18

Selbst in den kältesten Tagen des Winters – bis auf den schweren Schneesturm, der jeden davon abgehalten hatte, Durnholde zu verlassen – hatte Taretha immer wieder den vom Blitz gefällten Baum besucht. Und jedes Mal, wenn sie in die schwarzen Tiefen des Baumes blickte, war dort nichts gewesen.

Sie genoss die Rückkehr des wärmeren Wetters, obwohl die vom geschmolzenen Schnee durchweichte Erde an ihren Stiefeln saugte und es dem Schlamm mitunter gelang, Taretha einen von ihnen auszuziehen. Aber den Stiefel befreien und ihn wieder über ihren Fuß streifen zu müssen, war ein geringer Preis für die frischen Gerüche des erwachenden Waldes, die Schächte hellen Sonnenlichts, die die Schatten aufbrachen, und das erstaunliche Farbenmeer, das die Wiesen und den Waldboden sprenkelte.

Auf Durnholde redeten alle von Thralls Taten. Das brachte Blackmoore dazu, nur noch mehr zu trinken. Was manchmal nicht schlecht war. Mehr als einmal war Taretha leise ins Schlafzimmer getreten und hatte den Herrn von Durnholde schlafend auf dem Boden, im Sessel oder im Bett vorgefunden. Stets lag eine Flasche in der Nähe. In diesen Nächten atmete Taretha Foxton erleichtert auf, schloss die Tür und schlief allein in ihrer eigenen kleinen Kammer.

Vor ein paar Tagen war der junge Lord Langston zurückgekehrt und hatte Geschichten erzählt, die zu fantastisch klangen, um auch nur ein kleines Kind zu erschrecken. Und doch … Hatte sie nicht von den Kräften gelesen, die die Orks einst besessen haben sollten? Kräfte, die in Harmonie mit der Natur standen? Vor langer, langer Zeit? Sie wusste, wie intelligent Thrall war, und es hätte sie in keinster Weise überrascht, sollte er diese alten Künste erlernt haben.

Jetzt näherte Taretha sich dem alten Baum und blickte in seine Tiefen, wie sie es schon so oft vergeblich getan hatte.

Und rang nach Luft. Ihre Hände flogen an ihren Mund, und ihr Herz begann so wild zu schlagen, dass sie fürchtete, sie müsse ohnmächtig werden. Dort, in ein braunschwarzes Loch gebettet, lag ihre Halskette. Sie fing das Sonnenlicht ein und leuchtete wie ein silberner Leitstern. Taretha streckte ihre zitternden Finger nach dem Schmuckstück aus, ergriff es – und ließ es wieder fallen.

»Wie ungeschickt!«, zischte sie und nahm die Kette wieder mit etwas ruhigerer Hand auf.

Es konnte ein Trick sein. Vielleicht hatte man Thrall gefangen und ihm die Halskette abgenommen. Vielleicht hatte man sie sogar als die ihre erkannt. Doch – es sei denn Thrall hatte jemandem von ihrer Abmachung erzählt – wer sollte wissen, dass er sie hier abzulegen hatte? Und einer Sache war sie sich sicher: Niemand konnte Thrall brechen.

Tränen der Freude füllten ihre Augen und liefen an ihren Wangen hinab. Sie wischte sie mit der Linken ab, während ihre Rechte zärtlich den halbmondförmigen Anhänger hielt.

Thrall war hier in den Wäldern, versteckte sich wahrscheinlich in der Höhle des Drachenfelsens. Er wartete auf ihre Hilfe. Vielleicht war er verletzt. Ihre Hände schlossen sich um die Halskette, und sie stopfte sie in ihr Kleid. Es war am Besten, wenn niemand ihren »verlorenen« Schmuck sah.

So glücklich war sie nicht mehr gewesen, seit sie den Ork das letzte Mal gesehen hatte, und doch machte sie sich Sorgen um seine Sicherheit, während sie zurück nach Durnholde ging.


Der Tag schien kein Ende nehmen zu wollen. Taretha war dankbar, dass es heute Abend Fisch gab; mehr als einmal war ihr von falsch zubereitetem Fisch schlecht geworden. Der Koch von Durnholde hatte Blackmoore vor über zwanzig Jahren in der Schlacht gedient. Er war als Belohnung für seine Dienste eingestellt worden, nicht seiner Kochkunst wegen.

Natürlich aß sie nicht mit Blackmoore am Tisch in der großen Halle. Der Lord wäre nicht im Traum darauf gekommen, vor seinen edlen Freunden eine Dienstmagd neben sich sitzen zu haben. Sie war ihm gerade gut genug fürs Bett, und das kam Taretha heute Abend sehr entgegen.

»Du scheinst mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein, Liebes«, sagte Tammis zu seiner Tochter, als sie an dem kleinen Tisch in seinem Quartier saßen. »Geht es dir … gut?«

Der besorgte Ton seiner Stimme und der ängstliche Blick, den ihre Mutter bei der Frage auf Taretha richtete, brachten sie beinahe zum Grinsen. Ihre Eltern machten sich Sorgen, sie könnte schwanger sein. Nun, das würde ihr bei ihrer List helfen.

»Sehr gut, Pa«, antwortete sie. »Aber dieser Fisch … findest du nicht auch, dass er seltsam schmeckt?«

Clannia stocherte mit ihrer zweizinkigen Gabel in ihrem eigenen Fisch. »Er schmeckt ziemlich gut, wenn man bedenkt, dass Randrel ihn zubereitet hat.«

Tatsächlich war der Fisch heute sehr lecker. Trotzdem nahm Taretha einen weiteren Bissen, kaute, schluckte und verzog das Gesicht. Sie übertrieb ein wenig, als sie den Teller von sich fort schob. Während ihr Vater eine Orange schälte, schloss Taretha die Augen und wimmerte.

»Es tut mir Leid …« Sie rannte aus dem Raum und machte dabei Geräusche, als würde sie sich gleich übergeben müssen. Sie erreichte ihr Quartier, das im gleichen Stockwerk lag wie das ihrer Eltern, und beugte sich kniend mit unüberhörbaren Brechlauten über den Nachttopf. Sie musste lächeln. Die Situation wäre wirklich sehr komisch gewesen, hätte nicht so viel auf dem Spiel gestanden.

Jemand klopfte eindringlich gegen die Tür. »Liebling, ich bin’s«, hörte sie Clannias Stimme. Ihre Mutter öffnete die Tür. Taretha schob den leeren Nachttopf außer Sicht. »Meine Arme. Du bist bleich wie Milch.«

Das zumindest musste Taretha nicht vortäuschen. »Bitte … kann Pa mit dem Lord sprechen? Ich glaube nicht …«

Clannia lief rot an. Obwohl jeder wusste, dass Taretha Blackmoores Geliebte war, sprach man nicht darüber. »Natürlich, meine Kleine, natürlich. Möchtest du heute Nacht bei uns schlafen?«

»Nein«, sagte sie schnell. »Nein, es ist nicht so schlimm. Ich möchte nur ein wenig allein sein.« Sie hob ihre Hand wieder zum Mund, und Clannia nickte.

»Wie du wünschst, Tari-Liebling. Gute Nacht. Lass uns wissen, wenn du etwas brauchst.«

Clannia schloss die Tür hinter sich, und Taretha ließ einen langen, tiefen Seufzer der Erleichterung heraus. Jetzt musste sie nur noch warten, bis sie unbemerkt gehen konnte. Ihre Kammer lag ganz in der Nähe der Küchen, in denen noch bis spät in die Nacht gearbeitet wurde. Doch als alles still war, stahl sie sich heraus. Zuerst ging sie in die Küchen und packte so viel Essen, wie sie in die Finger bekommen konnte, in einen Sack. Sie hatte bereits ein paar alte Kleider zerrissen, um Verbandszeug zur Verfügung haben, sollte Thrall es benötigen.

Blackmoores Gewohnheiten waren so vorhersagbar wie der Aufgang und der Untergang der Sonne. Wenn er schon beim Abendessen trank, was er meist tat, dann war er bereit, sie gleich nach dem Abendessen in seinem Schlafzimmer zu unterhalten. Danach fiel er in einen tiefen Schlaf, aus dem nichts ihn vor Sonnenaufgang aufzuwecken vermochte.

Sie hatte den Bediensteten in der großen Halle gelauscht und wusste, dass er wie üblich getrunken hatte. Sie war diese Nacht nicht bei ihm, und das würde ihm die Laune verhagelt haben. Inzwischen aber würde er mit Sicherheit längst schlafen.

Vorsichtig öffnete Taretha die Tür zu Blackmoores Quartier. Sie schlüpfte hinein und schloss die Tür wieder so leise wie möglich. Lautes Schnarchen empfing sie. Beruhigt schlich sie zu ihrem Schlüssel zur Freiheit.

Blackmoore hatte vor vielen Monaten damit geprahlt, als er wieder einmal selbst für seine Verhältnisse stark betrunken war. Er hatte vergessen, dass er ihr davon erzählt hatte, aber Taretha erinnerte sich genau. Jetzt ging sie zu dem kleinen Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Sie drückte vorsichtig. Der falsche Boden lockerte sich in ihrer Hand und enthüllte ein kleines Kästchen.

Taretha nahm den Schlüssel heraus, stellte das Kästchen zurück in die Schublade und setzte den falschen Boden wieder ein. Dann wandte sie sich dem Bett zu.

Zur Rechten hing ein Wandteppich, der einen edlen Ritter zeigte. Er kämpfte mit einem wilden, schwarzen Drachen, der einen großen Schatz verteidigte. Taretha schob den Wandteppich zur Seite und fand den wahren Schatz des Raumes – eine versteckte Tür. So leise sie konnte, führte sie den Schlüssel ins Schloss ein, drehte ihn und öffnete die Geheimtür.

Steinstufen führten hinab in die Dunkelheit. Kühle Luft schlug ihr entgegen und führte den Geruch von nassem Stein mit. Sie schluckte und stellte sich ihrer Furcht. Sie wagte es nicht, eine Kerze anzuzünden. Blackmoore schlief tief, aber das Risiko war zu groß. Hätte er gewusst, was sie tat, hätte er sie bis auf die Knochen auspeitschen lassen.

Denk an Thrall, dachte sie. Denk an die Dinge, denen sich Thrall stellen musste. Sicher konnte sie ihre Furcht vor der Dunkelheit für ihn überwinden.

Sie schloss die Tür hinter sich und stand plötzlich in einer Finsternis, die so absolut war, dass sie sie beinahe berühren konnte. Die Panik eines gefangenen Vogels stieg in ihr auf, aber sie kämpfte sie nieder. Es bestand keine Gefahr, sich hier zu verirren. Es gab nur einen Tunnel. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge und setzte sich in Bewegung.

Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter, streckte jedes Mal ihren rechten Fuß aus, um nach der nächsten zu tasten, und zog dann behutsam den linken nach. Schließlich berührten ihre Füße Erde. Von hier aus neigte sich der Tunnel leicht nach unten. Sie erinnerte sich an das, was Blackmoore ihr erzählt hatte. Die Lords müssen sicher sein, meine Liebe, hatte er genuschelt und sich zu ihr hinüber gelehnt, so dass sie seinen weinseligen Atem riechen konnte. Und wenn es zu einer Belagerung kommt, nun, dann gibt es einen Weg, wie wir uns in Sicherheit bringen können, du und ich.

Der Tunnel kam ihr endlos vor. Furcht nagte an ihrem Herzen. Was, wenn der Tunnel zusammenbricht? Was, wenn er nach all den Jahren blockiert ist? Was, wenn ich hier in der Dunkelheit stolpere und mir ein Bein breche?

Wütend brachte Taretha die Stimmen der Angst zum Schweigen. Ihre Augen versuchten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch da es keinerlei Licht gab, war ihre Mühe umsonst.

Sie zitterte. Es war so kalt hier unten …

Nach einer Ewigkeit begann der Boden langsam wieder anzusteigen. Taretha widerstand dem Drang, loszurennen. Sie durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren und stolpern. Sie versuchte, ruhig und langsam zu gehen, aber sie konnte nichts dagegen tun, dass sich ihre Schritte beschleunigten.

War es nur ihre Einbildung, oder wurde die schreckliche Finsternis tatsächlich etwas heller? Nein, sie bildete es sich nicht nur ein. Vor ihr, schräg oben, war die Schwärze weniger dicht. Plötzlich stieß ihr Fuß gegen etwas, und sie stolperte nach vorn, schlug mit den Knien und den ausgestreckten Händen gegen etwas. Es waren verschiedene Schichten von Stein … Stufen! Sie streckte eine Hand aus und bewegte sich langsam die Treppe aufwärts, bis ihre suchenden Finger Holz berührten.

Eine Tür. Über ihrem Kopf befand sich eine Tür. Ein neuer schrecklicher Gedanke ergriff Besitz von ihr. Was, wenn sie von außen verriegelt war? Würde das nicht Sinn ergeben? Wenn jemand auf diesem Wege von Durnholde entkommen konnte, dann konnte auch jemand anderes mit feindlichen Absichten auf dem gleichen Weg eindringen. Sie war sicher verschlossen …

Aber sie war es nicht. Taretha stemmte sich gegen die Tür, drückte mit ihrer ganzen Kraft. Alte Scharniere kreischten, aber die Tür schwang nach oben und fiel mit einem lauten Krachen flach auf den Boden. Taretha erschreckte. Erst als sie den Kopf vorsichtig durch die kleine, quadratische Öffnung schob und die Nacht so hell wie der Tages schien, seufzte sie erleichtert auf und erlaubte sich zu glauben, dass sie es geschafft hatte.

Die vertrauten Gerüche von Pferden, Leder und Heu stiegen in ihre Nase. Sie befand sich in einem kleinen Stall. Sie kletterte ganz aus dem Tunnel heraus und flüsterte den Pferden, die ihr mit milder Neugierde die Köpfe zuwandten, leise und beruhigend zu. Es waren vier; ihr Sattel- und Zaumzeug hing an der Wand. Taretha wusste sofort, wo sie sein musste. In der Nähe der Straße, doch ziemlich weit von Durnholde entfernt, gab es eine Kurierstation, wo Reiter, deren Geschäfte keine Verspätung duldeten, erschöpfte Pferde gegen frische tauschten. Licht drang durch Spalte in den Wänden. Taretha schloss vorsichtig die Luke im Boden, durch die sie gekommen war, und verbarg sie unter ein wenig Heu. Sie ging zur Stalltür und öffnete sie. Das blauweiße Licht der beiden Monde blendete sie fast.

Wie sie es vermutet hatte, befand sie sich am Rand des kleinen Dorfes, das Durnholde umgab und von Leuten bewohnt wurde, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, sich um die Bedürfnisse der Festungsbewohner zu kümmern. Taretha nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich zurechtzufinden. Dort war die Felswand, die wie ein Drache aussah.

Thrall würde in der Höhle auf sie warten, hungrig und vielleicht verletzt. Beschwingt von ihrem Sieg über den dunklen Stollen rannte Taretha darauf zu.


Als Thrall sah, wie Tari über den Kamm des kleinen Hügels rannte, ihre schlanke Gestalt in Mondlicht gebadet, fiel es ihm schwer, einen Freudenschrei zu unterdrücken. Er begnügte sich damit, ihr entgegen zu laufen.

Taretha zögerte einen Augenblick, als sie ihn sah, dann hob sie ihren Rocksaum an und rannte auch auf ihn zu. Ihre Hände trafen sich, und als die Kapuze von ihrem kleinen Gesicht fiel, waren Tarethas Lippen zu einem breiten Lächeln geöffnet.

»Thrall!«, rief sie. »Es ist so schön, dich zu sehen, mein lieber Freund!« Sie drückte so fest sie konnte die beiden Finger des riesigen Orks, die ihre eigenen kleinen Hände gerade noch halten konnten und wäre vor Freude beinahe in die Luft gesprungen.

»Taretha«, brummte Thrall liebevoll. »Geht es dir gut?«

Ihr Lächeln verschwand, kehrte aber sogleich zurück. »Gut genug. Und du? Wir haben natürlich von deinen Taten gehört! Es ist niemals besonders angenehm, wenn Lord Blackmoore in schlechter Stimmung ist, aber da das zugleich heißt, dass du in Freiheit bist, freue ich mich inzwischen auf seine Wut. Oh …« Mit einem letzten Druck ließ sie Thralls Hand fallen und griff nach dem Sack, den sie getragen hatte. »Ich wusste nicht, ob du verwundet oder hungrig bist. Ich konnte nicht viel besorgen, aber ich habe gebracht, was ich fand. Ich habe etwas zu essen für dich und ein paar Röcke, die ich für Verbände zerrissen habe. Es ist gut zu sehen, dass du das nicht brauch …«

»Tari«, sagte Thrall sanft. »Ich bin nicht alleine gekommen.«

Er gab seinen Kundschaftern, die in der Höhle gewartet hatten, das Signal und sie traten heraus. Ihre Gesichter waren zu Grimassen der Missbilligung und Feindseligkeit verzerrt. Sie richteten sich zu ihrer vollen Größe auf, verschränkten muskulöse Arme vor riesigen Brustkörben und starrten finster. Thrall beobachtete Taris Reaktion genau. Sie war überrascht, und für einen kurzen Augenblick flackerte Angst über ihr Gesicht. Er konnte es ihr nicht verdenken. Die beiden Kundschafter taten alles in ihrer Macht Stehende, um bedrohlich zu erscheinen. Doch schließlich lächelte sie und ging zu den Orks hinüber.

»Wenn ihr Freunde von Thrall seid, dann seid ihr auch meine Freunde«, sagte sie und streckte ihre Hände aus.

Einer der Orks schnaubte vor Verachtung und schlug ihre Hand fort, nicht so hart, dass er sie verletzt hätte, aber doch hart genug, um sie fast aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Kriegshäuptling, Ihr verlangt zu viel von uns!«, fauchte ein anderer auf Orkisch. »Wir werden die Frauen und Kinder schonen, wenn Ihr es befehlt, aber wir werden nicht …«

»Doch, ihr werdet!«, erklärte Thrall und benutzte dabei ebenfalls die Sprache seines Volkes. »Dies ist die Frau, die ihr Leben riskierte, um mich aus den Händen jenes Mannes zu befreien, dem wir beide gehörten. Und jetzt riskiert sie ihr Leben wieder, um uns zu Hilfe zu kommen. Ihr könnt Taretha vertrauen. Sie ist anders.« Er wandte sich ihr zu und betrachtete sie liebevoll. »Sie ist etwas Besonderes.«

Die Kundschafter schauten weiter finster drein, aber sie schienen sich ihres Vorurteils weniger sicher zu sein. Sie tauschten Blicke und gaben Taretha schließlich nacheinander die Hand.

»Wir sind dankbar für das, was du gebracht hast« sagte Thrall und wechselte wieder in die Sprache der Menschen. »Sei versichert, wir werden es essen und die Verbände behalten. Ich zweifle nicht daran, dass wir sie noch benötigen werden.«

Das Lächeln wich aus Taris Gesicht. »Du hast vor, Durnholde anzugreifen«, sagte sie.

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann, aber du kennst Blackmoore ebenso gut wie ich. Morgen wird meine Armee auf Durnholde marschieren. Wir sind bereit anzugreifen, wenn wir gezwungen sind. Aber erst werde ich Blackmoore die Gelegenheit geben, mit uns zu sprechen. Durnholde ist das Zentrum, das die Lager kontrolliert. Wenn wir Durnholde nehmen können, werden auch die Lager zusammenbrechen. Aber wenn Blackmoore bereit ist zu verhandeln, werden wir kein Blut vergießen. Wenn unsere Leute befreit werden, lassen wir die Menschen in Ruhe.«

Ihr helles Haar sah im Mondlicht silbern aus. Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er wird niemals zustimmen«, sagte sie. »Er ist zu stolz, um an das Wohl der Menschen zu denken, über die er befielt.«

»Dann bleib hier bei uns«, sagte Thrall. »Meine Leute haben Befehl, die Frauen und Kinder zu schonen, aber in der Hitze der Schlacht kann ich nicht für ihre Sicherheit garantieren. Du bist in Gefahr, wenn du zurückkehrst.«

»Wenn man entdeckt, dass ich nicht da bin«, antwortete Tari, »dann wird irgendjemand erkennen, dass etwas nicht stimmt. Sie könnten dich zuerst finden und angreifen. Und meine Eltern sind noch dort. Blackmoore würde seine Wut an ihnen auslassen, da bin ich mir sicher. Nein, Thrall.

Mein Platz ist auf Durnholde. Er ist es immer gewesen, selbst jetzt.«

Thrall blickte sie unglücklich an. Er kannte, was sie nicht kennen konnte: das Chaos der Schlacht, das Blut, den Tod und die Panik. Er hätte sie lieber in Sicherheit gewusst, wenn es ihm möglich gewesen wäre, aber er musste ihren Willen akzeptieren.

»Du hast Mut«, sprach unerwartet einer der Kundschafter. »Du riskierst dein eigenes Leben, um uns die Möglichkeit zu geben, unser Volk zu befreien. Unser Kriegshäuptling hat nicht gelogen. Manche Menschen, so scheint es, verstehen, was Ehre heißt.« Und der Ork verbeugte sich.

Taretha schien das zu gefallen. Sie wandte sich wieder Thrall zu. »Ich weiß, es klingt dumm, aber sei vorsichtig. Ich möchte dich morgen Abend treffen, um deinen Sieg mit dir zu feiern.« Sie zögerte. Dann sagte sie: »Ich habe Gerüchte über deine Kräfte gehört, Thrall. Stimmen Sie?«

»Ich weiß nicht, was du gehört hast, aber ich habe die Wege der Schamanen erlernt. Ich kann die Elemente kontrollieren. Ja.«

Ihr Gesicht schien zu leuchten. »Dann hat Blackmoore keine Chance gegen dich. Zeige Gnade in deinem Sieg, Thrall. Du weißt, wir sind nicht alle wie er. Hier. Ich möchte, dass du mein Kette hast. Ich habe sie so lange nicht gehabt, dass es sich falsch anfühlt, wenn ich sie behalte.«

Sie neigte den Kopf und nahm die silberne Kette mit dem halbmondförmigen Anhänger ab. Sie ließ sie in Thralls Hände fallen und faltete seine Finger darüber. »Behalte sie.

Gib sie deinem Sohn, wenn du einen hast, und vielleicht werde ich ihn eines Tages besuchen.«

Wie vor so vielen Monaten schon einmal trat Taretha vor und umarmte Thrall so gut sie es vermochte. Dieses Mal war er nicht überrascht über die Geste, sondern hieß sie willkommen und erwiderte sie. Er streichelte ihr seidiges Haar und hoffte verzweifelt, dass sie beide den kommenden Kampf überleben würden.

Sie trat einen Schritt zurück, streckte eine Hand aus, um sein Gesicht mit dem starken Kiefer zu streicheln, drehte sich zu den anderen um und nickte ihnen zu. Dann wandte sie sich ab und schritt entschlossen den Weg zurück, den sie gekommen war. Während er ihr nachblickte, hielt Thrall die Halskette fest in der Hand und spürte ein seltsames Gefühl in seinem Herzen. Pass auf dich auf Tari. Pass auf dich auf.


Erst als sie einige Distanz zwischen sich und die Orks gebracht hatte, erlaubte sich Tari Tränen. Sie hatte solche Angst, solch schreckliche Angst. Trotz ihrer tapferen Worte wollte sie ebenso wenig sterben wie irgendjemand sonst. Sie hoffte, dass es Thrall gelingen würde, seine Leute unter Kontrolle zu halten, denn sie wusste, dass er einzigartig war. Nicht alle Orks teilten seine Nachsicht mit den Menschen. Wenn man nur Blackmoore überreden könnte, zur Einsicht zu gelangen! Aber da wäre es wahrscheinlicher gewesen, dass ihr plötzlich Flügel wuchsen und sie all dem hier hätte davonfliegen können. Obwohl sie ein Mensch war, wünschte sie sich einen Sieg der Orks – einen Sieg für Thrall! Wenn er überlebte, würden die Menschen mit Mitgefühl behandelt werden. Das wusste sie. Wenn er fiel, konnte sie sich dessen nicht sicher sein. Und wenn Blackmoore gewann … Was Thrall als Sklave durchmachen musste, würde nichts gegen die Folter sein, die er dann von Blackmoore zu erwarten hatte.

Sie kehrte in den kleinen Stall zurück, öffnete die Luke im Boden und stieg in den Stollen hinab. Ihre Gedanken waren so sehr bei Thrall und dem bevorstehenden Kampf, dass ihr die Finsternis dieses Mal kaum zusetzte.

Taretha war noch immer tief in Gedanken versunken, als sie die Stufen zu Blackmoores Raum hinaufstieg und die Tür behutsam öffnete.

Plötzlich wurden die verdunkelten Laternen entblößt und tauchten Taretha in helles Licht. Sie keuchte auf. In einem Sessel direkt gegenüber der geheimen Tür saß Blackmoore. Langston und zwei brutal aussehende Wachleute umstanden ihn.

Blackmoore war stocknüchtern, und seine dunklen Augen glitzerten im Kerzenlicht. Sein Bart teilte sich zu einem Lächeln, das ihn wie ein hungriges Raubtier aussehen ließ.

»Schön, dich zu sehen, kleine Verräterin«, sagte er mit einer Stimme wie Samt. »Wir haben auf dich gewartet.«

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