18. KAPITEL


Saila weckte sie mit dem ersten Licht des neuen Morgens. Robin war gleichzeitig kalt und heiß. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um über den Mauern der verfallenen Festung sichtbar zu sein, aber es lag bereits ein Hauch trockener Hitze über dem Land. Ihr Gesicht fühlte sich schon wieder warm an und ihre Lippen waren so spröde und rissig wie zuvor. Dennoch war die grausame Kälte durch Robins dünne Decke und ihre Kleider gekrochen und hatte sich so tief in ihre Knochen eingenistet, dass sie zitternd die Arme um den Körper schlang und sich die Decke wie einen zweiten Mantel über die Schultern legte, als sie sich aufrichtete.

Rings um sie herum erklangen die vertrauten Geräusche des Lagers, und Robin sah sich blinzelnd um, versuchte die letzte Benommenheit des Schlafs abzuschütteln. Die meisten Männer waren bereits damit beschäftigt, die Kamele zu beladen, die letzten Feuer zu löschen und, so gut es ging, die Spuren ihrer Anwesenheit zu tilgen. Sie ließ ihren Blick weiterwandern, entdeckte Harun, der nicht weit entfernt mit dem Rücken gegen einen Mauerrest gelehnt dasaß und immer noch schnarchte; sie lächelte flüchtig und sah sich weiter um. Erst nach einigen weiteren Augenblicken wurde ihr klar, dass sie nach Omar suchte.

Die Erkenntnis erschreckte sie, sodass sie hastig den Kopf senkte. Neben ihr, in dem feinkörnigen roten Sand, der auch das Innere des Burghofes wie eine fingerdicke Schicht bedeckte, lag eine blutrote Rose.

»Allah!«, keuchte Saila.

Robin sah verwirrt auf und erblickte nackten Schrecken im Gesicht der Araberin, die abwechselnd sie und die Rose anstarrte.

»Was hast du?«, fragte sie.

Sie wollte die Hand nach der Rose ausstrecken, aber Saila griff rasch nach ihrem Arm und zog ihn energisch zurück. Überrascht von ihrer eigenen Geste, rutschte sie auf den Knien ein kleines Stück von Robin fort, ohne den angstvollen Blick von der Blume zu wenden. Robin wagte es nicht, ein zweites Mal danach zu greifen. »Was soll das?«, fragte sie.

Bevor sie antwortete, sah Saila sich rasch nach allen Seiten um, als hätte sie Angst, dass jemand ihre Worte hören konnte. »Diese Rose«, sagte sie. »Woher kommt sie? Wer hat sie dorthin gelegt?« Sie sog hörbar die Luft ein. »Sie... sie stammt doch nicht von Melikaes Rosenbusch, oder?«

Statt zu antworten, betrachtete Robin sich die einzelne Rose genauer. Jemand musste sie sorgsam dort in den Sand gelegt haben, wie eine Blüte, die ein liebender Gatte seiner Frau morgens im Schlaf auf das Kopfkissen bettet; sogar sämtliche Dornen waren vom Stängel entfernt worden. Wieder dachte sie an Omar, und plötzlich war sie nicht mehr ganz sicher, dass er sein Versprechen tatsächlich halten und sie freilassen würde, sobald sie Palmyra erreichten. Sonderbarerweise empfand sie bei diesem Gedanken keinen Zorn, nicht einmal Enttäuschung.

»Verflucht sei der Narr, der diese Rose gebrochen hat«, sagte Saila. »Er beschwört Unglück auf uns alle herab.«

»Aber es ist doch nur eine Blume«, sagte Robin.

»Dies ist ein besonderer Ort«, beharrte Saila. »In der Wüste, und ganz besonders an einem Ort wie diesem, haben die Dschinn große Macht. Niemand, der sie bestiehlt, kann ihrem Zorn entgehen - ganz gleich, ob es nun ein Edelstein oder nur eine Rose ist. Wer immer das getan hat, ist ein Narr, oder er sucht den Tod.«

In diesem Moment tauchte Nemeth hinter ihr auf, die eine Schale mit kaltem Hirsebrei und etwas Wasser brachte. Als sie Robin das kärgliche Frühstück reichte, fiel auch ihr Blick auf die Rose, aber sie erschrak nicht, sondern betrachtete sie nur stirnrunzelnd. Sie fragte sich offenbar, wo diese Blume hier, mitten in der Wüste, herkam. Robin griff jedoch rasch nach der Blume und verbarg sie unter ihrem Gewand.

Mit einem vorwurfsvollen Blick stand Saila rasch auf, rief ihre Tochter und entfernte sich. Robin sah ihr verstört hinterher und ertappte sich dabei, wie ihre Hand wie von selbst nach der Stelle tastete, an der sie die unscheinbare Blume unter ihre Kleider geschoben hatte. Es war ein sonderbares Gefühl. Wohl ahnte sie, dass diese Liebesgabe eher Unglück als Glück bringen musste, und dennoch... sie hatte noch nie ein solches Geschenk bekommen. Nicht einmal von Salim.

Schuldbewusst verjagte sie auch diesen Gedanken und konzentrierte sich für die nächsten Minuten ganz auf ihr kärgliches Frühstück. Bis sie fertig war, waren sämtliche Kamele ringsum - einschließlich ihres eigenen, um das sich Saila und Nemeth kümmerten - beladen und bereit zum Aufbruch, und endlich sah sie auch Omar. Der Sklavenhändler eilte mit schnellen Schritten auf sie zu. Aber er schien sie gar nicht zu bemerken, sondern blickte starr an ihr vorbei und marschierte mit offensichtlichem Zorn auf Harun zu, der als Einziger im Lager noch immer schlief. Omar weckte ihn mit einem Fußtritt, der einen normalen Mann zur Seite geschleudert hätte, Harun aber nur zu einem Grunzen und einer unwilligen Bewegung im Schlaf veranlasste. Erst als Omar ihm einen zweiten und noch unsanfteren Tritt versetzte, schlug er widerwillig die Augen auf und blinzelte verschlafen zu dem Sklavenhändler hoch.

»Ist das Frühstück schon fertig?«, fragte er.

»Wir brechen auf«, knurrte Omar. »Du kannst aber auch gern hier bleiben. Vielleicht kommt ja ein Dschinn vorbei und lädt dich zu einem Festmahl ein.«

Harun blinzelte noch verwirrter, und Omar drehte sich auf der Stelle herum und marschierte wieder davon. Auch jetzt vermied er es fast zwanghaft, in ihre Richtung zu sehen.

In aller Eile verließ die Karawane die Ruinenstadt. Robin fand nicht einmal mehr die Zeit, ihre Schale mit Sand auszuwaschen, wie es unterwegs üblich war, sondern verstaute sie hastig in den Satteltaschen des Kamels und stieg in den Sattel. Sie ritt jetzt nicht mehr auf die sonderbare Weise, die Harun ihr am ersten Tag beigebracht hatte, sondern saß wie ein Mann im Sattel.

Als sie durch das Tor kamen, durch das sie am vergangenen Abend diesen verwunschenen Ort aufgesucht hatten, sah sie sich noch einmal um. Harun war noch damit beschäftigt, sein Kamel zu beladen, aber auch er hatte es sichtbar eilig. Mit einiger Mühe würde er die Karawane sicher wieder einholen. Robin war erleichtert. Der übergewichtige Araber war ihr - auch wenn sie ihn nicht gerade als Freund bezeichnen würde - in den letzten Tagen mehr und mehr ans Herz gewachsen. Man wurde bescheiden, wenn man kaum mehr Menschen um sich wusste, denen man vertrauen konnte.

Gerade als Robin sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen begann, tauchte Harun auf seinem Kamel unter dem Tor auf. Er hatte sich umgezogen. Statt albern wie ein herausgeputzter Papagei saß er nun, vollkommen in Schwarz gekleidet, im Sattel seines Kameles. Mit seiner hofnarrenhaften Aufmachung schien auch jegliches linkische Gehabe von ihm abgefallen zu sein. Robin konnte sich nicht daran erinnern, Harun al Dhin jemals so selbstverständlich und in perfekter Haltung auf seinem Kamel sitzen gesehen zu haben. Obwohl er ein gutes Stück zurücklag, holte er doch schnell auf und wurde erst langsamer, als er das Ende der Karawane erreicht hatte. Auch dann noch ließ er sein Tier ein wenig schneller traben als die anderen, sodass er allmählich wieder an ihre Seite gelangte. Ein sonderbar spöttisches Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er an ihr vorbeiritt und dann - wortlos - seinen angestammten Platz zwei Kamellängen vor ihr wieder einnahm.

Der Rest des Vormittages verlief ereignislos. Sie bewegten sich weiter in einer Richtung, von der Robin längst nicht mehr wusste, ob sie Süden oder Norden, Osten oder Westen war. Ohnehin war es ganz egal, in welche Richtung man sah, der Anblick war überall gleich: Gewellte, regelmäßige Sanddünen von rötlichbrauner Farbe, aus denen nur hier und da ein verwitterter Felsen aus bröckelndem Stein ragte, und eine Sonne, die mit jedem Moment erbarmungsloser von einem wolkenlosen Himmel herabbrannte.

Sie waren etwa zwei Stunden geritten, als Omar den Befehl gab, abzusteigen und die Tiere am Zügel zu nehmen. Innerlich seufzte Robin tief - der einzige Einwand, den sie sich gestattete. Das Gehen in diesem glühend heißen, fast staubfeinen Sand, der beständig unter ihren Füßen nachgab und zur Seite rutschte, war ungemein anstrengend. Man ermüdete auf diese Weise viel schneller, und der Sand war tückisch; manchmal geriet eine ganze Düne einfach ins Rutschen und floss wie Wasser unter den Füßen hinweg. Robin war durchaus nicht die Einzige, die gelegentlich um ihr Gleichgewicht kämpfen musste oder auch stürzte. Dennoch billigte sie Omars Entscheidung ohne jedes weitere Murren.

Sie mussten die Kräfte der Kamele schonen, selbst wenn sie ihre eigenen dabei über die Maßen strapazierten. Omar hatte ihr zwar versichert, dass die Assassinen sie unmöglich bis hierher verfolgen würden, aber die Karawane musste dennoch so schnell wie möglich aus dieser Wüste heraus. Anderthalb Tage noch bis Palmyra, hatte er gesagt. Das klang nach wenig, aber anderthalb Tage in dieser Hölle, das waren anderthalb Ewigkeiten.

Als die Sonne senkrecht am Himmel stand, legten sie eine kurze Rast ein. Sie hatten einen lang gezogenen Wüstenkamm erreicht, von dem aus der Blick ungehindert über viele Meilen in die ewig gleich bleibende Einöde reichte, und Robin wunderte sich ein bisschen, dass sie hier oben lagerten, statt unten im Dünental. Dann wurde ihr klar, dass es keinen Unterschied machte. Es gab ja nichts, um sich vor der Sonnenglut zu verstecken. Dort unten im Tal zwischen den Sanddünen war es genauso unerträglich heiß wie hier oben.

Sie sah sich nach Nemeth um, weil sie nicht allein sein wollte, aber das Mädchen und seine Mutter hatten sich ein gutes Stück von ihr entfernt in den Sand gesetzt. Sie musste Sailas Gesicht nicht einmal sehen, um zu wissen, dass das kein Zufall war. Dass sie es sich mit der Araberin abermals verdorben hatte, schmerzte Robin. In den letzten Tagen hatte sich ein noch scheues, aber spürbares Vertrauensverhältnis zwischen ihnen entwickelt, das nun schon wieder zerstört war. Robin verstand nicht so recht, warum. Außerdem fragte sie sich, warum Omar ihr versichert hatte, er sei der Einzige, der das Geheimnis des Busches kannte, dieses lebendige Symbol der großen Liebe zwischen Melikae und Hisham - wo sogar Saila darum wusste.

Fast ohne ihr Zutun griff Robins Hand unter ihr Kleid und zog die Rosenblüte hervor.

Sie erstarrte.

Die Rose war verwelkt. Der Stiel hatte sich braun verfärbt und war schrumpelig geworden, und die Blätter, am Morgen noch blutrot und von leuchtender Farbe, waren so ausgetrocknet und mürbe, dass sie unter ihren Fingern zerbrachen wie ganz feines Glas. Aber das war doch unmöglich! Selbst in dieser glühenden Wüste konnte eine Blume nicht so schnell vertrocknen und zu Staub zerfallen!

Sie erinnerte sich wieder an Sailas Worte vom Morgen und schauderte. Sie weigerte sich immer noch, an die Dschinn, an Flüche und Geister zu glauben, aber die verwelkte Rosenblüte in ihrer Hand sprach eine ganze andere Sprache.

»Was hast du da?« Robin fuhr erschrocken zusammen, als sie Haruns Stimme hörte, und schloss instinktiv die Hand um die Rose. Es knisterte, als sie zwischen ihren Fingern endgültig zu Staub zerfiel.

»Nichts«, sagte sie.

»Wenn es nichts ist, warum verbirgst du es dann in deiner Hand?«, fragte Harun al Dhin lächelnd.

Verwirrt und ein bisschen schuldbewusst öffnete Robin die zur Faust geschlossene Rechte. Nur ein wenig rötlichbrauner Staub rieselte in den Sand hinab und schien von ihm aufgesogen zu werden. Harun runzelte die Stirn und ließ sich wortlos und mit untergeschlagenen Beinen unmittelbar neben Robin zu Boden sinken.

»Ich beginne allmählich an Omars Verstand zu zweifeln«, sagte er. »Dieser Wahnsinnige führt uns immer tiefer in die Wüste hinein.«

»Vielleicht ist er nicht ganz so wahnsinnig, wie Ihr glaubt«, murmelte Robin. Eine innere Stimme mahnte sie, nicht weiterzusprechen. Omar hatte ihr ein Geheimnis anvertraut, und auch wenn er vermutlich niemals erfahren würde, dass sie es Harun al Dhin gegenüber preisgab, so käme sie sich trotzdem wie eine Verräterin vor. Aber es war bereits zu spät.

»Wie meinst du das?«, fragte Harun.

Robin druckste einen Moment herum. Sie wollte Omar nicht verraten, aber sie hatte auch das Gefühl, Harun al Dhin eine Antwort schuldig zu sein. »Er hat gesagt, dass die Assassinen uns nicht hierher folgen können«, antwortete sie ausweichend - was voll und ganz der Wahrheit entsprach, ohne Omars Geheimnis vollends zu offenbaren.

»So?«, sagte Harun. »Hat er das?«

»Ihre Pferde können nicht so tief in die Wüste vordringen.«

»Das stimmt«, erwiderte Harun. Nach einer winzigen Pause und in leicht verändertem Ton fügte er hinzu: »Jedenfalls nicht, wenn sie auch noch den Rückweg schaffen wollen.«

Seine Worte beunruhigten Robin. »Ihr meint, dass sie...«

»Ich weiß nicht viel über Assassinen«, unterbrach sie Harun. »Aber so viel schon: Wenn sie von ihrem Herrn einen Befehl erhalten, dann führen sie ihn aus, und wenn es ihr Leben kostet. Sie würden nicht zögern, uns auch hierher zu folgen, selbst wenn sie ganz genau wüssten, dass sie nicht mehr zurückkehren könnten.« Er schwieg einen Moment, als er jedoch bemerkte, wie sehr Robin diese Worte erschreckt hatten, zauberte er ein beruhigendes Lächeln auf seine Züge. »Hab keine Angst. Ich glaube nicht, dass sie das tun. Nach allem, was ich über Sheik Sinan gehört habe, ist er ein harter Mann, aber kein Dummkopf. Er würde kaum das Leben eines Dutzends Männer opfern, nur um eines kleinen Diebes und Betrügers habhaft zu werden, den er früher oder später sowieso ergreift.«

»Wieso?«

Harun hob die Schultern. »Omar kann nicht immer in dieser Wüste bleiben, oder? Irgendwann, in irgendeiner Stadt, wird er wieder auftauchen. Und dort werden ihn die Assassinen erwarten.«

Das sollte Robin zweifellos beruhigen, aber die Worte bewirkten eher das Gegenteil. Auch Omar war kein Dummkopf. Er musste wissen, dass er den Assassinen auf Dauer nicht entkommen konnte. Umso größer war das Opfer, das er zu bringen bereit war, und umso schlechter fühlte sich Robin. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Sie hatte Angst vor diesen unergründlichen Gefühlen für einen Mann, für den sie nichts als Hass und Verachtung empfinden sollte. Sie musste mit irgendjemandem darüber sprechen.

Gerade, als sie dazu ansetzte, sich Harun zu offenbaren, entstand an der Spitze der Karawane Unruhe. Harun sah alarmiert hoch, und auch Robin blickte konzentriert in die gleiche Richtung. Einige Männer waren aufgesprungen, liefen durcheinander oder gestikulierten mit den Armen. »Khamsin! Khamsin!«

»Khamsin? Was bedeutet das?«, fragte Robin. Sie hatte dieses Wort noch nie gehört.

Harun al Dhin offenbar schon, denn er wirkte plötzlich angespannt, alarmiert. »Wind«, murmelte er.

»Wind?«

Harun schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Nicht irgendein Wind«, antwortete er. »Es ist ein heißer Wüstenwind, der manchmal tagelang weht und schon so mancher Karawane zum Verhängnis geworden ist.« Er hob den Arm und deutete auf den Himmel im Süden. Der Horizont hatte sich graubraun verfärbt. »Er kommt.«

Omar kam von der Spitze der Karawane herangeritten. »Alles auf die Kamele!«, befahl er. »Schnell! Wir müssen den Felskamm erreichen. Wenn uns der Sturm hier überrascht, sind wir verloren.«

Robin sah nicht einmal einen Felsen. In der Richtung, in die Omars ausgestreckter Arm deutete, erkannte sie nur weitere endlose Sanddünen sowie einen lang gezogenen, dünnen Strich. Dennoch beeilte sie sich, auf ihr Kamel zu klettern und das Tier unsanft zum Aufstehen zu bewegen. Niemand sprach jetzt mehr davon, die Kräfte der Kamele zu schonen. Die Männer schrien weiter dieses unheimliche Wort Khamsin!, und die Angst, die dabei in ihren Stimmen mitschwang, war unüberhörbar.

Auch Harun war auf sein Kamel gesprungen, machte aber noch keine Anstalten loszureiten, sondern winkte ihr ungeduldig zu. »Bleib immer bei mir. Ganz egal, was passiert, weiche nicht von meiner Seite!«

Robin nickte, zugleich aber sagte sie: »Ich muss mich um Nemeth kümmern.«

Harun verdrehte die Augen. »O Allah, ich werde nie wieder behaupten, dass ein Kamel stur ist, oder ein Esel. Nicht, seit ich dich kennen gelernt habe. Aber um des Propheten willen - dann passe ich eben auf euch beide auf. Und jetzt los. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren!«

Und damit hatte er kein bisschen übertrieben. Sie ritten los. Omar, der wieder an der Spitze der Karawane ritt und das Tempo vorgab, sprengte in einer Geschwindigkeit dahin, die einem Rennpferd alle Ehre gemacht hätte, und die meisten anderen Kamele hielten ohne Probleme mit ihm Schritt.

Auch die Tiere waren erschöpft und durstig, aber sie schienen die Gefahr, die aus dem Süden auf sie zukam, ebenso deutlich zu spüren wie ihre Reiter. Zwei oder drei Lastkamele und einer von Mussas Kriegern fielen nach und nach zurück, doch niemand machte auch nur den Versuch, ihm zu helfen oder gar auf sie zu warten. Einmal drehte sich Robin um, um nach ihnen Ausschau zu halten. Als sie sie entdeckte, winzige Punkte, waren sie sicherlich schon eine Meile entfernt, und dicht hinter ihnen tobte eine braun-graue, unheimliche Masse heran. Es sah weniger wie ein Sturm aus, eher als hätte sich die Wüste erhoben und wäre nun zu einer Wand geworden, die mit täuschender Langsamkeit auf sie zukam. Langsam, aber unaufhaltsam.

Dennoch fasste sie neue Hoffnung, als sie wieder nach vorn sah und den Horizont mit Blicken abtastete. Sie konnte den Felsenkamm, von dem Omar Khalid gesprochen hatte, nun ebenfalls sehen. Entsetzlich weit noch entfernt, bestimmt vier oder fünf Meilen, wenn nicht mehr, und eingebettet in die endlosen roten Wogen der Wüste, wirkte er klein und selbstverloren: nicht wie etwas, das ihnen Schutz bieten konnte, sondern etwas, das selber Schutz brauchte. Dennoch erschien er ihr wie ein letzter Hoffnungsschimmer. Sie versuchte, ihr Kamel noch mehr anzutreiben, aber das Tier warf nur unwillig den Kopf in den Nacken und gab ein lang gezogenes Blöken von sich. Seine hässlichen Beine arbeiteten in rasendem Takt, und Robin musste sich mit aller Kraft am Sattelknauf festhalten, um nicht abgeworfen zu werden, was vermutlich ihren sicheren Tod bedeutet hätte.

Als sie sich dem Sandsteinfelsen bis auf eine Meile genähert hatten, drehte sie sich noch einmal halb im Sattel herum und sah zurück. Sie erschrak. Der Sturm hatte sie fast erreicht. Vielmehr die massive Wand, die die Wüste und den Horizont sowie einen Teil des Himmels verschlungen hatte und langsam hinter ihnen heranrollte. Der Himmel darüber war schwarz, längst nicht mehr graubraun, und sie glaubte, dünne, verästelte Blitze darin zucken zu sehen. Sie hörte ein unheimliches Grollen und Dröhnen, nicht das Geräusch eines Sturmes, sondern einen Laut, der an berstende Steine oder ein einstürzendes Gebirge erinnerte. In den stampfenden Rhythmus der Kamelhufe, der ihre Zähne schmerzhaft aufeinander schlagen ließ, hatte sich ein dumpfes Vibrieren und Zittern gemischt, als erbebe die Erde selbst unter der Wut dieses Höllensturmes.

Das Ende der Karawane war nicht mehr zu sehen. Die ehemals dicht geschlossene Kette war weit auseinander gefallen, und dort, wo die letzten zwei oder drei Tiere sein sollten, rollte eine brüllende braunrote Masse, die genau in diesem Augenblick einen weiteren Reiter verschlang.

»Schneller!«, brüllte Harun neben ihr. »Bei Allah, reite schneller, Mädchen, oder du bist verloren!«

Der Wind, das Donnern der Kamelhufe und die erschrockenen Schreie der verängstigten Männer verschluckten seine Worte nahezu. Selbst wenn sie es versucht hätte - sie hätte gar nicht schneller reiten können. Das Kamel griff bereits so rasch aus, wie es überhaupt möglich war, und Robin brauchte ihre ganze Kraft und Geschicklichkeit, um sich im Sattel zu halten, der mittlerweile ruckartig hin und her schwankte. Irgendwie brachte sie die Kraft auf, den Kopf zu drehen und nach Nemeth und ihrer Mutter zu sehen. Ihr Kamel befand sich nur wenige Schritte schräg hinter ihr - aber es fiel schon merklich zurück. Das Gewicht zweier Reiter, und sei der Unterschied noch so gering, begann sich bemerkbar zu machen. Robin schrie deshalb Saila verzweifelt zu, was Harun gerade ihr herübergerufen hatte, doch die Worte wurden ihr von den Lippen gerissen, noch bevor sie selbst sie hören konnte.

Verzweifelt starrte sie die Felswand an. Sie war jetzt ganz nahe, vielleicht noch hundertfünfzig, zweihundert Schritte entfernt, wenige Augenblicke nur bei dem rasenden Trab, in den die Kamele verfallen waren. Die ersten Männer hatten den Schutz des verwitterten gelb-braunen Sandsteins bereits erreicht, zwangen ihre Kamele zu Boden oder sprangen aus den Sätteln, noch bevor die Tiere ganz angehalten hatten, um sich im Schutz ihrer Körper zusammenzukauern. Ein paar der Lastkamele rannten blindlings weiter, halb wahnsinnig vor Furcht, und etliche der Reittiere mussten mit Gewalt dazu gezwungen werden, anzuhalten. Robin beobachtete voller Entsetzen, wie einer von Mussas Söldnern sein Schwert zog und seinem Tier die Sehnen an den Hinterläufen durchhackte, damit es zusammenbrach. Harun, der neben ihr ritt, schrie und gestikulierte wieder in ihre Richtung, ohne dass Robin etwas verstehen konnte. Er saß weit nach vorne gebeugt im Kamelsattel, und sie hatte das sichere Gefühl, dass sein Tier noch wesentlich schneller hätte laufen können, wenn er es nur zugelassen hätte.

Der Verzweiflung nahe, drehte sie noch einmal den Kopf, um nach Saila und Nemeth zu sehen. Sie vollendete die Bewegung genau in dem Moment, als die brüllende braunrote Wand hinter ihr das Kamel der beiden verschlang. Und noch bevor ihr auch nur die Zeit geblieben wäre, einen Entsetzensschrei hervorzustoßen, hatte der Sturm auch sie eingeholt.

Dann ging die Welt unter.

Später, als alles vorbei war, sollte sie begreifen, dass sie nur von einem schwachen Ausläufer des Sandsturmes gestreift worden waren. Doch schon diese bloße Vorahnung der wirklichen Kraft des Khamsin reichte, um ihr die schlimmsten Augenblicke ihres bisherigen Lebens zu bescheren.

Einen Sekundenbruchteil auf den anderen wurde es dunkel um sie herum, finsterer und lichtloser als in der schwärzesten Nacht, nur dass diese Dunkelheit nicht schwarz, sondern rot war und aus reiner tobender Bewegung bestand. Sie konnte nicht mehr atmen. Sand hieb ihr wie eine Faust ins Gesicht, verstopfte ihre Nasenlöcher, drang zwischen ihre zusammengepressten Zähne, fand binnen eines einzigen Augenblickes jeden noch so winzigen Spalt in ihrer Kleidung. Ihre Augen waren verklebt und brannten von dem staubfeinen, heißen Sand und zu dem heftigen Schaukeln des Kameles unter ihr gesellte sich eine zweite, noch viel stärkere Kraft, die wütend an ihr zerrte. Sie wollte schreien, aber hätte sie die Lippen auch nur einen Spalt breit geöffnet, wäre sie auf der Stelle von dem Sand um sie herum erstickt worden.

Robin benutzte die Zügel schon lange nicht mehr, um das Tier zu lenken, sondern klammerte sich nur noch mit verzweifelter Kraft daran fest und betete, dass das Kamel von selbst seinen Weg in den Schutz der Felswand finden würde. Weder sie noch der Himmel, noch irgendetwas rings um sie herum waren zu sehen. In dem tobenden dunkelroten Chaos konnte sie kaum noch den Hals des Kamels erkennen, und alles, was sie noch zu hören vermochte, war ein ungeheures tiefes Grollen und Dröhnen, die Stimme des Sturms, die in ihren Ohren zum wütenden Zorngebrüll der Dschinn anschwoll, vor denen Saila so viel Angst hatte. Hätte sie die Rose noch gehabt, sie hätte sie weggeworfen, um sie der Wüste zurückzugeben.

Mit einem Mal strauchelte ihr Kamel, ein besonders heftiger Ruck brachte Robin endgültig aus dem Gleichgewicht und sie stürzte fast zwei Meter tief in den Sand hinab. Etwas Riesiges, Bedrohliches huschte rechts an ihr vorbei und schien wie die Hand eines Giganten nach ihr zu schlagen, verfehlte sie um Haaresbreite, und sie ahnte mehr, als dass sie sah, wie ihr Kamel noch zwei, drei Schritte weiter lief und dann erschöpft zu Boden sank. Blindlings, ohne zu wissen, was sie tat, kroch Robin auf Händen und Knien zu dem Tier hin und rollte sich in der Deckung seines Körpers zu einem Ball zusammen.

Irgendwie fand sie der Wind noch immer. Ihre Kehle war mit Sand gefüllt. Sie musste ununterbrochen husten und jeder Atemzug bereitete ihr Höllenqualen. Sie hatte entsetzlichen Durst, aber sie wagte es nicht, auch nur die Hand zu heben, um nach dem Wasserschlauch am Sattel des Kamels zu greifen. Robin wusste nicht, wie lange es dauerte. Vermutlich nur wenige Minuten, doch sie dehnten sich für sie zu einer Ewigkeit. Irgendwann jedoch war es vorbei, und das Ende kam so unvermittelt und schnell, wie der Sturm sie verschlungen hatte. Ein letztes gewaltiges Aufheulen der tobenden Dschinn, die Omar mit seiner Freveltat entfesselt hatte, und plötzlich war der Himmel wieder strahlend blau und die Luft beinahe windstill. Die gigantische rotbraune Mauer, hinter der die Welt einfach aufhörte, befand sich plötzlich jenseits der Karawane und entfernte sich scheinbar so behäbig, wie sie gekommen war.

Als Robin sich hochstemmte und sich den Sand aus den Augen wischte, bot sich ihr ein Anblick des Schreckens. Was noch von der Karawane übrig war, war weit auseinander gerissen und willkürlich verstreut worden. Männer und Tiere lagen im Sand oder irrten ziellos umher. Der Großteil ihrer Ausrüstung war auf einen Bereich von sicherlich mehr als einer Meile im Durchmesser verstreut, soweit er nicht ganz verschwunden war. Sie bemerkte mindestens zwei von Mussas Männern, die reglos am Fuße der Felswand lagen, wo sie der Sturm gepackt und einfach gegen den Stein geschleudert hatte, dazu noch drei oder vier Kamele, die verletzt waren und vor Schmerz blökten. Es war unmöglich zu sagen, wie viele Opfer der Sturm wirklich gefordert hatte, aber es waren unzählige.

Jemand berührte sie an der Schulter. Robin fuhr mit einem unterdrückten Schrei herum. Es war Omar, dessen Kleider in Fetzen hingen und dessen Gesicht blutüberströmt war. »Bist du verletzt?«, stieß er hervor. »Ist dir etwas geschehen?«

»Nein«, murmelte Robin. Sie war nicht ganz sicher, ob sie das Wort wirklich herausbrachte; in ihren eigenen Ohren hörte es sich wie ein unverständliches Krächzen an. Ihre Kehle war noch so wund, dass ihr jeder Atemzug Schmerz bereitete, und als sie krampfhaft schluckte, schmeckte sie Blut.

Omar sah noch einen Moment lang besorgt auf sie herab, dann griff er wortlos unter seinen Mantel, zog einen Wasserschlauch hervor und setzte ihn Robin an die Lippen. Gierig trank sie die kostbare Flüssigkeit, verschluckte sich prompt und hustete in dem ebenso qualvollen wie vergeblichen Bemühen, die wenigen Tropfen, die sie gerade zu sich genommen hatte, nicht auf der Stelle wieder auszuspucken. Omar ließ sich neben ihr in die Hocke sinken, wartete geduldig, bis sie wieder zu Atem gekommen war, und hielt ihr den Schlauch abermals an die Lippen. Als Robin den Kopf schüttelte und ihn wegschieben wollte, ergriff Omar einfach ihre Handgelenke, hielt ihre Arme ohne die geringste Mühe fest und zwang sie mit sanfter Gewalt, den Schlauch bis auf den letzten Tropfen zu leeren.

»Danke«, würgte Robin hervor. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die trocken wie Sandpapier waren und entsetzlich wehtaten. Obwohl sie gerade fast eine ganze Tagesration Wasser getrunken hatte, war sie genauso durstig wie zuvor. Ihr Körper fühlte sich ausgedörrt an. Sie hatte kaum die Kraft aufzustehen und wollte nach dem Sattel greifen, um sich daran in die Höhe zu ziehen. Schon streckte Omar den Arm aus, und sie ließ sich von ihm helfen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich dagegen zu wehren.

»Was ist mit Eurem Gesicht?«, fragte sie.

Omar strich sich mit der Hand über die Stirn und betrachtete offenbar überrascht das Blut, das an seinen Fingerspitzen klebte. »Nichts«, sagte er. »Ein Kratzer. Kann ich dich einen Moment allein lassen?«

Robin nickte. Omar sah sie noch einen weiteren Herzschlag lang durchdringend an, als müsste er sich davon überzeugen, dass es auch wirklich so war. Dann drehte er sich mit einem Ruck herum und verschwand, um anderenorts nach dem Rechten zu sehen. Auch Robin wandte sich hastig ab. Es nutzte nichts, es zu leugnen: Sie war erleichtert, Omar unversehrt gesehen zu haben.

Was aber war mit Nemeth und Saila, und mit Harun?

Sie entdeckte Saila und ihre Tochter nur wenige Schritte hinter sich. Die beiden hatten den Schutz des Felsens erreicht und saßen, reichlich mitgenommen und sichtbar am Ende ihrer Kräfte, im Sand. Wenigstens schienen sie nicht verletzt zu sein. Als Robin zu ihnen lief, hob Nemeth den Blick und schenkte ihr ein mattes Lächeln. Sie hielt einen fast leeren Wasserschlauch in den Händen und in dem rotbraunen Staub, der ihr Gesicht wie eine Maske bedeckte, hatten Wassertropfen dunkel eingetrocknete Spuren hinterlassen. Robin machte mitten im Schritt kehrt, ging zu ihrem Kamel zurück und holte ihren eigenen, noch prall gefüllten Schlauch. Als sie ihn Saila hinhielt, schüttelte diese den Kopf.

»Trink!«, sagte Robin.

Saila sah sie ausdruckslos an und verneinte abermals. Daraufhin machte Robin eine auffordernde, fast herrische Bewegung und sagte noch einmal und schärfer: »Trink! Ich befehle es!«

Einen ganz kurzen Moment lang sah es so aus, als wollte Saila bei ihrer Weigerung bleiben. Dann aber griff sie mit zitternden Händen nach dem dünnen Beutel aus Ziegenleder, öffnete ihn und trank einen winzigen Schluck. Robin schüttelte den Kopf, als sie ihn ihr zurückgeben wollte. »Behaltet es«, sagte sie. »Ich kann so viel Wasser bekommen, wie ich will.«

Sie lächelte Nemeth noch einmal aufmunternd zu, dann ging sie zu ihrem Tier zurück und untersuchte es, so gut sie konnte. Sie verstand überhaupt nichts von Kamelen, aber das Tier wies zumindest keine äußerlichen Verletzungen auf, und zur Abwechslung versuchte es nicht einmal, ihr die Finger abzubeißen, als sie nach den Zügeln griff und seinen Kopf herabzog, um ihn zu begutachten. So weit sie es beurteilen konnte, war das Tier tatsächlich unversehrt geblieben.

Zahlreiche andere jedoch nicht. Robin drehte sich langsam einmal im Kreis und betrachtete niedergeschlagen das, was von ihrer Karawane übrig geblieben war. Es war zu früh, um wirklich etwas zu sagen, aber sie schätzte, dass sie ein Viertel der Tiere und vermutlich die Hälfte ihrer Ladung verloren hatten. Zahlreiche Männer waren verletzt und wie viel Wasser ihnen geblieben war, das wagte Robin nicht einmal zu schätzen.

Von Harun war nirgends eine Spur zu entdecken. Robin versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass Harun al Dhin zu jenen gehörte, die schon auf sich aufzupassen verstanden und immer irgendwie durchkamen, aber es blieb ein nagender Zweifel. Schließlich begann sie, nach Harun zu suchen, rief seinen Namen und lief aufgeregt am Fuße des Sandsteinfelsens hin und her.

Aber so laut sie auch nach ihm rief, Harun al Dhin blieb verschwunden. Der Sturm hatte ihn verschluckt.

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