14

Mit den Geistern der Erde, der Luft, des Feuers, des Wassers und der Wildnis als seinen Gefährten fühlte sich Thrall stärker als jemals zuvor in seinem Leben. Er lernte von Drek’Thar ihre besonderen »Rufe«, wie der alte Ork es nannte. »Hexer würden sie Zaubersprüche nennen«, erklärte er Thrall, »doch wir – die Schamanen – nennen sie nur ›Rufe‹. Wir fragen, und die Mächte antworten. Oder auch nicht, wie sie es wollen.«

»Haben sie jemals nicht geantwortet?«, fragte Thrall.

Drek’Thar schwieg. »Ja«, antwortete er dann langsam. Sie saßen spät in der Nacht in Drek’Thars Höhle. Diese Gespräche waren für Thrall sehr kostbar, und stets brachten sie neues Licht in seinen Geist.

»Wann? Warum?« wollte Thrall wissen und fügte sofort hinzu: »Es sei denn, du möchtest nicht darüber sprechen.«

»Du bist jetzt ein Schamane, auch wenn du erst am Anfang stehst,« sagte Drek’Thar. »Es ist nur richtig, dass du unsere Grenzen kennen lernst. Ich schäme mich zuzugeben, dass ich mehr als einmal um unzulässige Dinge gebeten habe. Das erste Mal bat ich um eine Flut, die ein Lager der Menschen vernichten sollte. Ich war wütend und verbittert, denn sie hatten viele von unserem Clan getötet. Aber es gab Verwundete an diesem Ort und sogar Frauen und Kinder. Der Geist des Wassers weigerte sich.«

»Aber es kommt doch ständig zu Fluten«, sagte Thrall. »Viele Unschuldige sterben sinnlos.«

»Der Geist des Wassers und der Geist der Wildnis kennen den Sinn«, antwortete Drek’Thar. »Ich kenne ihre Bedürfnisse und Pläne nicht. Sie erzählen mir nicht davon. Dieses Mal diente es nicht den Zielen des Geistes, der dem Wasser innewohnt, und er wollte keine Flut schaffen und Hunderte von Menschen ertränken, die er als unschuldig betrachtete. Später, als meine Wut mich verlassen hatte, verstand ich, dass der Geist Recht gehabt hatte.«

»Wann noch?«

Drek’Thar zögerte. »Du nimmst wahrscheinlich an, dass ich schon immer alt und der geistige Führer des Clans war.«

Thrall kicherte. »Niemand ist alt geboren, weiser Mann.«

»Manchmal wünschte ich mir, bei mir wäre es so gewesen. Aber ich war einst jung, genau wie du, und das Blut floss heiß in meinen Adern. Ich hatte eine Gefährtin und ein Kind. Sie starben.«

»Im Kampf gegen die Menschen?«

»Nichts so Edles. Sie wurden einfach krank, und all meine Bitten an die Elemente halfen nichts. Ich wütete in meinem Schmerz.« Selbst jetzt war seine Stimme schwer von Trauer. »Ich verlangte von den Geistern, dass sie die Leben zurückbringen sollten, die sie genommen hatten. Sie wurden wütend, und viele Jahre weigerten sie sich, auf meinen Ruf zu antworten. Wegen meiner arroganten Forderung, meine Familie zurück ins Leben zu bringen, mussten viele Mitglieder unseres Clans leiden, da ich nicht mehr die Geister rufen konnte. Als ich meine Dummheit erkannte, bat ich die Geister, mir zu verzeihen. Sie taten es.«

»Aber … es ist doch nur natürlich, wenn man will, dass die, die man liebt, am Leben sind«, sagte Thrall. »Das müssen die Geister doch verstehen.«

»Oh, sie verstanden es. Meine erste Bitte war demütig, und die Elemente lauschten mit Mitgefühl, bevor sie sich weigerten. Meine nächste Bitte war eine wütende Forderung, und der Geist der Wildnis war empört, dass ich die Beziehung zwischen dem Schamanen und den Elementen so ausnutzen wollte.«

Drek’Thar streckte eine Hand aus und legte sie auf Thralls Schulter. »Es ist mehr als wahrscheinlich, dass auch du diesen Schmerz erfahren und jemanden, den du liebst, verlieren wirst, Thrall. Du musst wissen, dass der Geist der Wildnis Gründe hat für das, was er tut, und du musst diese Gründe respektieren.«

Thrall nickte, aber insgeheim hatte er vollkommenes Verständnis für Drek’Thars Wünsche und machte dem alten Ork keinerlei Vorwürfe, dass er die Geister in seinem Schmerz wütend gemacht hatte.

»Wo ist Wiseear?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.

»Ich weiß es nicht.« Drek’Thars Antwort klang außerordentlich unbekümmert. »Er ist mein Gefährte, nicht mein Sklave. Er geht, wann er will, und kehrt zurück, wann er will.«

Wie um ihn zu beruhigen, dass sie nirgendwo anders hingehen wolle, legte Snowsong ihren Kopf auf Thralls Knie. Er streichelte sie, wünschte seinem Lehrer eine gute Nacht und ging in seine eigene Höhle, um zu schlafen.


Die Tage vergingen in geordneter Regelmäßigkeit. Thrall verbrachte jetzt den größten Teil seiner Zeit damit, von Drek’Thar zu lernen, doch manchmal ging er auch mit einer kleine Gruppe jagen. Er benutzte seine neu gefundene Beziehung zu den Elementen, um seinem Clan zu helfen. Er fragte den Geist der Erde, wo die Herden waren und bat den Geist der Luft, die Richtung des Windes zu ändern, damit der Geruch der Orks nicht an die wachsamen Tiere herangetragen wurde. Nur einmal bat er den Geist der Wildnis um Hilfe, als die Vorräte gefährlich zur Neige gingen und das Jagdglück des Clans sich zum Schlechten gewendet hatte.

Sie wussten, dass Hirsche und Rehe in der Gegend waren, denn sie hatten angeknabberte Baumrinden und frischen Kot gefunden. Aber die schlauen Tiere entzogen sich ihnen. Die Bäuche der Orks waren leer, und es war einfach kein Essen mehr vorhanden. Die Kinder wurden gefährlich dünn.

Thrall schloss die Augen und rief. Geist der Wildnis, der allem das Leben einhaucht, ich bitte dich um einen Gefallen. Wir werden nicht mehr nehmen, als wir benötigen, um die Hungrigen unseres Clans zu speisen. Ich bitte dich, Geist des Hirsches, opfere dich für uns. Wir werden keines deiner Geschenke vergeuden, und wir werden dich ehren. Viele Leben hängen davon ab, dass ein Leben gegeben wird.

Er hoffte, dass es die richtigen Worte waren. Sie waren mit respektvollem Herzen gesprochen, aber Thrall hatte dies noch nie zuvor versucht. Als er die Augen öffnete, stand keine zwei Armlängen vor ihm ein weißer Hirsch. Thralls Gefährten schienen nichts zu sehen. Die Augen des Hirsches trafen Thralls Augen, und das Tier neigte den Kopf. Es sprang fort, und Thrall sah, dass es keine Spur im Schnee hinterließ.

»Folgt mir«, sagte er. Seine Eiswolf-Gefährten gehorchten sofort, und sie legten eine größere Entfernung zurück, bis sie einen stattlichen, gesunden Hirsch im Schnee liegen sahen. Eines seiner Beine stand in einem unnatürlichen Winkel ab, und seine weichen, braunen Augen rollten vor Angst. Der Schnee um ihn herum war aufgewühlt, und offensichtlich konnte er nicht mehr aufstehen.

Thrall näherte sich dem Tier und sandte instinktiv eine Botschaft der Beruhigung. Hab keine Angst, sagte er. Dein Schmerz wird bald vorüber sein, und dein Leben wird weiter Sinn haben. Ich danke dir, Bruder, für dein Opfer.

Der Hirsch entspannte sich und senkte den Kopf. Thrall berührte ihn sanft am Hals. Schnell, um ihm keinen Schmerz zuzufügen, brach er das Genick des Tieres. Er blickte auf und sah die anderen, die ihn von Ehrfurcht erfüllt anstarrten. Aber er wusste, es war nicht sein Wille gewesen, sondern der des Hirsches, dass seine Leute heute etwas zu essen bekommen würden.

»Wir werden dieses Tier nehmen und sein Fleisch verzehren. Wir werden aus seinen Knochen Werkzeuge herstellen und Kleidung aus seiner Haut. Und während wir dies tun, werden wir nicht vergessen, dass es uns mit seinem Geschenk geehrt hat.«


Thrall arbeitete Seite an Seite mit Drek’Thar. Sie sandten Energie an die Samen unter der Erde, damit sie erstarkten und im bald kommenden Frühling blühen würden, und an die ungeborenen Tiere, seien es Hirsche oder Ziegen oder Wölfe, die in den Bäuchen ihrer Mütter heranwuchsen. Zusammen baten sie den Geist des Wassers, das Dorf vor der Schneeschmelze und den ständig drohenden Lawinen zu bewahren. Thrall wurde immer stärker und geschickter, und er war so vertieft in den neuen, lebenssprühenden Pfad, auf dem er wandelte, dass er vollkommen überrascht war, als er die ersten gelben und violetten Frühlingsblumen erblickte, die ihre Blütenköpfe durch den schmelzenden Schnee streckten.

Als er von einem Spaziergang zurückkehrte, bei dem er die heiligen Kräuter gesammelt hatte, die dem Schamanen bei der Kontaktaufnahme mit den Elementen halfen, musste er überrascht feststellen, dass die Eiswölfe einen neuen Gast hatten.

Der Ork war breit, aber Thrall konnte nicht sagen, ob es Fett oder Muskeln waren, denn ein unförmiger Mantel war um den Körper des Fremden geschlungen. Er hockte in der Nähe des Feuers und schien die Frühlingswärme nicht zu fühlen.

Snowsong rannte vor, um Wiseear zu begrüßen, der endlich zurückgekehrt war. Thrall wandte sich an Drek’Thar.

»Wer ist der Fremde?«, fragte er leise.

»Ein wandernder Eremit«, antwortete Drek’Thar. »Wir kennen ihn nicht. Er sagt, er habe sich in den Bergen verirrt. Wiseear habe ihn gefunden und zu uns geführt.«

Thrall blickte auf die Schale mit Eintopf, die der Fremde in seiner großen Hand hielt, und nahm die Fürsorge zur Kenntnis, die ihm vom Rest des Clans bezeugt wurde. »Ihr empfangt ihn mit mehr Freundlichkeit, als ihr mir entgegengebracht habt«, sagte er, doch es ärgerte ihn nicht im Geringsten.

Drek’Thar lachte. »Er bittet nur um ein paar Tage Zuflucht, bevor er weiterzieht. Er ist nicht mit einem zerrissenen Eiswolf-Wickeltuch angekommen und hat den Clan gebeten, ihn zu adoptieren. Und er kommt im Frühling, wenn es genug Gaben gibt, um sie zu teilen, und nicht mit Einbruch des Winters.«

Thrall musste dem Schamanen zustimmen. Bemüht, sich richtig zu verhalten, setzte er sich zu dem Neuankömmling. »Ich grüße dich, Fremder. Wie lange wanderst du schon?«

Der Ork sah ihn aus den Schatten seiner Kapuze heraus an. Seine grauen Augen blickten scharf, doch seine Antwort war höflich, ja respektvoll.

»Länger, als ich mich erinnern möchte, junger Ork. Ich stehe in eurer Schuld. Ich hatte die verbannten Eiswölfe stets für eine Legende gehalten, von der Gul’dans Kumpane erzählten, um den anderen Orks Angst einzujagen.«

Die Treue zu seinem Clan erwachte in Thrall. »Wir wurden zu Unrecht verbannt und haben unseren Wert bewiesen, indem wir unser Leben an einem solch harten Ort meistern«, antwortete er.

»Ich meine, gehört zu haben, dass du vor gar nicht so langer Zeit ebenso ein Fremder in diesem Clan warst wie ich es bin«, sagte der Fremde. »Sie haben von dir gesprochen, junger Thrall.«

»Ich hoffe, sie haben gut von mir gesprochen«, antwortete Thrall. Er war unsicher, was die richtige Entgegnung war.

»Gut genug«, antwortete der Fremde rätselhaft und wandte sich wieder seinem Eintopf zu. Thrall sah, dass seine Hände sehr muskulös waren.

»Wie heißt dein Clan, Freund?«

Die Hand stockte mit dem Löffel auf halbem Wege zum Mund. »Ich habe keinen Clan mehr. Ich wandere allein.«

»Wurden deine Leute getötet?«

»Sie wurden getötet oder gefangen genommen oder sind dort gestorben, wo es zählt … in der Seele«, antwortete der Ork mit Schmerz in der Stimme. »Lass uns nicht mehr davon sprechen.«

Thrall neigte den Kopf. Er fühlte sich unbehaglich in Gegenwart dieses Fremden, und er war auch misstrauisch. Etwas stimmte nicht mit ihm. Thrall erhob sich, nickte dem Gast zu und ging zu Drek’Thar.

»Wir sollten ihn beobachten«, sagte er seinem Lehrer. »An diesem wandernden Eremiten ist etwas, das mir nicht gefällt.«

Drek’Thar warf den Kopf zurück und lachte. »Wir hatten Unrecht mit unserem Misstrauen dir gegenüber, als du zu uns kamst, und jetzt bist du der Einzige, der diesem hungrigen Fremden misstraut. Oh, Thrall, du hast noch so viel zu lernen.«

Während der Clan an diesem Abend aß, beobachtete Thrall den Fremden weiter und versuchte dabei, nicht zu offensichtlichen Argwohn zu zeigen. Der Mann hatte ein großes Bündel, an das er niemanden heran ließ, und legte niemals seinen unförmigen Umhang ab. Er beantwortete Fragen höflich, aber knapp und verriet nur sehr wenig über sich selbst. Thrall wusste lediglich, dass er seit zwanzig Jahren als Eremit lebte, den Kontakt zu anderen mied und von den alten Tagen träumte, ohne dass er etwas zu tun schien, um sie tatsächlich zurückzuholen.

Einmal fragte Uthul: »Hast du je die Lager gesehen? Thrall sagt, die Orks, die sie dort gefangen halten, hätten ihren eigenen Willen verloren.«

»Ja, und das überrascht mich nicht«, antwortete der Fremde. »Es gibt wenig, für das es sich noch zu kämpfen lohnte.«

»Es gibt viel, für das es sich zu kämpfen lohnt!«, mischte sich Thrall ein, dessen Wut schnell entflammte. »Die Freiheit. Einen Ort, der uns gehört. Die Erinnerung an unseren Ursprung.«

»Und doch versteckt ihr Eiswölfe euch hier in den Bergen«, entgegnete der Fremde.

»Wie ihr euch in den Südlanden versteckt!«, knurrte Thrall.

»Ich behaupte auch nicht, die Orks anstacheln zu wollen, ihre Ketten abzuwerfen und gegen ihre Herren zu revoltieren«, antwortete der Fremde mit ruhiger Stimme und ließ sich nicht provozieren.

»Ich werde nicht mehr lange hier sein«, erklärte Thrall. »Wenn der Frühling kommt, schließe ich mich dem unbesiegten Ork-Häuptling Grom Hellscream an und helfe seinem edlen Warsong-Clan, die Lager zu stürmen. Wir werden unsere Brüder und Schwestern inspirieren, sich gegen die Menschen zu erheben, die nicht ihre Herren sind, sondern nur Tyrannen, die sie gegen ihren Willen festhalten!« Thrall stand jetzt. Die Wut brannte heiß in ihm angesichts der Beleidigung, die dieser Fremde zu äußern gewagt hatte. Er hatte damit gerechnet, dass Drek’Thar ihn zurechtweisen würde, aber der alte Ork sagte nichts. Er streichelte nur seinen Wolfsgefährten und hörte zu. Die anderen Eiswölfe schienen fasziniert von dem Streit zwischen Thrall und dem Gast und unterbrachen sie nicht.

»Grom Hellscream«, sagte der Fremde mit spöttischem Grinsen und winkte verächtlich mit der Hand ab. »Ein von Dämonen heimgesuchter Träumer. Nein, nein, ihr Eiswölfe macht es schon richtig, genau wie ich. Ich habe gesehen, was die Menschen tun können, und es ist am Besten, ihnen aus dem Weg zu gehen und an den versteckten Orten zu leben, wo sie nicht hinkommen.«

»Ich wurde von Menschen aufgezogen, und glaube mir, sie sind nicht unfehlbar!«, schrie Thrall. »Und ich glaube du auch nicht, Feigling!«

»Thrall …«, begann Drek’Thar und mischte sich endlich ein.

»Nein, Meister Drek’Thar, ich werde nicht schweigen. Dieser … dieser … er kommt und sucht unsere Hilfe, isst an unserem Feuer und wagt es, den Mut unseres Clans und seines ganzen Volkes zu beleidigen. Das lasse ich nicht zu. Ich bin nicht der Häuptling, und ich nehme diese Position auch nicht für mich in Anspruch, obwohl ich für sie geboren wurde. Aber ich bestehe auf meinem persönlichen Recht, gegen diesen Fremden zu kämpfen, damit er seine Worte zurücknimmt, nachdem ich seine Frechheiten mit meinem Schwert zerhackt habe!«

Er erwartete, der feige Eremit würde kuschen und ihn um Verzeihung bitten. Stattdessen lachte der Fremde herzhaft und erhob sich. Er war fast so groß wie Thrall, und jetzt konnte der junge Ork endlich sehen, was er unter seinem Mantel versteckt hielt. Zu seinem Erstaunen trug der arrogante Fremde eine schwarze Rüstung, die mit Messing besetzt war. Einst musste diese Rüstung imposant gewesen sein, doch obwohl sie noch immer beeindruckend wirkte, hatten die Platten bessere Tage gesehen, und die Messingverzierungen mussten unbedingt poliert werden.

Mit einem wilden Schrei öffnete der Fremde das Bündel, das er getragen hatte, und zog den größten Kriegshammer heraus, den Thrall jemals gesehen hatte. Ein höhnisches Grinsen auf den Lippen, hielt er ihn mit scheinbarer Leichtigkeit. Dann schwang er ihn gegen Thrall.

»Wollen wir doch mal sehen, ob du’s mit mir aufnehmen kannst, Welpe!«, brüllte er.

Zu Thralls Schrecken, schrien auch die anderen Orks laut und begeistert. Anstatt ihrem Clansmann beizustehen und ihn zu verteidigen, wichen die Eiswölfe zurück. Manche fielen sogar auf die Knie. Nur Snowsong blieb bei Thrall und stellte sich zwischen ihren Gefährten und den Fremden, die Nackenhaare aufgestellt, die weißen Fänge entblößt.

Was passierte hier? Thrall blickte zu Drek’Thar hinüber, der entspannt und ausdruckslos schien.

So sei es denn. Wer auch immer der Fremde war, er hatte Thrall und die Eiswölfe beleidigt, und der junge Schamane war bereit, seine Ehre und die seines Clans mit seinem Leben zu verteidigen.

Er hatte keine Waffe, aber Uthul drückte Thrall einen langen, scharfen Speer in die ausgestreckte Hand. Thralls Finger schlossen sich um den Schaft, und er begann mit den Füßen zu stampfen.

Er fühlte, wie der Geist der Erde fragend reagierte. So höflich er konnte, denn er hatte nicht die Absicht, das Element zu verärgern, lehnte er das Hilfsangebot ab. Dies war kein Kampf für die Elemente; hier gab es keine große Not – nur Thralls Wunsch, diesem überheblichen Fremden eine dringend nötige Lektion zu erteilen.

Trotzdem fühlte er wie die Erde unter seinen stampfenden Füßen erzitterte. Der Fremde blickte erschreckt, dann seltsam befriedigt. Bevor sich Thrall richtig vorbereiten konnte, begann sein schwer gerüstetes Gegenüber seinen Angriff.

Thrall hob den Speer, um sich zu verteidigen, doch seine Waffe war niemals dazu gedacht gewesen, den Schlag eines riesigen Kriegshammers abzuschmettern. Wie ein dürrer Zweig brach der Speer entzwei. Thrall blickte sich um, aber es gab keine andere Waffe. Er bereitete sich auf den nächsten Schlag seines Gegners vor und entschloss sich, die Strategie anzuwenden, die ihm in der Vergangenheit so gut gedient hatte, wenn er waffenlos gegen einen bewaffneten Gegner hatte antreten müssen.

Wieder schwang der Fremde seinen Hammer. Thrall wich aus und wirbelte geschickt herum, um die Waffe zu packen, die er ihrem Besitzer entreißen wollte. Als er seine Hände um den Stiel schloss, zerrte der Fremde sie zu seinem Erstaunen mit einem schnellen Ruck zurück. Thrall fiel nach vorne, und der Fremde setzte sich auf seinen gefallenen Körper.

Thrall zappelte wie ein Fisch, und es gelang ihm, sich auf die Seite zu werfen, während er eines der Beine seines Feindes fest zwischen seinen eigenen Knöcheln packte. Der Fremde verlor die Balance. Jetzt waren sie beide am Boden. Thrall hämmerte seine geballte Faust auf das Handgelenk hinunter, das den Kriegshammer hielt. Der Fremde grunzte und ließ reflexartig los. Thrall ergriff die Gelegenheit, packte den Kriegshammer und sprang auf die Füße, wobei er die Waffe hoch über seinen Kopf schwang.

Er fing sich gerade noch rechtzeitig. Er stand kurz davor, mit der gewaltigen Steinwaffe den Schädel seines Gegners zu zerschmettern. Aber dies war ein Ork wie er selbst, nicht ein Mensch, dem er sich auf dem Schlachtfeld stellte. Dies war ein Gast seines Lagers und ein Krieger, neben dem zu dienen er stolz wäre, wenn er und Hellscream erst die Lager stürmten, um ihre gefangenen Brüder und Schwestern zu befreien.

Sein Zögern und das schiere Gewicht der Waffe brachten ihn ins Stolpern. Das war alles, was der Fremde brauchte. Knurrend setzte er den gleichen Trick ein, den Thrall zuvor gegen ihn angewendet hatte und trat Thralls Füße unter ihm weg. Noch immer den Kriegshammer haltend, stürzte Thrall. Bevor ihm überhaupt klar wurde, was geschah, war der andere Ork über ihm und schloss seine Hände um seinen Hals.

Thralls Welt wurde rot. Der Instinkt übernahm die Kontrolle, und er wand sich. Dieser Ork war beinahe so groß wie er selbst und trug zudem eine Rüstung, aber Thralls wilder Wunsch nach Sieg und seine größere Masse schenkten ihm den Vorteil, den er brauchte, um seinen Körper herum zu biegen und den anderen Krieger unter sich einzuklemmen.

Hände packten ihn und zogen ihn fort. Er brüllte, die heiße Blutlust in ihm verlangte Befriedigung, und er wehrte sich. Es bedurfte acht seiner Eiswolf-Gefährten, um ihn lange genug am Boden zu halten, dass sich der rote Nebel klären und sein Atem sich normalisieren konnte. Als er nickte und bedeutete, dass er wieder in Ordnung sei, erhoben sie sich und ließen ihn allein aufstehen.

Vor ihm stand der Fremde. Thrall begegnete seinen Augen ruhig, während er noch von der Anstrengung keuchte. Der Fremde erhob sich zu seiner vollen Größe und gab ein gewaltiges bellendes Lachen von sich.

»Es ist lange her, seit irgendjemand mich auch nur herausfordern konnte!«, brüllte er fröhlich, und es schien ihn nicht im Geringsten zu kümmern, dass es Thrall beinahe gelungen wäre, seine Eingeweide in die Erde zu stampfen. »Und es ist noch länger her, dass irgendjemand mich schlagen konnte, und sei es auch nur in einer harmlosen Balgerei. Nur deinem Vater ist das jemals gelungen, junger Thrall. Möge sein Geist in Frieden wandeln. Es scheint, Hellscream hat nicht gelogen. Ich glaube, ich habe meinen Stellvertretenden Kommandeur gefunden.«

Er reichte Thrall die Hand. Thrall starrte sie an und fauchte: »Stellvertretender Kommandeur? Ich habe dich mit deiner eigenen Waffe geschlagen, Fremder. Ich weiß nicht, nach welchem Regelwerk der Sieger der Zweite wäre!«

»Thrall!« Drek’Thars Stimme krachte wie ein einschlagender Blitz.

»Er versteht noch nicht«, kicherte der Fremde. »Thrall, Sohn des Durotan, ich bin einen weiten Weg gekommen, um dich zu finden, um zu sehen, ob die Gerüchte wahr sind – dass es einen würdigen Stellvertretenden Kommandeur gibt, den ich unter meine Fittiche nehmen und dem ich vertrauen kann, wenn ich die Lager befreie.«

Er machte eine Pause, und in seinen Augen funkelte das Lachen.

»Mein Name, Sohn des Durotan, ist Orgrim Doomhammer.«

Загрузка...