstens ein Viertel der Gefangenen, die sie gestern Abend im Kerker gesehen hatte. Vermutlich ließ man die Sklaven in kleinen Gruppen nach oben, schon damit sie in ihrer Verzweiflung nicht etwa auf den Gedanken kamen, sich gegen ihre Folterer zu erheben und einen Fluchtversuch zu wagen.
Sie stand lange am Fenster und blickte in den Hof hinab. Zu ihrer Enttäuschung tauchte Nemeth nicht auf. Unter den Kindern, die frierend vor dem Wassertrog standen und darauf warteten, vorgelassen zu werden, fiel Robin ein vielleicht zehnjähriger Junge auf, an den sie sich flüchtig erinnerte. Sie hatte ihn nur einmal im Fischerdorf gesehen und er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Nemeth; vermutlich war in dieser kleinen Gemeinschaft jeder mit jedem verwandt. Er war ebenso schmutzig, bot einen ebenso jämmerlichen Anblick und wirkte genauso entkräftet wie Nemeth. Obwohl er sich so eng wie möglich an seine Mutter drängte, zitterte er am ganzen Leib und schien kaum die Kraft zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Robin war fast froh, sein Gesicht nicht deutlicher erkennen zu können.
Die Tür hinter ihr glitt auf. Robin drehte sich um und erblickte Naida, die überrascht im Schritt innehielt, als sie sah, dass Robin bereits wach war und am Fenster stand. Ihr Gesicht verfinsterte sich. Aber sie sagte nichts, sondern trat vollends ins Zimmer und schob die Tür hinter sich zu.
»Wolltest du dich überzeugen, dass ich mein Wort halte?«, fragte sie. In ihrer Stimme war eine Feindseligkeit, die Robin nicht ganz verstand. Vielleicht war am vergangenen Abend etwas vorgefallen, von dem sie nichts wusste.
»Ich habe nicht daran gezweifelt«, entgegnete Robin ruhig. »Schließlich bist du eine kluge Frau.«
Naida verzog abfällig das Gesicht und kam mit kleinen schnellen Schritten näher. Eine geraume Weile blieb sie unmittelbar neben Robin stehen und blickte schweigend auf das Treiben im Hof hinab, dann schüttelte sie den Kopf. »Was für eine Verschwendung«, murmelte sie.
Robin war nicht klar, wie diese Worte gemeint waren; ihr Gefühl warnte sie davor, eine entsprechende Frage zu stellen. Sie schwieg.
»Wenn du auf deine Freundin wartest, dann verschwendest du deine Zeit«, sagte Naida nach einer Weile. Sie trat vom Fenster zurück, sah sich kurz und suchend im Zimmer um und ging dann zu dem kleinen Tischchen neben der Tür, um die darauf stehende Öllampe zu entzünden. Die kleine, ruhig brennende gelbe Flamme erhellte kaum das Zimmer, sondern schien das graublaue Zwielicht eher noch zu betonen.
»Wie meinst du das?«, fragte Robin beunruhigt.
»Sie ist bereits wieder in ihrer Zelle«, antwortete Naida. »Sie und ihre Mutter waren die Ersten, die auf den Hof durften.«
»Warum hast du gesagt, dass ich sie nicht wieder sehen werde?«, fragte Robin.
»Sie ist ein hübsches Mädchen«, sagte Naida, ohne ihre Frage zu beantworten. »Ich kann verstehen, dass du sie ins Herz geschlossen hast. Mach dir keine Sorgen um sie. Sie ist stark. Sie wird es schaffen.«
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, beharrte Robin.
»Weil es die Wahrheit ist«, erwiderte Naida, ohne sie anzusehen. »Du wirst sie nicht wieder sehen. Und du wirst ihr auch kein Essen mehr bringen.«
»Warum nicht?«, fragte Robin. »Ein Stück Brot und einige Datteln werden deinen Herrn nicht ruinieren, oder?«
Naida drehte sich zu ihr herum und sah ihr fest in die Augen. »Du willst weiter zu ihr gehen, ihr Mut zusprechen und ihr zu essen bringen?«, fragte sie. »Wozu? Willst du Hoffnungen in ihr wecken, die sich nicht erfüllen werden? Ihr ein Stück Brot zustecken, das ihren Hunger nicht stillt, ihr aber den Hass der anderen Gefangenen einbringt?«
»Aber...«
»Ich werde auf sie achten, soweit es in meiner Macht steht«, fiel ihr Naida ins Wort. »Aber überschätze diese Macht nicht. Und überschätze dich nicht, Kind. Wenn du diesem Mädchen wirklich helfen willst, dann vergiss es.«
Robin spürte, wie sich ihre Augen erneut mit Tränen füllen wollten, diesmal waren es Tränen der Wut und des Zorns. Sie war empört über Naida und vor allem über Omar, dessen Stimme und Hand die alte Frau war, und sie haderte mit einem Schicksal, das ihr unnötig grausam und ungerecht erschien. Dabei war ihr klar, dass die alte Sklavin Recht hatte. Es gab nichts, was sie für Nemeth oder ihre Mutter tun konnte. Ganz im Gegenteil: Wenn dem Sklavenhändler zugetragen wurde, wie viel Robin dieses Mädchen bedeutete, würde er dieses Wissen zweifellos als Druckmittel einsetzen - worunter wahrscheinlich alle Beteiligten leiden würden.
»Dann schick wenigstens nach einem Heilkundigen«, verlangte sie.
Naida riss die Augen auf und starrte sie an, als zweifelte sie an ihrem Verstand. Robin drehte sich halb herum und deutete auf das Fenster zum Hof. »Diese Menschen sind krank. Sieh dir den Jungen dort unten an. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. Willst du warten, bis er stirbt und sich der Gewinn deines Herrn erneut schmälert?«
Naida schüttelte den Kopf und schürzte nur verächtlich die Lippen. Sie sagte nichts, als sie mit zwei schnellen Schritten wieder neben Robin trat. Einen Moment lang blickte sie auf den Knaben hinab, der zitternd vor Schwäche gegen seine Mutter gelehnt dastand und offenbar nicht einmal mehr die Kraft hatte, alleine zu gehen. Naida schüttelte erneut den Kopf. »Er wird ohnehin sterben«, murmelte sie. »Allah hat beschlossen, den Knaben schon bald zu sich zu nehmen.« Sie maß Robin mit einem verächtlichen Blick. »Ist es nicht auch bei euch Christen Sitte, die letzte Entscheidung über Leben und Tod in Gottes Hand zu legen? Und betrachtet ihr es nicht als Sünde, sich gegen den Willen eures Gottes aufzulehnen?«
»Wir glauben, dass es im Sinne Gottes ist, dass die Starken den Schwachen helfen«, widersprach Robin.
Wieder schüttelte Naida den Kopf, entschiedener diesmal. »Ich werde nicht mit einer Ungläubigen über Allahs Willen streiten«, sagte sie. »Und hüte dich, mir schon wieder zu sagen, dass ich Omar nur einen Dienst erweise, wenn ich sein Eigentum schütze. Diese Worte nutzen sich im Laufe der Zeit ab.«
»Aber...«
»Genug!«, unterbrach Naida sie scharf. Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück und drehte sich energisch herum, um nicht mehr in Richtung des Jungen zu blicken. »Ein Heilkundiger kostet Geld, und das habe ich nicht. Nicht für Sklaven.«
Robin funkelte sie einen Moment wütend an, dann riss sie so ungestüm den Arm nach oben, dass Naida zusammenfuhr und sich spannte, als erwarte sie einen tätlichen Angriff. Stattdessen aber streifte Robin einen der goldenen Armreife ab, mit denen die Sklavinnen sie geschmückt hatten. »Geht es nur um ein paar jämmerliche Münzen?«, fragte sie verächtlich. »Dann nimm das hier. Das wird reichen, um einen Medicus zu bezahlen.« Sie musste sich beherrschen, um Naida den Armreif nicht vor die Füße zu werfen. Ihre Augen blitzten vor Zorn und ihre Stimme bebte.
Naidas Antwort bestand aus einem spöttisch herablassenden Verziehen der Lippen. »Du Närrin«, sagte sie. »Nichts von dem, was du am Leibe trägst, gehört dir. Dieser Armreif ist ebenso Omars Besitz, wie ich es bin, oder du, wie einfach alles hier. Du besitzt nichts! Du hast nicht das Geringste zu bieten, um einen Heiler zu entlohnen.« Sie lächelte böse. »Nicht einmal dein eigener Körper gehört mehr dir!«
Robin starrte die alte Frau einen Moment lang hasserfüllt an. Sie musste sich beherrschen, um sich nicht doch noch auf sie zu stürzen und auf sie einzuprügeln. Dabei hatte sie nur das ausgesprochen, was sie selbst schon längst insgeheim gewusst hatte. Es war die gleichermaßen kalte wie resignierte Art, mit der die alte Sklavin ihr die Wahrheit entgegengeschleudert hatte, die ihr Gefühl zum Überbrodeln brachte, die Gewissheit, dass sie trotz all des Prunks um sie herum nicht mehr Rechte als ein wildes Tier hatte. Das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht wurde für einen Moment so übermächtig, dass Robin das Bedürfnis verspürte, laut loszuschreien oder etwas zu zerstören - oder irgendjemandem wehzutun.
Sie tat nichts dergleichen, sondern drehte sich mit einem wütenden Ruck abermals herum, um in den Hof hinabzublicken. Die Szene hatte sich scheinbar nicht verändert, doch fiel Robin auf, dass der Knabe, den sie zuvor beobachtet hatte, auf die Knie gesunken war und versuchte, sich ebenso tapfer wie vergeblich aus eigener Kraft wieder aufzurichten. Vermutlich hatte Naida Recht, dachte sie bitter. Dieser Junge würde sterben, ganz gleich, ob ihm ein Heilkundiger half oder nicht. Vermutlich würde er sein Leben ausgehaucht haben, noch ehe dieser Tag zu Ende ging.
Robin hatte in ihrem kurzen Leben bereits genügend Schicksalsschläge aller Art erfahren, um zu wissen, dass an dieser Tatsache nicht mehr zu rütteln war. Aber was nutzte ihr diese Einsicht, wenn sie nur die Augen zu schließen brauchte, um Nemeths Gesicht und den Ausdruck stummen Vorwurfes in ihrem Blick vor sich zu sehen und den Schmerz vom vorigen Abend wieder zu spüren, die absurde Gewissheit, dass dies alles hier irgendwie ihre Schuld war? Und vielleicht stimmte das sogar. Wäre sie nicht auf der Sankt Christophorus gewesen, hätten diese Menschen sie - aus welchen Gründen auch immer - nicht aus dem Wasser gezogen und damit vor dem sicheren Tod bewahrt. Dann wäre es vielleicht auch nie zu der verhängnisvollen Auseinandersetzung mit dem Sklavenhändler gekommen, in deren Verlauf die ganze Dorfbevölkerung in Gefangenschaft geraten war. Niemand hätte sterben müssen, niemand wäre in Ketten gelegt worden, und dieser Knabe würde jetzt nicht dort unten stehen und vielleicht zum letzten Mal im Leben die Sonne aufgehen sehen. Wenn es doch nur etwas gäbe, was sie tun konnte!
Ein erster, verirrter Sonnenstrahl brach sich auf dem goldenen Ring an ihrer Hand. Ganz instinktiv schloss Robin die Finger zur Faust, um ihn zu verbergen, so, wie sie es in den letzten Tagen stets getan hatte, meist ohne sich der Geste richtig bewusst zu sein. Und dennoch konnte sie das helle Funkeln so wenig aus ihrem Bewusstsein verdrängen wie die Erinnerung, die es hervorrief. Salim hatte ihr diesen Ring gegeben, damit sie ihn nicht vergaß, und er war das Einzige und Letzte, was sie noch von ihm hatte, - vielleicht alles, was sie für den Rest ihres Lebens an den Tuareg erinnern würde. Aber was war dieses Leben noch wert, wenn sie es mit der Zukunft eines unschuldigen Kindes erkaufte?
Mit plötzlicher Entschlossenheit zog sie den Ring vom Finger und streckte ihn Naida entgegen. »Nimm«, sagte sie.
Die alte Sklavin blinzelte verdutzt. »Was...?«
»Dieser Ring gehört mir«, sagte Robin. »Er ist mein Eigentum, nicht das Omars oder irgendeines anderen. Er ist aus Gold. Nimm ihn. Sein Wert reicht mit Sicherheit, um einen Heiler zu bezahlen.«
Naida rührte keinen Finger, um den Ring entgegenzunehmen, - sie blickte ihn erschrocken, ja beinahe entsetzt an - auf die gleiche Weise wie sie ihn schon einmal betrachtet hatte. Als sie sich schließlich bewegte, tat sie es nicht, um Robin den Ring abzunehmen; sie wich im Gegenteil einen Schritt zurück, als wäre es kein Schmuckstück, das Robin ihr hinhielt, sondern ein giftiger Skorpion, dessen Stachel sie fürchtete.
»Worauf wartest du?«, fragte Robin. »Er ist echt. Er wird reichen, um zehn Heiler zu bezahlen.«
Naida wirkte völlig verstört. Vielleicht fürchtete sie eine Hinterlist, vielleicht war sie aber auch nur sprachlos, weil Robin noch immer Anspruch auf den Ring erhob, obwohl er doch genauso wie sie selbst längst in den Besitz Omars übergegangen war. Plötzlich überkamen Robin Zweifel. Etwas in ihr schrie bei der bloßen Vorstellung entsetzt auf, Salims Geschenk ohne eigene Not wegzugeben, aber eine andere, stärkere Stimme erklärte ihr, dass es das Beste war, was sie jetzt tun konnte. Solange ihr Omar den Ring noch ließ, sollte sie sehen, dass sie ihn gegen einen vernünftigen Gegenwert eintauschte - das war sicherlich auch in Salims Sinne.
»Also?«
Endlich erwachte Naida aus ihrer Starre. Mit sichtlicher Mühe riss sie ihren Blick von Robins Hand und dem Ring zwischen ihren Fingern los und sah sie aus großen Augen an. »Du musst... den Verstand verloren haben«, murmelte sie fassungslos.
Das scheint mir auch so, dachte Robin. Laut sagte sie: »Vielleicht. Aber nicht mein Herz. Deines scheint ja aus Stein zu sein, wenn du dieses Kind sterben lässt, um deinem Herrn ein paar Münzen zu ersparen.«
Sie sah Naida an, dass sie eine Menge darauf hätte erwidern können, aber schließlich hob die Alte nur die Schultern, streckte behutsam die Hand aus und nahm Robin den Ring ab. Sie verbarg ihn weder in ihrem Gewand, noch schloss sie die Finger darum, sondern ließ ihn auf ihrer ausgestreckten Handfläche liegen und hielt den Arm so weit von sich fort, wie sie konnte. Es schien beinahe, als fürchte sie diesen Ring, als könnte er sie vergiften oder ihr irgendein anderes Leid antun.
»Wenn das wirklich dein Wunsch ist...«
»Das ist es«, sagte Robin. »Und jetzt geh. Verkauf den Ring auf dem Markt oder wo immer du magst und schick einen Medicus, der sich um die Sklaven kümmert. Und sollte von dem Erlös noch etwas übrig sein, dann besorge etwas zu essen für sie.«
Naida machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Vielleicht hatte sie vor, den Heiler mit einem Teil des kleinen Vermögens zu bezahlen, den der Ring sicherlich wert war, und den Rest selber in die Tasche zu stecken. Es war Robin gleich. Ihre Augen brannten, und ein Teil von ihr wollte noch immer nichts lieber tun, als der Sklavin den Ring wieder abzunehmen und ihn wie einen unendlich wertvollen Schatz zu verteidigen. Zugleich aber fühlte sie sich unsagbar erleichtert. Ihr war, als hätte sie sich mit dem Opfer, das sie erbracht hatte, von einer Schuld freigekauft, die ihr ohne ihr Zutun auferlegt worden war. Es spielte keine Rolle, ob sie den Ring besaß oder nicht. Salim hatte ihn ihr gegeben, und ob sie ihn weiter am Finger trug oder aber nur in ihrem Herzen - er würde immer da sein.
»Ganz, wie du meinst«, sagte Naida schließlich und in verändertem Tonfall. »Und nun zieh dich an. Harun wird gleich hier sein.«
»Harun?«
»Du wirst tun, was er von dir verlangt, so als hätte ich es selbst angeordnet«, erwiderte Naida, ohne Robins Frage zu beantworten. Sie sah noch einmal auf den Ring auf ihrer Handfläche hinab und ging dann langsam, fast zögerlich, zur Tür und zog sie auf.
Wie üblich stand Faruk vor Robins Gemach, der hünenhafte schwarz gekleidete Krieger, den Omar offensichtlich zu ihrer persönlichen Bewachung abgestellt hatte. Er wandte den Kopf und sah unbeteiligt auf die alte Sklavin hinab, die gedankenverloren einen Moment im Türrahmen stehen blieb. Plötzlich aber fuhr er zusammen und starrte aus aufgerissenen Augen auf den goldenen Ring in Naidas Handfläche.
Naida schloss die schwere Tür hinter sich. Einen Augenblick konnte Robin Stimmen hören. Dann war alles ruhig. Der Krieger hatte überrascht, ja sogar erschrocken gewirkt. Doch warum?
Robin verscheuchte den Gedanken mit einem Kopfschütteln und wandte sich wieder dem Treiben auf dem Hof zu. Die Schlange vor der Pferdetränke war inzwischen weitergerückt. Der Junge und seine Mutter hatten den Trog erreicht und der Knabe war davor auf die Knie gesunken. Robin konnte sehen, wie er das schmutzige Wasser mit großen, gierigen Schlucken trank, bis seine Mutter ihn sanft zurückzog, einen Teil ihres Schleiers löste und den Zipfel ins Wasser tauchte. Mit einer Zärtlichkeit, deren bloßer Anblick Robin wie ein Messerstich in die Brust traf, begann sie, sein Gesicht zu waschen. Der Junge wehrte sich. Das Wasser war kalt und vermutlich hatte er Schmerzen, aber die Araberin hielt ihn fest und fuhr fort, ihn zu säubern. Vermutlich wusste sie, dass das Kind diesen Tag kaum überleben würde, allerhöchstens noch den folgenden, und dennoch kümmerte sie sich so liebevoll und zärtlich um den Knaben, als säßen sie zu Hause in ihrem Dorf und bereiteten sich auf ein Fest vor. Warum war Gott so grausam? dachte Robin. Grausam zu diesen Menschen dort unten, grausam auch zu ihr. Warum erlegte er ihr eine solch schreckliche Prüfung auf? Was hatte sie getan? Wodurch hatte sie das Schicksal herausgefordert, dass es so hart zurückschlug?
Ihre Gedanken verwirrten sie. Wieso dachte sie plötzlich über Gott nach? Auch wenn sie das letzte Jahr unter Rittern des Templerordens verbracht und unter ihrer Fahne geritten war, so glaubte sie doch nicht wirklich an ihn. Nicht so, wie es Abbé, Heinrich, Dariusz und all die anderen taten. Wenn es überhaupt einen Gott gab, dann war es gewiss nicht der grausame und rachsüchtige Gott, den Abbé und seine Brüder in ihrer Kirche anbeteten, und ebenso wenig der, vor dem Salim, Omar und all die anderen Muselmanen das Haupt beugten, wenn sie ihre Gebetsteppiche ausrollten. Robin hatte es niemals laut ausgesprochen - nicht einmal Salim gegenüber, obwohl ihr klar war, dass er ihre wahren Gefühle kennen musste -, aber sie weigerte sich zu glauben, dass es einen allmächtigen Gott von solcher Grausamkeit gab. Wenn über dem Himmel noch eine weitere Macht war, dann eine von solcher Gleichgültigkeit, dass sie sich geschämt hätte, sie anzubeten.
Sie hörte schwere Schritte draußen auf dem Flur, etwas klirrte und Robin konnte sich gerade noch umdrehen, bevor die Tür zu ihrem Gemach geradezu aufgerissen wurde. Es war jedoch nicht Naida, die zurückkam, es waren auch nicht die beiden Sklavinnen, die allmorgendlich erschienen, um ihr beim Ankleiden zu helfen und ihr das Frühstück zu bringen. Stattdessen trat eine Gestalt von solch groteskem Aussehen in das Zimmer, dass Robin nicht anders konnte, als ungläubig die Augen aufzureißen und sie anzustarren.
Es war ein Mann. Das war im ersten Moment aber auch schon alles, dessen sich Robin sicher war, und das nur, weil er einen Bart trug und sein Gesicht nicht verschleiert war.
Es war der dickste und zugleich größte alte Mann, den Robin jemals zu Gesicht bekommen hatte. Selbst Bruder Abbé mit seinem gewaltigen Bauch hätte neben ihm wie ein schlanker Knabe gewirkt. Er war dunkelhäutiger als Omar, was durch seinen makellos weißen bis auf die Brust reichenden Bart noch betont wurde. Die Enden seines Bartes waren zu einem halben Dutzend alberner Zöpfchen geflochten.
Irgendwie sah er wie ein an Fettleibigkeit leidender Pfau aus, und Robin dachte, er müsse entweder farbenblind sein oder einem Volk entstammen, das sich unter Geschmack etwas völlig anderes vorstellte als alle anderen Menschen, die Robin je kennen gelernt hatte. Auf seinem Haupt thronte ein riesiger schwarzer Turban, der mit silbernen Nadeln und Perlen verziert war, dazu trug er einen schreiend grünen, goldbestickten Kaftan, darunter ein rotes Hemd. Seine weite, bersteinfarbene Hose wurde von einer schwarzgoldenen Bauchbinde gehalten, die Robin auseinander gefaltet vermutlich gut als Zelt hätte nutzen können, und er trug sonderbare rote Schuhe, deren Spitzen so weit nach oben gebogen waren, dass sie fast einen Dreiviertelkreis bildeten.
Das Gesicht des Kolosses war, in Anbetracht seiner Leibesfülle, überraschend kantig und wirkte trotz des albernen Bartes energisch. Ja, man hätte es sogar Ehrfurcht gebietend nennen können, hätte sich der Alte die Augen nicht wie eine billige Hure mit dicken schwarzen Lidstrichen umrandet. Sein Antlitz war mit feinen Schweißtröpfchen bedeckt und er keuchte, als hätte er den ganzen Weg hier herauf um sein Leben rennen müssen. Robin war darüber nicht erstaunt. Sie zweifelte daran, dass es ihr selbst gelungen wäre, die beiden Treppen bis hier herauf zu bewältigen, müsste sie eine solche Körperfülle mit sich herumschleppen.
Der Alte stellte sich mit einer überraschend eleganten Verbeugung vor, trat einen weiteren Schritt in den Raum hinein und machte auf diese Weise für seine Begleiterin Platz; eine tief verschleierte Frau in einem weiten schwarzen Umhang, unter dessen halb durchsichtigem Schleier es golden aufblitzte. So schreiend bunt der Alte gekleidet war, so nachtschwarz und einfach war das Gewand der Frau. Das einzig Auffällige an ihr waren die roten Schuhe, die mit Goldstickereien verziert waren und dieselben sonderbaren Spitzen aufwiesen wie die des Alten.
»Wer... seid Ihr?«, murmelte Robin verstört. Sie wusste nicht, was sie von diesen sonderbaren Besuchern halten sollte. Der dicke Pfau, wie sie ihn für sich nannte, wirkte so komisch, dass wohl jedermann bei seinem bloßen Anblick Mühe gehabt hätte, ein Grinsen zu unterdrücken, aber zugleich ging auch etwas von ihm aus, das Robin beunruhigte.
Statt auf ihre Frage einzugehen, kam der Alte mit trippelnden Schritten näher, - sein gewaltiger Körper und seine absurde Kleidung ließen die Bewegung wie das Rollen eines aus bunten Stoffresten genähten Balles wirken. Gerade, als sich Robin fragte, ob er sie überrollen wolle, blieb er stehen, wiederholte seine überzogene Verbeugung und sagte mit einer dünnen Fistelstimme: »Ich bin Harun al Dhin. Hat Naida mein Kommen nicht angekündigt?«
Robin nickte schwach. Das war Harun? Was um alles in der Welt...?
Harun richtete sich ächzend wieder auf, trippelte zwei Schritte weiter zum Fenster und starrte in den Hof hinab. Sein gewaltiger Bauch war ihm dabei so sehr im Weg, dass er sich gefährlich weit vorbeugen musste, um überhaupt über die Brüstung zu blicken. Was er sah, schien ihn zufrieden zu stellen, denn als er sich schnaufend wieder in Robins Richtung herumdrehte, teilte ein zufriedenes, breites Grinsen seinen Bart.
»Und was willst du hier?«, fragte Robin. Sie warf einen Hilfe suchenden Blick in das verschleierte Gesicht von Haruns Begleiterin, aber die schwarzen Augen hinter dem Tuch schienen direkt durch sie hindurchzusehen.
Harun deutete gelassen aus dem Fenster. An seinen Fingern funkelten etliche goldene Ringe.
»Das. Omars Ware zu veredeln ist meine Aufgabe, nur dass ich mich nicht mit den jämmerlichen, ungewaschenen Geschöpfen dort unten herumschlagen muss.«
»Omars Ware? Ich verstehe nicht...«
Harun seufzte. Oder japste er auch nur vor Anstrengung nach Luft? fragte sich Robin. »Dafür beginne ich zu verstehen, was Naida gemeint hat«, murmelte er.
»Naida?«
»Sie wird dir doch gesagt haben, dass ich komme?« Harun blinzelte. Er klang überrascht - und ein wenig ungeduldig.
»Sie hat Euch angekündigt, ja«, antwortete Robin. »Aber...«
Harun brachte sie mit einer wedelnden Handbewegung zum Verstummen, machte zwei halbe Schritte zurück und maß sie mit einem langen, taxierenden Blick vom Scheitel bis zur Sohle. Was er sah, schien ihm zu gleichen Teilen zu gefallen, wie auch seinen Unmut zu erregen. »Allahs Wege sind manchmal wirklich sonderbar«, murmelte er.
»Wenn Ihr mich zum Islam bekehren wollt...«, begann Robin, sprach den Satz aber nicht zu Ende, als sie das spöttische Glitzern in Haruns Augen gewahrte. Wer immer dieser Mann auch war, er war gewiss kein Imam oder wie auch immer die Kirchengelehrten in diesem Teil der Welt genannt wurden.
»Oh, Ungläubige.« Harun seufzte mit einem Blick wie ein Meisterkoch, der voller Entsetzen eine hoffnungslos verunglückte Mahlzeit betrachtet, die sein schlechtester Schüler zubereitet hat. »Naida hatte Recht. Du bist wie ein ungeschliffener Edelstein, aber mir scheint, dass du noch viel mehr Kanten und Unebenheiten hast, als sie behauptet hat. Und sie war nicht wählerisch in ihren Worten.«
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Robin. Mittlerweile war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie diesen Mann nicht fürchten musste - niemand auf der Welt musste das vermutlich - und in die Mischung aus Belustigung und Verwirrung, die sein Anblick in ihr auslöste, mischte sich Zorn. Wenn Naida ihr einen Hofnarren geschickt hatte, um sie aufzuheitern, dann hatte sie den denkbar schlechtesten Moment dafür gewählt.
»Ich werde aus dir ein Schmuckstück machen«, antwortete Harun. Er rollte begeistert mit den Augen und klatschte schließlich in die Hände. »Bis zu den fernen Ufern des Nils werden die Männer sich nach deiner Schönheit verzehren, wenn ich erst einmal mit dir fertig bin. Neben dir werden alle anderen Frauen aussehen wie vertrocknete Disteln neben einer frisch erblühten Rose.«
»Aha«, sagte Robin.
Harun ließ sich davon nicht irritieren. Ganz im Gegenteil: Der Ausdruck von Enttäuschung, den Robin für einen Moment in seinen Augen gelesen hatte, war vollkommen verschwunden und machte dem einer Begeisterung Platz, die sie allmählich als beunruhigend empfand.
»Oh, du wirst mein absolutes Meisterstück«, schwärmte er. »Ich muss Allah danken und Naida Abbitte tun. Zweifellos hat sie nach mir geschickt, weil sie glaubte, ich würde an dir scheitern, dieses listige alte Weib. Aber Harun al Dhin erkennt einen Edelstem, wenn er ihn sieht - selbst wenn er sich in einem Haufen Kameldung verbirgt.«
»Oh, vielen Dank.«
Harun ging auch auf diese Bemerkung nicht ein. Robin war sich mittlerweile sicher, dass er ihr überhaupt nicht zuhörte.
»Es wird ein schweres Stück Arbeit, mein Kind, aber du bist zweifellos der Aufmerksamkeit eines Meisters wert. Wenn deine Ausbildung beendet ist, wird man dich die Blume des Abendlandes heißen, und selbst Könige und Kaiser werden ins Schwärmen geraten, wenn von dir die Rede ist.«
»Ich würde schon ins Schwärmen geraten, wenn Ihr mir endlich verraten würdet, was Ihr mich lehren wollt«, antwortete Robin.
Harun lachte. »Nun, du hast die Frage zum Teil gerade selbst beantwortet, mein Kind. Beginnen wir mit deiner Sprache.«
»Ich habe einen Sprachlehrer«, sagte Robin ärgerlich. »Naida ist sehr gut darin.«
»Die Worte einer Sprache zu können heißt nicht, sie auch zu beherrschen, mein liebes Kind«, sagte Harun liebenswürdig. »Mir scheint, dass deine Schönheit nicht unbedingt auf deine Herkunft zurückzuführen ist.« Robin wollte ihn unterbrechen, aber Harun machte eine wedelnde Handbewegung, mit der er ihr das Wort abschnitt und zugleich seine Begleiterin zu sich heranwinkte. Die Frau bewegte sich so lautlos und elegant, dass der Gegensatz zu Haruns tollpatschigen Gesten nicht krasser hätte sein können.
»Nun erzähl mir von deinen besonderen Talenten«, verlangte Harun.
»Talente?«
Haruns Lächeln wurde etwas gequält. »Ein jeder Mensch hat irgendein Talent«, antwortete er. »Die meisten wissen es nur nicht. Überlege einfach. Es muss etwas geben, was du besonders gut kannst. Etwas, für das andere dich bewundern oder gar beneiden. Was ist es?«
Robin sah den schwitzenden alten Mann nachdenklich an. Sie überlegte, was ihn wohl mehr beeindrucken würde: ihre Fähigkeit im Lanzenreiten und Schwertfechten oder ihr Geschick, eine Ente auf fünfzig Schritte mit einem Pfeil im Flug treffen zu können, und das aus dem Sattel eines galoppierenden Pferdes. Wahrscheinlich wäre diese Antwort nicht besonders klug, auch wenn sie der Wahrheit entsprach. Sie zuckte nur mit den Schultern.
Harun quittierte ihr Schweigen mit einem tiefen, enttäuschten Seufzer. »Also gut«, sagte er. »Dann geh zur Tür.«
»Wie bitte?«
»Geh einfach zur Tür«, antwortete Harun. »Nur hin - und wieder zurück, wenn es nicht zu viel Mühe bereitet.«
Robin sah ihn verblüfft an, hob abermals die Schultern und tat schließlich, was er von ihr verlangte.
Sie war noch nicht ganz bei der Tür und im Umdrehen begriffen, als Harun hinter ihr zu lamentieren begann. »Siehst du das, Aisha?«, fragte er mit schriller Stimme. »Beim Barte des Propheten! Dieses Weib watschelt mit der Eleganz eines gichtkranken Erpels, der sich Blasen unter den Schwimmhäuten gelaufen hat!«
Robin drehte sich beleidigt herum. »Was mache ich denn falsch?«
Harun verdrehte die Augen. »Aisha«, seufzte er. »Zeig dieser Tochter einer fußkranken Bäuerin, wie eine Frau geht.«
Aisha nickte gehorsam, drehte sich wortlos um und ging zur Tür und wieder zurück zum Fenster. Wobei gehen nicht das richtige Wort war. Robin hatte schon Frauen gesehen, die sich durchaus anmutig zu bewegen imstande waren, aber ihr war noch niemand begegnet, der diese einfache Bewegung so perfekt beherrschte wie die Frau in dem schwarzen Kleid. Sie ging nicht wirklich, nein, sie schien zu schweben - und das mit einer solchen Natürlichkeit und Grazie, dass Robin ein flüchtiges Gefühl von Neid empfand. Gleichzeitig jedoch erweckte dieses Gefühl in ihr Trotz.
»Siehst du, Ungläubige, so bewegt sich eine Frau«, sagte Harun. In seiner Stimme lag ein triumphierender Ton, als hätte er ihr gerade das Geheimnis verraten, mit dem man Blei in Gold verwandelte.
Robin zuckte betont beiläufig mit den Schultern. »Ich bin bis jetzt immer noch ohne zu stolpern von einem Fleck zum anderen gekommen.«
»Und du hast etwas gegen Verbesserungen?«, erkundigte sich Harun spitz.
Die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, schluckte Robin lieber herunter. Sie hatte sich immer noch keine endgültige Meinung über Harun gebildet - vielleicht war sein albernes Äußeres ebenso wie seine sonderbare Art zu reden nichts anderes als eine Maskerade, hinter der er seine wahren Absichten verbarg. Es hatte keinen Sinn, ihn noch weiter zu verärgern, als sie es vermutlich ohnehin schon getan hatte. Wenn dieser fette Pfau sich tatsächlich einbildete, er könnte eine Dame aus ihr machen, dann würde er noch früh genug begreifen, dass er sich die Zähne ausbiss.
Harun wartete einen Moment vergeblich auf eine Antwort. Schließlich seufzte er wieder tief, drehte sich schnaubend zu seiner Begleiterin um und machte eine knappe, wedelnde Handbewegung. Daraufhin legte Aisha so geschickt den Schleier sowie das schwarze Gewand ab - als wäre es nur eine einzelne, fließende Bewegung. Darunter war sie ganz ähnlich gekleidet wie Robin - in eine weite, halb durchsichtige Hose, dazu ein Oberteil, das ihren Bauch bis dicht unter die Brüste frei ließ. Schmale goldene Fußkettchen mit winzigen Glöckchen umschmeichelten ihre Fesseln und klingelten bei jedem ihrer Schritte leise. Robin konnte ihr Gesicht noch immer nicht erkennen, denn unter dem schwarzen Schleier trug sie einen Gesichtsschmuck aus Hunderten hauchzarter Goldplättchen, die auf ein Seidentuch genäht waren, das ihr Antlitz vollständig verhüllte. Man sah lediglich ihre großen, dunklen Augen, die jetzt von einer sinnlichen Glut erfüllt waren, die in Robin abermals ein absurdes Gefühl von Neid aufsteigen ließ.
»Zeig es ihr noch einmal, Aisha«, sagte Harun kopfschüttelnd.
Das Gefühl des Neides verstärkte sich noch, als sich die Araberin erneut bewegte. Ihr sanfter, wiegender Hüftschwung rief in Robin die Erinnerung an die viel zu seltenen und viel zu lange zurückliegenden Stunden mit Salim wach, an die einzige Zeit in ihrem Leben, in der sie wirklich glücklich gewesen war. Die Füße der Araberin schienen kaum den Boden zu berühren, und sie strahlte eine beinahe beunruhigende Sinnlichkeit aus.
»So, so«, sagte Harun herablassend. »Herumzustehen wie eine vom Sturmwind gebeugte Dattelpalme, das ist also deine natürliche Haltung, wie? Oder hast du erst üben müssen, um solch ein jämmerliches Bild abzugeben?« Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Robin war ganz darin vertieft, Aisha anzustarren. Schließlich fügte er hinzu: »Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du genauso einherschreiten wie sie.«
Harun klatschte in die Hände, woraufhin die Tür aufgerissen wurde. Einer von Omars Kriegern trat ein - nicht Faruk, der schwarz gekleidete Riese, der normalerweise dort Wache hielt - und Harun befahl ihm mit unangebrachter Schärfe in der Stimme, einige Tonkrüge mit Wasser heraufzuschaffen.
»Wasser?« Robin sah den dunkelhäutigen Araber misstrauisch an. »Wollt Ihr mir jetzt auch noch erzählen, dass ich stinke?«
Diesmal enthielt sich Harun einer Antwort.
Robin hatte ein ungutes Gefühl. Etwas an diesem sonderbaren alten Mann, der sich alle Mühe zu geben schien, auch bestimmt von niemandem ernst genommen zu werden, erregte ihr Misstrauen. Sie konnte nicht sagen, was es war. Vielleicht war es nur die Art, wie Aisha ihn manchmal ansah, vielleicht auch eine unsichtbare Aura, die ihn umgab und sein scheinbar so harmloses Auftreten und lächerliches Äußeres Lügen zu strafen schien. Robin verzichtete darauf, ihre Frage zu wiederholen. Sie maß Harun mit einem Blick, von dem sie hoffte, dass er einigermaßen selbstbewusst und herausfordernd wirkte. Doch selbst damit entlockte sie dem Alten nur ein schwer zu deutendes Stirnrunzeln. Schließlich drehte sich Robin herum, trat wieder ans Fenster und blickte erneut in den Hof hinab.
Die Sonne war immer noch nicht ganz aufgegangen, aber in wenigen Minuten würde der Tag vollends anbrechen. Über dem Hof lag ein wunderbares goldenes Licht, wie sie es in diesem Teil der Welt schon öfter hatte bewundern können. Dennoch galt ihr Blick nicht der prächtigen Stadt, die sich entlang der Ufer des Orontes erstreckte, sondern dem kranken Jungen. Sie wusste nicht, warum, aber sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass sein Schicksal ganz allein in ihrer Hand lag.
Es verging einige Zeit, in der Robin stur aus dem Fenster blickte und Harun demonstrativ den Rücken zukehrte. Auch er sprach sie nicht an, sondern unterhielt sich mit gedämpfter Stimme und in einem Robin nicht geläufigen Dialekt mit seiner Begleiterin. Schließlich wurde an die Tür geklopft, und nachdem Aisha sie geöffnet hatte, betraten gleich fünf von Omars Kriegern den Raum. Jeder von ihnen trug zwei große Tonkrüge, die, wenn sie tatsächlich mit Wasser gefüllt waren, sicherlich je zwanzig Pfund wiegen mussten.
Harun gestikulierte wild mit seinen goldberingten Händen, woraufhin die Männer die Krüge in einer Reihe an der Wand neben der Tür abstellten. Robin gefielen diese Vorbereitungen nicht, zumal ihr einer der Krieger beim Hinausgehen einen Blick zuwarf, der zwischen Spott und Mitleid lag. Harun wartete, bis der letzte der Männer den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann klatschte er in die Hände, und die schwarzhaarige Schönheit in seiner Begleitung nahm einen der Krüge auf, setzte ihn sich auf den Kopf und begann, langsam damit im Zimmer auf und ab zu schreiten. Während der ersten Schritte stützte sie den Krug noch mit einer Hand, aber schon nach wenigen Augenblicken hatte sie so weit ihre Balance gefunden, dass sie sich freihändig und nicht einmal besonders langsam bewegte, ohne dass das klobige Gefäß auf ihrem Haupt auch nur wackelte; ganz zu schweigen davon, dass sie etwas von seinem Inhalt verschüttet hätte. Robin sah ihr mit großen Augen dabei zu, blickte dann wieder Harun an und runzelte die Stirn, als sie dessen hämisches Grinsen bemerkte.
»Und?«, fragte sie.
»So bewegt sich eine Frau«, erwiderte Harun in einem ganz genau bemessenen, halb abfälligen, halb spöttischen Ton. »Leichtfüßig wie eine Gazelle und dennoch fest wie ein Felsen im Sturm.«
»Aha.«
»Auch du wirst es noch lernen, Christenmädchen«, versprach Harun. Er sah geduldig zu, wie Aisha sechs oder sieben Mal das Zimmer durchmaß, dann bedeutete er ihr mit einem wortlosen Nicken, dass es genug sei. Die dunkeläugige Araberin blieb stehen, nahm das Tongefäß vom Kopf und reichte es Robin.
Robin starrte den Krug völlig verständnislos an. Sollte das ein Witz sein?
»Worauf wartest du?«, fragte Harun. »Es ist nicht so schwer, wie es aussieht.«
Robin blickte erst ihn, dann den Wasserkrug an, aber schließlich griff sie nach dem Gefäß und hätte es um ein Haar fallen gelassen, als Aisha die Hände zurückzog und Robin feststellen musste, wie schwer der Krug war. Ihre vorsichtige Schätzung wurde von dem wirklichen Gewicht anscheinend noch übertroffen.
»Das ist nicht Euer Ernst?«, sagte sie.
»O doch«, erwiderte Harun. Er lächelte noch immer. Aber dieses Lächeln war nicht echt. In seinen Augen war etwas, das Robin einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Er wich zwei Schritte zurück, machte eine ungeduldige Handbewegung, und noch bevor Robin wirklich wusste, wie ihr geschah, trat Aisha hinter sie, nahm ihr den Krug wieder aus der Hand und setzte ihn reichlich unsanft auf ihrem Scheitel ab. Robin griff unwillkürlich nach dem Gefäß, jedoch vergeblich: Kaum hatte Aisha den Krug losgelassen, da kippte er auch schon und zerbarst mit einem gewaltigen Klirren neben ihren Füßen. Das eisige Wasser überschwemmte den Fußboden, sodass Robin erschrocken die Luft zwischen den Zähnen einsog und ein Stück zurückwich.
»Ja, so ungefähr habe ich mir das gedacht«, seufzte Harun. Er verdrehte die Augen und starrte gegen die Zimmerdecke. »Was habe ich getan, o Allah?«
Das wusste Robin nicht, aber sie wusste ziemlich genau, was sie in diesem Augenblick gern getan hätte. Verärgert besah sie sich ihre nassen Füße und dann die Überschwemmung auf dem Boden. Das Wasser war nicht nur eiskalt, der geflieste Boden war nun mit kleinen, scharfkantigen Tonscherben übersät, sodass sie aufpassen musste, wo sie hintrat, um sich nicht zu verletzen.
»Worauf wartest du?«, fragte Harun. »Versuch es erneut!«
Robin starrte missmutig die Reihe aus noch neun gefüllten Tonkrügen an. Aisha bewegte sich leichtfüßig an ihr vorbei, nahm einen weiteren Krug auf und streckte ihn auffordernd in ihre Richtung, aber Robin verschränkte nur demonstrativ die Arme vor der Brust und wich einen Schritt zurück; weiter konnte sie nicht, denn sie stand jetzt bereits mit dem Rücken an der Wand. »Fällt mir nicht ein«, beharrte sie.
Harun seufzte. »Mach es mir doch nicht so schwer, Kind«, murmelte er. »Und vor allem nicht dir.«
»Das mache ich nicht«, sagte Robin mit dem unschuldigsten Blick, den sie zustande brachte. »Ihr braucht Euch nur zurückzuziehen, so leicht ist das.«
Harun antwortete nicht; er gab Aisha einen kaum wahrnehmbaren Wink, woraufhin die junge Frau Robin grob an der Schulter packte und mit nur einer Hand den zweiten Tonkrug auf ihren Kopf platzierte. Diesmal fiel die Berührung noch unsanfter aus. Es tat wirklich weh und wieder kam Robins instinktiver Griff nach oben zu spät; der Krug kippte und prallte schmerzhaft auf ihrer Schulter auf, ehe er zu Boden fiel. Das eisige Wasser ergoss sich über ihren ganzen Körper, bevor auch das zweite Gefäß zerbarst.
»Fass mich nicht noch einmal an«, herrschte Robin sie an. Sie hatte nicht besonders laut gesprochen, aber ihre Augen blitzten wütend auf, und sie musste wohl eine Haltung angenommen haben, die Aisha erschreckte. Rasch wich die junge Frau zwei Schritte vor ihr zurück, aber dann klatschte Harun erneut in die Hände, und Aisha wandte sich - wenn auch nach einem merklichen Zögern - herum und nahm den dritten Krug auf.
Und so ging es weiter. Im Laufe der folgenden halben Stunde zerbrach Robin neun der zehn Krüge, sodass ihr Zimmer regelrecht überschwemmt wurde und sie sich mehr als einen blutigen Schnitt an den Füßen zuzog. Immerhin gelang es ihr, den vorletzten dieser Krüge fast vollständig durch das Zimmer zu tragen, bevor er ihr aus den Händen glitt und die Katastrophe auf dem Fußboden noch vergrößerte.
Harun kommentierte ihre Ungeschicklichkeit mit teils hämischen, teils ärgerlichen Worten und Aisha behandelte sie so grob, dass Robin sich beherrschen musste, um ihr gegenüber nicht handgreiflich zu werden. Schließlich wollte sie sich nach dem zehnten und letzten Krug bücken, als Harun hörbar seufzte, den Kopf schüttelte und mit weinerlicher Stimme sagte: »Ich fürchte, du bist Allahs Antwort auf die Gebete eines armen Töpfers, der schon seit einer Woche keine Krüge mehr verkauft hat, du Tochter einer krummbeinigen Ziege.«
Robin spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, warf zornig den Kopf in den Nacken und ließ sich in die Hocke sinken, um den letzten Krug aufzuheben, bevor Aisha etwa auf die Idee kam, ihn auf Geheiß ihres Herrn hin auf ihrem Kopf zu zerschlagen. Da ging Harun unerwartet schnell auf den Krug zu, holte aus und versetzte ihm einen Tritt, der ihn gegen die Wand prallen und bersten ließ. »So geht es schneller. Bei Allah, mir scheint, du wirst nicht nur zu meiner größten Herausforderung, sondern auch zu meiner schlimmsten Prüfung.«
»Ich könnte es noch einmal versuchen«, schlug Robin vor. »Ich habe nicht viel Übung im Umgang mit Wasserkrügen, bitte verzeiht. Allerdings... wenn Ihr ein Messer hättet...?«
Harun legte den Kopf schief.
»Dann könnte ich versuchen, Euren Kopf auf meinem zu balancieren«, erklärte Robin. »Nur, fürchte ich, müssten wir ihn vorher von Eurem Hals schneiden.«
In Haruns Augen blitzte es amüsiert auf, aber sein Gesicht blieb starr, und nach einigen Augenblicken zog er einen Schmollmund und drehte sich um. »Wir machen morgen weiter«, sagte er. »Dann bringe ich besser gleich zwanzig Krüge mit.«
Kaum hatten Harun al Dhin und seine Begleiterin Robins Zimmer verlassen, da wurde die Tür auch schon wieder unsanft aufgestoßen und Naida trat ein. Robin glaubte nicht, dass es sich dabei um einen Zufall handelte; vielmehr war sie ziemlich sicher, dass Naida die ganze Zeit über draußen auf dem Flur gestanden und an der Tür gelauscht hatte. Dennoch schien sie die Details des Unterrichts nicht mitbekommen zu haben, denn auf ihrem Gesicht spiegelten sich rasch hintereinander die unterschiedlichsten Emotionen: Überraschung, Verwirrung, dann Unmut und schließlich blanker Ärger, als sie der Sintflut aus Wasser und Tonscherben ansichtig wurde, die den Fußboden bedeckte. Ganz kurz streifte ihr Blick Robins nackte, blutende Füße und in den Ärger auf ihren Zügen mischte sich ein leicht besorgtes Stirnrunzeln - wenngleich Robin ziemlich sicher war, dass Naidas Sorge weniger ihrer Gesundheit galt als vielmehr der Frage, was Omar dazu sagen würde, dass sein wertvollster Besitz beschädigt worden war.
Naida schien aus irgendeinem Grund sehr zornig auf sie zu sein und es entsprach ganz ihrer Art, diesen Zorn direkt und ohne Hehl an ihr auszulassen. Sie fuhr Robin in barschem Ton an, wie ungeschickt und unwillig sie sich doch angestellt habe, und befahl ihr, in ihrem Zimmer wieder für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen, falls sie an diesem Tag noch etwas zu essen haben wollte. Robin hütete sich, ihr zu widersprechen. Zum einen war sie völlig überrascht von der so offen zur Schau getragenen Feindseligkeit der alten Sklavin, zum anderen spürte sie, dass sich in der Zwischenzeit etwas ereignet haben musste, das sie über die Maßen erregt hatte. So bat sie nur knapp um einen Reisigbesen und wenn möglich trockene Kleider.
Naida verschwand wortlos und kehrte nach wenigen Augenblicken in Begleitung der beiden anderen Sklavinnen zurück, die Robin einen Besen, einen Tonkrug, einen geflochtenen Korb für die Scherben und ausreichend Lumpenfetzen brachten, um den Inhalt der zehn Wasserkrüge aufzuwischen.
Die beiden Sklavinnen grinsten, während sie Robin dabei zusahen, wie sie auf dem mit Scherben übersäten Boden herumkroch. Naida hingegen hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beaufsichtigte sie mit versteinerter Miene. Jedes Mal wenn Robin Korb oder Krug gefüllt hatte, verschwand eine der jungen Frauen für einige Augenblicke mit dem Behältnis, um es anschließend geleert zurückzubringen. Darüber hinaus rührte keine von ihnen auch nur einen Finger, um Robin zu helfen.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie endlich fertig war. Sie war nun endgültig bis auf die letzte Faser durchnässt und hatte sich noch etliche kleinere Schnittwunden an Händen, Knien und Füßen zugezogen. Ihre Finger waren wie taub von der Anstrengung, die groben Tücher auszuwringen.
Nachdem das Zimmer endlich wieder halbwegs in dem Zustand war, in dem es sich vor Haruns Erscheinen befunden hatte, ließ sich Robin erschöpft aufs Bett sinken. Die beiden Sklavinnen verließen den Raum - die eine mit dem Wasserkrug beladen, die andere den Arm voller durchnässter schwerer Tücher -, und auch Naida ging. Schon binnen weniger Augenblicke kehrte sie wieder zurück.
Robin hob müde den Kopf, als sie eintrat, und starrte dann mit einer Mischung aus Staunen und Erschrecken auf die Lumpen, die die Sklavin in den Armen trug. Es waren die gleichen, zerrissenen und immer noch vor Schmutz starrenden Kleider, die sie auf ihrer mörderischen Reise nach Hama getragen hatte.
»Hier«, sagte Naida verächtlich, während sie das Lumpenbündel neben Robins Bett auf den Boden warf. »Zieh dir etwas Trockenes an, damit du am Ende nicht krank wirst und Omar mich bestraft.«
Robin fühlte sich zerschlagen und müde und sie bedurfte fast ihrer ganzen Kraft, um sich auf die Ellbogen hochzustemmen und mühsam die Beine vom Bett zu schwingen. Ihre Waden waren verkrampft und zwei oder drei der tiefsten Schnitte bluteten noch immer. Sie begriff nicht, warum die Sklavin ihr ausgerechnet ihre alten, zerschlissenen Kleider gebracht hatte, aber sie hütete sich, eine entsprechende Frage zu stellen. Stattdessen bedankte sie sich artig, hob das Bündel umständlich auf und schlurfte mit hängenden Schultern hinter den Wandschirm, um sich umzuziehen. Selbst diese kleinen Bewegungen bereiteten ihr Mühe, und sie stellte sich so ungeschickt an, dass es Naida schließlich zu viel wurde und sie mit energischen Schritten ebenfalls hinter den Wandschirm trat. In ihren Augen blitzte eine Mischung aus Zorn und Verachtung, als sie Robin von Kopf bis Fuß musterte.
»Ja«, sagte sie. »Vielleicht stehen dir diese Kleider besser als die feine Seide und das Gold, das du bisher hier getragen hast.«
Robin sah sie nur traurig an und blickte an sich herab. Zunächst war sie nur erleichtert gewesen, wieder etwas Trockenes am Leib zu tragen und nicht vor Kälte zittern zu müssen, aber Naidas Worte schienen ihr die Schäbigkeit des groben schwarzen Umhanges vor Augen zu führen. Mit einem Male wurde ihr bewusst, wie sehr der Stoff auf der Haut scheuerte, wie schmutzig er war, und wie übel riechend.
»Warum tust du das?«, fragte sie.
»Wenn dir so an deinen Sklavenfreunden gelegen ist, dann ist es doch nur gerecht, dass du dich wie sie kleidest«, erwiderte Naida. Ihre Stimme zitterte leicht; ob vor Zorn oder aus einem anderen Grund, vermochte Robin nicht zu beurteilen. Das sonderbare Betragen der alten Frau beunruhigte sie zunehmend und das, obwohl - oder vielleicht gerade weil - sie es nicht verstand.
»Aber...«
»Du bist so dumm«, unterbrach sie Naida. »Glaubst du, du bist das erste Christenmädchen, das man hierher bringt? Und glaubst du vielleicht, du wärst die erste Christin, mit der er für eine Woche oder zwei sein Bett teilt, bis er ihrer überdrüssig geworden ist und sie auf dem Sklavenmarkt verkauft?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Aber du bist die Erste, die er so behandelt, auch wenn ich einfach nicht verstehe, warum. Allah wird dir kein zweites Mal die Gelegenheit geben, dem Schicksal einer Dirne zu entrinnen, die die Männer für eine kleine Münze mit in ihre Zelte nehmen - und dein Christengott auch nicht.«
»Aber was habe ich denn getan?«, fragte Robin. Mit einer Geste der Hilflosigkeit breitete sie die Hände aus. »Ich hatte doch nur Mitleid mit einem Kind.«
»Mitleid?« So, wie Naida das Wort aussprach, klang es wie ein Fluch. Sie lachte hart und humorlos. »Mitleid ist etwas, was du von einem Mann nicht erwarten kannst, dummes Mädchen. Und Gerechtigkeit schon gar nicht.« Plötzlich streckte sie die Hand aus, und als Robin den Blick senkte, erkannte sie zu ihrer maßlosen Überraschung den winzigen, goldglitzernden Ring, den Salim ihr geschenkt hatte.
»Aber du hast versprochen...«
»Und ich werde mein Versprechen halten«, fiel ihr Naida ins Wort. Sie machte eine auffordernde, herrische Geste. »Nimm ihn. Heute Abend bei Sonnenuntergang wird ein Arzt kommen, der sich um deine Sklavenfreunde kümmert - wenn es bis dahin immer noch dein Wunsch ist. So lange gebe ich dir Zeit, deine Entscheidung zu überdenken. Aber wäge gut ab! Du verschenkst vielleicht dein Leben, bestimmt aber deine Zukunft. Und erwarte nicht, dass es dir irgendjemand dankt. Auch die nicht, um derentwillen du dieses Opfer bringst.«
Robin verstand nicht, was Naida ihr damit sagen wollte - sie wollte es in diesem Moment auch gar nicht. Sie starrte die alte Frau noch eine Weile lang unsicher an, streckte dann die Hand aus, nahm ihr den Ring ab und schob ihn wieder auf den Mittelfinger ihrer linken Hand. Einen Herzschlag lang fühlte er sich dort wie ein Fremdkörper an, aber dann durchströmte sie ein warmes, viel zu lange vermisstes Gefühl, als wäre es nicht dieser schlichte Ring, der zu ihr zurückgekehrt war, sondern Salim selbst. Womöglich hatte Naida Recht. Sie hatte sich eingeredet, dass sie diesen Ring nicht brauchte, um an Salim zu denken, aber vielleicht stimmte das nicht. Möglicherweise war er tatsächlich das Einzige, das sie noch davor bewahrte, ihn eines Tages wirklich zu vergessen. Sie schloss die Hand zur Faust und presste sie gegen die Brust, um den Arm hastig wieder zu senken, als sie das spöttische Glitzern in Naidas Augen gewahrte.
»Danke«, sagte sie.
»Du willst ihn also lieber behalten?«
Robin schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie. »Aber ich danke dir, dass du ihn mir noch für einige Stunden lässt.«
»Nicht viele«, antwortete Naida. »Ein Tag ist schnell vorbei, wenn es vielleicht der letzte ist, der dich vor einem grausamen Schicksal bewahrt. Mach dir die Entscheidung also nicht zu leicht.«