11

Noch nie in seinem Leben hatte Thrall solche Freude kennen gelernt. Während der nächsten Tage feierte er mit dem Warsong-Clan, sang dessen wilde Schlachtlieder und lernte, während er zu Hellscreams Füßen saß.

Thrall erfuhr, dass die Orks nicht die geistlosen Mordmaschinen waren, als die die Bücher sie darstellten. Sie waren ein edles Volk. Ja, sie waren Meister des Schlachtfelds und genossen die Gischt des Blutes und das Krachen zerberstender Knochen, aber ihre Kultur war reich und vielschichtig. Hellscream erzählte von einer Zeit, als jeder Clan eine separate Einheit bildete, mit eigenen Symbole und Sitten und sogar einer eigenen Sprache. Es gab spirituelle Führer, die man Schamanen nannte und die mit der Magie der Natur arbeiteten und nicht mit der bösen Magie dämonischer, übernatürlicher Mächte.

»Ist Magie denn nicht Magie?«, wollte Thrall wissen, der wenig Erfahrung mit Zauberei in welcher Form auch immer hatte.

»Ja und nein«, sagte Grom. »Manchmal ist die Wirkung die Gleiche. Wenn zum Beispiel ein Schamane den Blitz anruft, um seine Feinde niederzustrecken, dann werden sie bei lebendigem Leibe verbrannt. Wenn ein Hexer die Flammen der Hölle gegen einen Feind heraufbeschwört, dann wird auch dieser verbrannt.«

»Also ist Magie Magie«, meinte Thrall.

»Aber der Blitz ist ein natürliches Phänomen, das man anruft, indem man darum bittet. Mit dem Feuer der Hölle geht man einen Pakt ein. Du musst mit einem Teil deiner Selbst dafür bezahlen.«

»Aber Ihr habt gesagt, dass die Schamanen verschwunden seien. Heißt das nicht, dass der Weg der Hexer besser war?«

»Der Weg der Hexer war schneller«, antwortete Grom. »Wirkungsvoller. So jedenfalls schien es. Aber es kommt die Zeit, da man einen Preis zu zahlen hat, und manchmal ist dieser Preis sehr hoch.«

Thrall erfuhr, dass er nicht der Einzige war, den die eigenartige Lethargie der Orks entsetzte, von denen die meisten jetzt teilnahmslos in den Lagern verkümmerten.

»Niemand kann diesen Zustand erklären«, sagte Hellscream, »aber er hat fast jeden von uns ergriffen, einen nach dem anderen. Zuerst dachten wir, es wäre eine Art Krankheit. Aber man stirbt nicht daran, und ab einem bestimmten Punkt wird es auch nicht mehr schlimmer.«

»Einer der Orks im Lager dachte, es hätte etwas zu tun mit …« Thrall brach ab, denn er wollte sein Gegenüber nicht beleidigen.

»Sprich!«, verlangte Grom verärgert. »Womit soll es etwas zu tun haben?«

»Mit der Röte der Augen«, sagte Thrall.

»Ah«, sagte Grom, und Thrall glaubte, eine Spur von Traurigkeit in seiner Stimme zu erkennen. »Vielleicht stimmt das. Es gibt etwas, mit dem wir kämpfen, das du, blauäugiger Junge, nicht verstehen kannst. Und ich hoffe, du wirst es nie verstehen.« Zum zweiten Mal, seit Thrall ihn kennen gelernt hatte, erschien ihm Hellscream klein und gebrechlich. Er war mager, erkannte Thrall. Es waren seine Wildheit und sein Schlachtruf, die ihn so bedrohlich und stark erscheinen ließen. Körperlich verfiel der charismatische Führer der Warsongs zusehends. Obwohl er Hellscream kaum kannte, berührte Thrall diese Erkenntnis. Es schien, als sei der Wille des Ork-Häuptlings das Einzige, das ihn noch am Leben erhielt. Nur ein hauchdünner Faden band Knochen und Blut und Sehnen noch zusammen.

Er sprach seine Wahrnehmung nicht aus, aber Grom Hellscream wusste es. Ihre Augen trafen sich. Hellscream nickte und wechselte dann das Thema.

»Sie haben nichts mehr, auf das sie hoffen, nichts, wofür sie kämpfen können«, sagte Hellscream. »Du hast erzählt, ein Ork habe die Kraft in sich gefunden, mit einem anderen Ork zu kämpfen und die Wachen abzulenken, damit du entkommen konntest. Das gibt mir Hoffnung. Wenn unsere Brüder und Schwestern wieder glauben könnten, dass sie einen Wert besitzen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können – ich denke, dann würden sie aus ihrem schrecklichen Schlaf erwachen. Keiner von uns ist jemals in einem dieser verfluchten Lager gewesen. Erzähl uns alles, was du weißt, Thrall.«

Und Thrall erzählte. Es war froh, dass er ein wenig helfen konnte. So detailliert er nur konnte, beschrieb er das Lager, die Orks, die Wachen und die Sicherheitsmaßnahmen. Hellscream hörte aufmerksam zu, unterbrach ihn nur hin und wieder mit eine Frage oder bat ihn etwas mehr ins Detail zu gehen. Als Thrall endete, schwieg Hellscream für einen Moment.

»Es ist gut«, sagte er schließlich. »Die Menschen wiegen sich durch unseren beschämenden Mangel an Ehre in Sicherheit. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen. Ich träume schon lange davon, diese elenden Orte zu stürmen und die Orks zu befreien, die dort gefangen gehalten werden. Doch ich habe eine Angst, Thrall. Was, wenn das Tor gefallen ist, und sie verhalten sich weiter wie das Vieh, zu dem sie geworden sind, und entfliehen nicht in die Freiheit …«

»Ich teile diese Angst mit Euch«, sagte Thrall.

Ein bunter Schwall von Flüchen verließ Groms Mund. »Es ist an uns, sie aus ihren seltsamen Träumen aus Hoffnungslosigkeit und Niederlage zu wecken. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zu uns gekommen bist, Thrall. Gul’dan ist nicht mehr, und seine Hexer sind vertrieben. Es ist an der Zeit, dass wir wieder die werden, die wir einst waren.« Seine roten Augen glitzerten. »Und du bist ein Teil dieses Wandels.«


Die Enttäuschung war zu Blackmoores ständigem Begleiter geworden.

Mit jedem Tag, der vorüber kroch, wurde die Chance, Thrall zu finden, geringer und geringer. Im Lager war er ihnen wahrscheinlich nur um Haaresbreite entwischt, und dieser Misserfolg hatte einen bitteren Nachgeschmack bei Blackmoore hinterlassen, und er versuchte ihn mit Bier, Met und Wein wegzuspülen.

Seitdem: nichts. Thrall war offenbar verschwunden, was ziemlich schwierig für etwas so Großes und Hässliches wie einen Ork war. Manchmal, wenn die leeren Flaschen neben ihm zu Bergen anwuchsen, war Blackmoore überzeugt, dass alle sich verschworen hatten, Thrall von ihm fern zu halten. Diese Theorie erlangte durch den Umstand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass mindestens eine Person, die ihm sehr nahe stand, ihn mit absoluter Sicherheit verraten hatte. Er umarmte sie in der Nacht, damit sie nicht ahnte, dass er sie durchschaut hatte, genoss ihren Körper – vielleicht etwas brutaler als üblich – und sprach freundlich zu ihr. Doch manchmal, wenn sie schlief, waren der Schmerz und die Wut so unerträglich, dass er aus dem Bett stieg, das sie miteinander teilten, und sich bis zu Bewusstlosigkeit betrank.

Und natürlich hatte sich nun, da Thrall verschwunden war, jede Hoffnung, eine Ork-Armee gegen die Allianz zu führen, aufgelöst wie Morgennebel unter greller Sonne. Was sollte jetzt aus Aedelas Blackmoore werden? War es nicht schlimm genug, dass er gegen den Makel, den sein Vater über seinen Namen gebracht hatte, ankämpfen und sich immer und immer wieder beweisen musste, während geringere Männer von allen akzeptiert wurden? Sie hatten ihm natürlich erklärt, seine gegenwärtige Position sei eine Ehre, die er sich redlich verdient habe. Aber er fristete sein Dasein weit vom Sitz der Macht entfernt, und aus den Augen bedeutete aus dem Sinn. Wer, der wirkliche Macht besaß, dachte an Blackmoore? Niemand! Und das machte ihn krank.

Auf den zerwühlten, schweißgetränkten Laken seines Bettes liegend, nahm er einen weiteren langen und durstigen Schluck, als jemand vorsichtig an seine Tür klopfte.

»Verschwinde«, knurrte er.

»Mylord?« Die zaghafte Stimme des Schwächlings, der die verräterische Hure gezeugt hatte. »Es gibt Neuigkeiten. Lord Langston ist hier, um Euch zu sehen.«

Eine vage Hoffnung stieg in Blackmoore auf, und er kämpfte sich aus dem Bett. Es war Nachmittag, und Taretha tat was auch immer es war, das sie tat, wenn sie ihm nicht diente. Er schwang seine Füße auf den Boden und saß für einen Augenblick auf der Bettkante, während sich die Welt um ihn herum drehte. »Schick ihn rein, Tammis« befahl er.

Die Tür öffnete sich, und Langston trat ein. »Wundervolle Neuigkeiten, Mylord!« rief er. »Man hat Thrall gesehen.«

Blackmoore rümpfte die Nase. »Sichtungen« von Thrall waren ziemlich alltäglich geworden, seit er eine erhebliche Belohnung für solche Beobachtungen ausgesetzt hatte. Aber Langston wäre nicht mit unbestätigten Gerüchten zu ihm gerannt. »Wer hat ihn gesehen? Wo?«

»Mehrere Meilen vom Lager entfernt. Er bewegt sich scheinbar nach Westen«, sagte Langston. »Ein paar Dörfler wurden geweckt, als ein Ork versuchte, in ihre Häuser einzubrechen. Scheint, er hatte Hunger. Als sie ihn umzingelten, redete er in menschlicher Sprache. Sie griffen ihn an, aber er wehrte sich und überwältigte sie.«

»Ist jemand getötet worden?« Blackmoore hoffte nicht. Er würde das Dorf entschädigen müssen, wenn sein Haustier jemanden umgebracht hatte.

»Nein. Sie erzählen sogar, der Ork habe sich offenbar vom Töten zurückgehalten. Ein paar Tage später wurde der Sohn eines Bauern von einer Bande Orks entführt. Sie brachten ihn in eine unterirdische Höhle und befahlen einem großen Ork, ihn zu töten. Der Ork weigerte sich, und der Häuptling nahm diese Entscheidung an. Der Junge wurde freigelassen und erzählte sofort seine Geschichte. Und, Mylord, in der Höhle sprachen die Orks alle in der menschlichen Sprache, weil der große Ork die Sprache seiner Artgenossen nicht verstehen konnte.«

Blackmoore nickte. Das klang alles wahr, und es passte zu dem Thrall, den er kannte – im Gegensatz zu dem Thrall, den sich die Leute vorstellten. Außerdem wäre ein kleiner Junge wahrscheinlich nicht so schlau, um von allein auf die Idee zu kommen, dass Thrall nicht viel Orkisch sprach.

Beim Licht, vielleicht würden sie ihn wirklich finden! Es hatte ein neues Gerücht über Thralls Aufenthaltsort gegeben, und wieder hatte Blackmoore Durnholde verlassen, um dem nachzugehen. In Tarethas Geist standen zwei leidenschaftliche Gedanken miteinander in Konflikt. Zum einen hoffte sie verzweifelt, dass das Gerücht unwahr sei, dass sich Thrall Meilen entfernt von dem Ort befand, an dem man ihn angeblich gesehen hatte – zum anderen fühlte sie eine überwältigende Erleichterung, die sie überkam, wann immer Blackmoore fort war.

Sie machte ihren täglichen Spaziergang außerhalb der Festung. Die Gegend war in diesen Tagen sicher. Wegelagerer lauerten im Allgemeinen nur an den Hauptstraßen und in den Wäldern, die sie inzwischen aber so gut kannte, dass ihr nichts geschehen würde.

Sie öffnete ihr Haar, ließ es die Schultern herabfallen und genoss die Freiheit. Es war unziemlich für eine Frau, ihr Haar offen zu tragen, aber Taretha fuhr begeistert mit den Fingern durch die dichte, goldene Masse und schüttelte trotzig den Kopf.

Ihr Blick fiel auf die Striemen an ihren Handgelenken. Instinktiv streckte sie eine Hand aus, um die andere zu bedecken.

Nein. Sie würde ihre eigene Schande nicht verstecken. Taretha zwang sich, die Druckstellen nicht zu verhüllen. Um ihrer Familie willen musste sie sich Blackmoore unterwerfen. Aber sie würde nichts tun, um die Verbrechen zu verbergen, die er beging.

Taretha atmete tief ein. Selbst hierher folgte ihr Blackmoores Schatten. Sie entschloss sich, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen, und wandte ihr Gesicht der Sonne zu.

Sie wanderte zu der Höhle hinauf, in der sie sich von Thrall verabschiedet hatte, und hockte dort eine Weile mit an die Brust gezogenen Beinen. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendjemand außer den Tieren des Waldes hier gewesen war. Dann erhob sie sich und schlenderte zu dem hohlen Baum, in dem Thrall die Halskette verstecken sollte, die sie ihm geschenkt hatte. Als sie in seine schwarzen Tiefen hinab blickte, sah sie dort kein Silber glitzern. Sie war gleichzeitig erleichtert und auch traurig. Taretha vermisste es schrecklich, Thrall Briefe zu schreiben und seine freundlichen, weisen Antworten zu lesen.

Wenn nur die anderen ihres Volkes genauso gefühlt hätten. Sahen sie nicht, dass die Orks keine Bedrohung mehr darstellten? Mit der richtigen Erziehung und ein wenig Respekt konnten die alten Feinde zu wertvollen Verbündete werden. Sie dachte an all das Geld, das in die Lager gesteckt wurde, an die ganze Dummheit und Engstirnigkeit.

Wenn sie doch mit Thrall hätte davonlaufen können …

Als Taretha langsam zur Festung zurückschlenderte, hörte sie ein Hornsignal. Der Herr von Durnholde war zurückgekehrt. Die Leichtigkeit und die Freiheit, die sie gerade noch gespürt hatte, verließen sie wie Blut, das aus einer tiefen Wunde fließt.

Was auch immer geschieht, wenigstens ist Thrall frei, dachte sie. Meine Tage als Sklavin aber liegen noch ohne Ende vor mir.


Thrall kämpfte und aß Gerichte, die auf die traditionelle Weise zubereitet waren. Und er lernte. Bald sprach er fließend Orkisch, wenn auch mit einem starken Akzent. Er nahm an den Jagden Teil und war inzwischen mehr Hilfe denn Behinderung, wenn es darum ging, einen Hirsch zu erlegen. Finger, die trotz ihrer Dicke einen Griffel gemeistert hatten, lernten nun Fallen für Hasen und andere kleinere Tier zu bauen. Jeden Tag wurde er mehr vom Warsong-Clan akzeptiert. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Thrall, dass er irgendwo hingehörte.

Aber dann kamen die Nachrichten der Späher. Rekshak kehrte eines Abends zurück und blickte noch wütender und griesgrämiger drein als sonst. »Ein Wort, Mylord«, sagte er zu Hellscream.

»Du kannst vor uns allen sprechen«, sagte Hellscream. Sie waren an der Oberfläche und genossen einen frischen Spätherbstabend, während sie sich die Beute schmecken ließen, die Thrall eigenhändig erjagt hatte.

Rekshak warf einen unfrohen Blick in Thralls Richtung, dann grunzte er. »Wie Ihr wünscht. Menschen beginnen die Wälder zu durchkämmen. Sie tragen rot-goldene Livree und führen einen schwarzen Falken in ihrem Banner.«

»Blackmoore!«, keuchte Thrall. Würde dieser Mann denn niemals Ruhe geben? Würde man ihn, Thrall, bis ans Ende der Welt jagen und schließlich in Ketten zurückschleppen, damit Blackmoore sich wieder an ihm ergötzen konnte?

Nein. Eher würde er sich mit eigener Hand das Leben nehmen, als dass er in die Sklaverei zurückkehrte. Es brannte in ihm zu sprechen, doch die Höflichkeit gebot es, dass Hellscream seinem Mann selbst antwortete.

»Wie ich es vermutet hatte«, sagte Hellscream ruhiger, als Thrall es erwartet hatte.

Offensichtlich war auch Rekshak überrascht. »Mylord«, sagte er, »der Fremde Thrall bringt uns alle in Gefahr. Wenn sie unsere Höhlen finden, sind wir ihnen ausgeliefert. Sie werden uns entweder töten oder wie Schafe zusammentreiben, um uns in ihre Lager zu stecken!«

»Nichts von beidem wird geschehen«, erklärte Hellscream. »Und Thrall hat uns nicht in Gefahr gebracht. Es war meine Entscheidung, ihn bei uns aufzunehmen. Willst du dies in Frage stellen?«

Rekshak senkte den Kopf. »Nein, mein Häuptling.«

»Thrall wird bleiben«, erklärte Hellscream.

»Ich danke Euch, großer Häuptling«, sagte Thrall, »aber Rekshak hat Recht. Ich muss gehen. Ich kann den Warsong-Clan nicht länger gefährden. Ich werde euch verlassen und den Menschen eine falsche Fährte legen, die sie von euch fort, zugleich aber auch nicht zu mir führen wird.«

Hellscream lehnte sich näher zu Thrall hin, der zu seiner Rechten saß. »Aber wir brauchen dich, Thrall«, sagte er. Seine Augen leuchteten in der Finsternis. »Ich brauche dich. Also werden wir schnell handeln, um unsere Brüder in den Lagern zu befreien.«

Doch Thrall schüttelte weiterhin den Kopf. »Der Winter kommt. Es wird schwer sein, eine Armee zu ernähren. Und … es gibt etwas, das ich tun muss, bevor ich bereit bin, an Eurer Seite zu stehen und unsere Brüder zu befreien. Ihr sagtet mir, dass Ihr meinen Clan gekannt habt, die Eiswölfe. Ich muss sie finden und mehr darüber erfahren, wer ich bin und wo ich herkomme, bevor ich an Eurer Seite stehen kann. Ich hatte gehofft, im Frühling zu ihnen reisen zu können, doch es scheint, dass ich nicht länger warten darf.«

Hellscream blickte Thrall lange Zeit an. Der größere Ork wich diesen schrecklichen roten Augen nicht aus. Schließlich nickte Hellscream traurig.

»Obwohl in mir der Wunsch nach Rache brennt, erkenne ich in dir den weiseren Verstand. Unsere Brüder leiden in der Gefangenschaft, aber ihre Trägheit lindert vielleicht auch ihren Schmerz. Wenn die Sonne ihr Gesicht heller zeigt, ist immer noch genug Zeit, sie zu befreien. Ich kann dir nicht genau sagen, wo die Eiswölfe leben, doch tief in meinem Kern weiß ich, dass du sie finden wirst, wenn dir dies bestimmt ist.«

»Ich werde euch im Morgengrauen verlassen«, sagte Thrall, dem das Herz schwer in der Brust wurde. Er sah, wie auf der anderen Seite der flackernden Feuers Rekshak, der ihn nie gemocht hatte, zustimmend nickte.


Am nächsten Morgen nahm Thrall traurig Abschied vom Warsong-Clan und von Grom Hellscream.

»Ich möchte dir dies schenken«, sagte Hellscream und nahm eine Knochen-Halskette von seinem viel zu dünn gewordenen Hals. »Dies sind die Reste meiner ersten Beute. Ich habe meine Symbole in sie eingraviert. Jeder Ork-Häuptling wird sie erkennen.«

Thrall wollte widersprechen, aber Hellscream zog seine Lippen von den scharfen, gelben Zähnen zurück und knurrte. Da er nicht den Wunsch hatte, den Häuptling zu verärgern, der so gut zu ihm gewesen war – und auch den ohrenbetäubenden Schrei kein weiteres Mal hören wollte –, senkte Thrall den Kopf, damit Grom ihm die Kette um seinen dicken Hals legen konnte.

»Ich werde die Menschen von euch weg führen«, wiederholte Thrall.

»Wenn dir dies nicht gelingt, ist es auch nicht wichtig«, sagte Hellscream. »Wir werden sie alle niedermachen.« Er lachte wild, und Thrall schloss sich ihm dabei an. Noch immer lachend begab er sich auf den Weg in die kalten Nordlande, von wo er stammte.

Nach ein paar Stunden machte er einen Umweg und kehrte zu dem kleinen Dorf zurück, in dem er Essen gestohlen und den Menschen Angst eingejagt hatte. Er ging nicht zu nahe heran, denn seine scharfen Ohren hatten bereits die Stimmen der Soldaten gehört. Aber er ließ ein Zeichen zurück, das Blackmoores Männer finden sollten.

Obwohl es ihm fast das Herz brach, nahm er das Wickeltuch, das das Symbol der Eiswölfe trug, und riss einen großen Streifen davon ab. Er befestigte ihn südlich des Dorfes an einem gezackten Baumstumpf. Er wollte, dass man ihn leicht fand, aber es sollte nicht zu offensichtlich sein. Er sorgte außerdem dafür, dass er mehrere große, leicht zu erkennende Fußspuren in der weichen, schlammigen Erde hinterließ.

Mit ein wenig Glück würden Blackmoores Männer auf den Fetzen des verräterischen Stoffes stoßen, die Fußspuren finden und annehmen, dass Thrall auf dem Weg nach Süden sei. Er ging vorsichtig in seinen eigenen Fußspuren zurück – eine Taktik, von der er in einem seiner Bücher gelesen hatte – und wählte für seinen weiteren Weg felsigen oder anderen geeigneten Untergrund.

Er blickte in Richtung der Alterac-Berge. Grom hatte ihm erzählt, dass sich ihre Gipfel selbst mitten im Sommer weiß gegen den blauen Himmel abhoben. Thrall würde sich in ihr Herz begeben, ohne genau zu wissen, worauf er sich einließ, während das Wetter dabei war, sich zu wenden. Es hatte bereits ein oder zwei Mal leicht geschneit. Bald würde der Schnee dick und schwer fallen, und am heftigsten in den Bergen.

Der Warsong-Clan hatte ihm reichlich Vorräte mitgegeben. Er hatte mehrere Streifen getrockneten Fleisches, einen Wasserschlauch, in dem er Schnee sammeln und schmelzen konnte, einen dicken Umgang, der ihn vor den scharfen Zähnen des Winters schützte, und ein paar Hasenfallen, damit er das Trockenfleisch ergänzen konnte.

Das Schicksal und das Glück – sowie die Freundlichkeit Fremder und eines Menschenmädchens – hatten ihn bis hierher gebracht. Grom hatte angedeutet, Thrall würde noch eine Bestimmung zu erfüllen haben. Wenn dies tatsächlich der Fall war, dann musste er darauf vertrauen, dass er zu diesem Schicksal ebenso geführt werden würde, wie er bis hierher geleitet worden war.

Er hievte den Sack auf seinen Rücken, und ohne auch nur einen einzigen Blick zurück zu werfen, begann Thrall auf die lockenden Berge zuzustapfen, in deren zerklüfteten Spitzen oder versteckten Tälern irgendwo der Eiswolf-Clan zuhause war.

Загрузка...