Zunächst brachte Thrall vor Schreck kein Wort heraus. Er hatte Orgrim Doomhammer beleidigt, den Kriegshäuptling der Horde, den besten Freund seines Vaters, jenen einen Ork, der für ihn während all der Zeit eine solche Inspiration gewesen war. Die Rüstung und der Kriegshammer hätten es ihm sofort verraten müssen. Was für ein Narr er gewesen war!
Er sank auf die Knie. »Edelster Doomhammer, ich bitte Euch um Vergebung. Ich wusste nicht …« Er warf Drek’Thar einen grimmigen Blick zu. »Mein Lehrer hätte mich warnen sollen …«
»… und das hätte alles verdorben«, antwortete Doomhammer, der noch immer ein wenig lachte. »Ich wollte dich herausfordern, sehen, ob du tatsächlich die Leidenschaft und den Stolz besitzt, von denen Grom Hellscream mit solcher Begeisterung sprach. Ich bekam mehr, als ich erwartet hatte … ich wurde geschlagen!« Er lachte laut, als sei es die amüsanteste Sache, die ihm seit Jahren widerfahren war. Thrall begann sich zu entspannen. Doomhammer hörte auf zu lachen und legte sanft eine Hand auf die Schulter des jungen Orks.
»Komm und setz dich zu mir, Thrall, Sohn des Durotan«, sagte er. »Wir werden zu Ende essen. Du erzählst mir deine Geschichte, und ich erzähle dir Geschichten von deinem Vater, die du noch niemals gehört hast.«
Freude überflutete Thrall. Instinktiv griff er nach der Hand, die auf seiner Schulter lag. Doomhammer war plötzlich ernst, blickte Thrall in die Augen und nickte.
Jetzt, da alle wussten, wer der geheimnisvolle Fremde war – Drek’Thar gab zu, dass er es die ganze Zeit gewusst und tatsächlich sogar Wiseear ausgesandt hatte, um Doomhammer für genau diese Konfrontation zu suchen –, konnten die Eiswölfe ihren hochverehrten Gast mit dem Respekt behandeln, der ihm gebührte. Sie holten mehrere Hasen, die sie eigentlich für später hatten trocknen wollen, bestrichen sie mit wertvollen Ölen und Kräutern und begannen, sie über dem Feuer zu rösten. Weitere Kräuter wurden den Flammen hinzugegeben, und ihr würziges Aroma erhob sich mit dem Rauch. Es war beinahe berauschend. Trommeln und Flöten wurden hervorgeholt, und bald verbanden sich Musik und Gesang mit dem anregenden Rauch. Sie sandten eine Botschaft der Verehrung und der Freude an die Geisterwelt.
Thrall war zunächst gehemmt, aber Doomhammer entlockte ihm seine Geschichte, indem er gezielt Fragen stellte. Als Thrall fertig war, sprach er nicht sofort.
»Dieser Blackmoore«, sagte er dann, »er klingt wie Gul’dan. Einer, dem nicht das Wohl seines Volkes am Herzen liegt, sondern nur sein eigener Profit, sein persönliches Vergnügen.«
Thrall nickte. »Ich war nicht der Einzige, der seine Grausamkeit und Unberechenbarkeit zu spüren bekam. Ich bin mir sicher, er hasst uns Orks, aber er besitzt auch nur wenig Liebe für sein eigenes Volk.«
»Und diese Taretha und jener Sergeant … Ich hätte nicht gedacht, dass Menschen zu Freundlichkeit und Ehre fähig sind.«
»Ich hätte niemals Ehre und das Gewähren von Gnade gelernt, wenn nicht Sergeant gewesen wäre«, sagte Thrall. Ein Kichern schüttelte ihn. »Noch hätte ich den ersten Trick gekannt, den ich gegen Euch eingesetzt habe. Er hat mir in vielen Kämpfen den Sieg gebracht.«
Doomhammer lachte leise mit ihm, dann wurde er wieder ernst. »Es ist meine Erfahrung, dass die Männer unser Volk hassen und die Frauen und Kinder uns fürchten. Doch dieses Mädchen hat sich aus eigenem freien Willen mit dir angefreundet.«
»Sie hat ein großes Herz«, sagte Thrall. »Ich kann ihr kein größeres Kompliment machen als zu erklären, dass ich stolz wäre, sie in meinen Clan aufzunehmen. Sie hat den Geist eines Orks, gemildert durch Mitgefühl.«
Doomhammer schwieg wieder für eine Weile. Schließlich sagte er: »All diese Jahre bin ich allein gewandert, seit unserer letzten, schmachvollen Niederlage. Ich weiß, was sie über mich erzählen. Ich sei ein Eremit, ein Feigling, hätte Angst, mein Gesicht zu zeigen. Weißt du, warum ich bis heute Nacht die Gesellschaft anderer gemieden habe, Thrall?«
Thrall schüttelte den Kopf.
»Weil ich allein sein musste, um zu verstehen, was geschehen ist. Um nachzudenken. Um mich daran zu erinnern, wer ich bin, wer wir als Volk sind. Von Zeit zu Zeit tat ich, was ich heute tat. Ich näherte mich den Lagerfeuern, nahm ihre Gastfreundschaft an, lauschte ihren Erzählungen. Und lernte.« Er machte eine Pause. »Ich kenne die Gefängnisse der Menschen, genau wie du. Ich wurde gefangen genommen, und König Terenas von Lordaeron hielt mich eine Zeit lang als Kuriosität fest. Ich entkam aus seinem Palast, wie du aus Durnholde entkommen bist. Ich war sogar in einem Lager. Ich weiß wie es ist, so gebrochen zu sein, so verzweifelt. Beinahe wäre ich einer von ihnen geworden.«
Während er sprach, hatte er ins Feuer gestarrt. Jetzt wandte er seinen Blick Thrall zu. Obwohl seine grauen Augen klar waren und in ihnen nicht die böse Flamme brannte, die Hellscreams Augen versengte, schienen durch ein Spiel des Feuers seine Augen nun ebenso rot zu leuchten wie jene von Grom.
»Aber ich wurde es nicht. Ich entkam, genau wie du. Ich fand es einfach, genau wie du. Und doch bleibt es schwer für jene, die im Schlamm der Lager kauern. Wir können von außen so wenig für sie tun. Wenn ein Schwein seinen Stall liebt, dann bedeutet ihm die offene Tür nichts. So ist es mit den Orks in den Lagern. Sie müssen durch die Tür gehen wollen, wenn wir sie ihnen öffnen.«
Thrall begann zu verstehen, was Doomhammer sagen wollte. »Wenn wir die Mauern niederreißen, bedeutet das noch lange nicht, dass unser Volk frei ist«, sagte er.
Doomhammer nickte. »Wir müssen sie zum Weg des Schamanen zurückführen. Wir müssen ihren vergifteten Geist von den Lügen reinigen, die die Dämonen ihnen eingeflüstert haben, und ihnen ihren wahren Geist als Krieger zurückgeben. Du hast die Bewunderung des Warsong-Clans und seines tapferen Führers gewonnen, Thrall. Jetzt hast du die Eiswölfe, den unabhängigsten und stolzesten Clan, den ich jemals gekannt habe, und er ist bereit, dir in die Schlacht zu folgen. Wenn es irgendeinen Ork gibt, der unsere gebrochenen Brüder lehren kann, sich zu erinnern, wer sie sind, so bist du es.«
Thrall dachte an das Lager, an die trostlose, tödliche Trägheit. Er dachte auch daran, wie knapp er Blackmoores Schergen entkommen war.
»Obwohl ich diesen Ort hasse, werde ich gerne dorthin zurückkehren, wenn ich hoffen kann, mein Volk wieder zu erwecken«, erklärte er. »Aber Ihr müsst wissen, dass Blackmoore alles versuchen wird, um mich einzufangen. Zweimal bin ich ihm nur knapp entkommen. Ich hatte gehofft, einen Angriff gegen ihn anzuführen, aber …«
»… aber ohne Truppen würdest du scheitern«, sagte Doomhammer. »Ich weiß, wovon du sprichst, Thrall. Obwohl ich einsam wanderte, habe ich verfolgt, was im Land geschieht. Mach dir keine Sorgen. Wir werden Blackmoore und seine Männer auf eine falsche Fährte locken.«
»Die Kommandanten der Lager wissen, dass sie nach mir Ausschau halten sollen«, sagte Thrall.
»Sie erwarten einen großen, starken, stolzen, intelligenten Thrall«, entgegnete Doomhammer. »Einen weiteren besiegten, dreckigen, gebrochenen Ork werden sie nicht beachten. Kannst du diesen sturen Stolz verstecken, mein Freund? Kannst du ihn begraben und so tun, als hättest du keinen Mut, keinen eigenen Willen mehr?«
»Das wird schwierig sein«, gab Thrall zu, »aber ich werde es tun, wenn es meinem Volk dient.«
»Gesprochen wie der wahre Sohn des Durotan«, sagte Doomhammer, und seine Stimme klang seltsam schwer und traurig.
Thrall zögerte, aber er musste so viel erfahren, wie er nur konnte. »Drek’Thar sagte mir, Durotan und Draka seien gegangen, um Euch aufzusuchen, um Euch zu überzeugen, dass Gul’dan böse war und die Orks nur benutzte, um seine eigene Machtgier zu befriedigen. Das Tuch, in das ich gewickelt war, erzählte Drek’Thar, dass sie ein gewaltsames Ende fanden, und ich weiß, dass ich allein mit den Leichen zweier Orks und eines weißen Wolfs war, als Blackmoore mich fand. Bitte … könnt Ihr mir sagen … hat mein Vater Euch gefunden?«
»Er fand mich«, sagte Doomhammer mit schwerer Stimme. »Und es ist mir eine Quelle großer Scham und Trauer, dass ich nicht besser auf ihn und seine Gefährtin aufgepasst habe. Ich dachte, ich täte das Beste für meine eigenen Krieger und für Durotan. Sie kamen und hatten dich dabei, junger Thrall, und sie erzählten mir von Gul’dans Verrat. Ich glaubte ihnen. Ich kannte einen Ort, an dem sie sicher sein würden. Das glaubte ich zumindest. Später erfuhr ich, dass einige meiner Krieger Spione Gul’dans waren. Obwohl ich es nicht sicher weiß, bin ich überzeugt, dass jene Wache, der ich auftrug, Durotan in Sicherheit zu bringen, Mörder rief, um ihn zu töten.« Doomhammer seufzte tief, und einen Augenblick lang erschien es Thrall, als laste das Gewicht der ganzen Welt auf diesen breiten, starken Schultern.
»Durotan war mein Freund. Ich hätte jederzeit mein Leben für ihn und seine Familie gegeben. Doch ich habe in meiner Dummheit seinen Tod herbeigeführt. Ich kann nur hoffen, dass ich dieses Versagen wiedergutmachen kann, indem ich alles in meiner Macht Stehende für das Kind tue, das Durotan zurückließ. Thrall, trotz des Namens, den zu behalten du dich entschieden hast, stammst du aus einer stolzen und edlen Familie. Lass uns diese Familie gemeinsam ehren.«
Ein paar Wochen später, als der Frühling in voller Blüte stand, fiel es Thrall sehr leicht, in ein Dorf zu trotten, die Bauern anzubrüllen und sich gefangen nehmen zu lassen. Sobald sich das Fangnetz um ihn geschlossen hatte, gab er nach und wimmerte, um die Menschen glauben zu machen, sie hätten seinen Geist gebrochen.
Als sie ihn ins Lager brachten, spielte er seine jämmerliche Rolle weiter. Doch sobald die Wachen sich an den Neuen gewöhnt hatten, begann Thrall leise zu jenen zu sprechen, die bereit waren, ihm zuzuhören. Er wählte die wenigen aus, die noch immer etwas Geist und Willen zu besitzen schienen. Nachts, wenn die menschlichen Wachen auf ihren Posten schliefen, erzählte Thrall diesen Orks von ihren Ursprüngen. Er sprach von der Macht der Schamanen, von seinen eigenen Fähigkeiten. Mehr als einmal verlangten seine Zuhörer Beweise. Thrall ließ nicht die Erde beben, noch rief er den Donner und den Blitz an. Stattdessen nahm er eine Handvoll Schlamm auf und suchte nach den Resten von Leben in ihm. Vor den großen Augen der Gefangenen ließ er aus der braunen Erde Gras und sogar Blumen sprießen.
»Selbst das, was tot und hässlich scheint, besitzt Macht und Schönheit«, erklärte Thrall seinem staunenden Publikum. Sie wandten sich ihm zu, und sein Herz sprang vor Freude, wenn er einen schwachen Schimmer von Hoffnung in ihren Gesichtern aufglimmen sah.
Während Thrall sich freiwillig der Gefangenschaft unterwarf, um die geschlagenen, gefangenen Orks in den Lagern zu wecken, hatten die Eiswölfe und die Warsongs sich unter Doomhammer vereint. Sie beobachteten das Lager, in dem Thrall wirkte, und warteten auf sein Signal.
Es dauerte länger, als Thrall erwartet hatte, die unterdrückten Orks so weit zu bringen, auch nur an Rebellion zu denken, aber schließlich entschied er, dass die Zeit gekommen sei. In den dunklen Stunden nach Mitternacht, als nur das leise Schnarchen einzelner Wachen die Stille störte, kniete sich Thrall auf den guten, festen Boden. Er hob seine Hände und bat die Geister des Wassers und des Feuers zu kommen und ihm bei der Befreiung seiner Leute zu helfen.
Sie kamen.
Ein leichter Regen begann zu fallen. Plötzlich wurde der Himmel von drei Blitzen aufgespalten. Eine Pause. Dann wiederholte sich das Schauspiel. Wütender Donner begleitete jeden Blitz und ließ die Erde schwach erzittern. Das war das Signal, auf das sie sich geeinigt hatten.
Die Orks im Lager warteten, ängstlich, aber bereit. Sie umklammerten ihre behelfsmäßigen Waffen aus Steinen und Stöcken und anderen Dingen, die man im Lager finden konnte. Sie warteten darauf, dass Thrall ihnen sagte, was sie zu tun hatten.
Ein entsetzlicher Schrei gellte durch die Nacht, durchdringender noch als der Donner, und Thrall lächelte breit. Er hätte diesen Schrei überall erkannt – es war Grom Hellscream. Der Lärm erschreckte die Orks, aber Thrall schrie über ihn hinweg: »Das sind unsere Verbündeten jenseits der Mauern! Sie sind gekommen, um uns zu befreien!«
Die Wachen waren vom Donner geweckt worden. Jetzt rannten sie auf ihre Posten, während Hellscreams Schrei bereits verklang, aber sie kamen zu spät. Thrall bat ein weiteres Mal um den Blitz. Und er kam.
Ein gezackter Strahl traf die Hauptmauer, wo die meisten Wachen sich versammelt hatten. In das Getöse des zusammenstürzenden Steins mischte sich das Grollen des Donners und das Geschrei der Wachen. Thrall blinzelte in der plötzlichen Finsternis, aber Feuer brannten noch immer hier und dort, und er konnte sehen, dass die Mauer vollkommen durchbrochen war.
Durch diese Bresche brach eine Woge geschmeidiger, grüner Körper. Sie griff die Wachen an und überwältigte sie mit geradezu beiläufiger Leichtigkeit. Die gefangenen Orks gafften erstaunt.
»Fühlt ihr, wie es sich in euch rührt?«, schrie Thrall. »Fühlt ihr, wie euer Geist sich danach sehnt, zu kämpfen, zu töten, frei zu sein? Kommt, meine Brüder und Schwestern!« Ohne sich umzuwenden, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgten, stürmte Thrall auf die Öffnung zu.
Er hörte ihre zögerlichen Stimmen hinter sich, die mit jedem Schritt, den sie auf die Freiheit zu taten, lauter wurden. Plötzlich grunzte Thrall vor Schmerz auf, als etwas seinen Arm durchbohrte. Ein Pfeil war beinahe ganz in ihn eingesunken. Er ignorierte den Schmerz. Darum konnte er sich kümmern, wenn alle frei waren.
Um Thrall herum wurde gekämpft. Er hörte den Stahl, der auf das Schwert traf, die Axt, die in Fleisch biss. Einige der Wachen, die Klügeren unter ihnen, hatten erkannt, was hier geschah und eilten herbei, um den Ausgang mit ihren eigenen Körpern zu blockieren. Für einen Augenblick fühlte Thrall Trauer über die Sinnlosigkeit ihres Todes, dann stürmte er vor.
Er schnappte sich die Waffe eines gefallenen Orks und schlug eine unerfahrene Wache mit Leichtigkeit zurück. »Geht, geht!«, schrie er und winkte mit der linken Hand. Die gefangenen Orks erstarrten zunächst und drängten sich eng aneinander, dann schrie einer von ihnen und stürmte ebenfalls vorwärts. Der Rest folgte. Thrall hob seine Waffe, ließ sie nieder sausen, und die tote Wache fiel in den blutigen Schlamm.
Vor Anstrengung keuchend blickte sich Thrall um. Er sah nur noch die Krieger der Warsongs und der Eiswölfe im Kampf mit den Wachen. Die Gefangenen waren aus dem Lager verschwunden.
»Rückzug!«, schrie er und machte sich auf den Weg über die noch immer heißer Steine, die einmal Gefängnismauern gewesen waren, in die süße Finsternis der Nacht. Die Clansleute folgten. Ein oder zwei Wachen folgten ihnen, aber die Orks waren schneller und hatten sie bald abgeschüttelt.
Der Treffpunkt, den sie ausgemacht hatten, war ein alter Ring stehender Steine. Die Nacht war dunkel, aber Ork-Augen sahen auch ohne das Licht des Mondes. Als Thrall am Treffpunkt anlangte, standen Dutzende von Orks bei den acht aufragenden Steinen.
»Geglückt!«, schrie eine Stimme zu Thralls Rechten. Er wandte sich um und sah Doomhammer, dessen schwarze Rüstung mit einer solchen leuchtenden Nässe überzogen war, dass es nur vergossenes menschliches Blut sein konnte. »Geglückt! Ihr seid frei, meine Brüder! Ihr seid frei!«
Und der Ruf, der in der mondlosen Nacht anschwoll, erfüllte Thralls Herz mit Freude. »Wenn du mir die Nachrichten bringst, von denen ich glaube, dass du sie mir bringst, dann fühle ich mich geneigt, deinen hübschen Kopf von den Schultern zu trennen«, knurrte Blackmoore den unglückseligen Boten an, der ein Bandelier trug, das ihn als einen Reiter aus einem der Lager auswies.
Der Bote sah aus, als würde ihm übel. »Vielleicht sollte ich dann nicht sprechen«, entgegnete er.
Eine Flasche stand zu Blackmoores Rechten und schien nach ihm zu rufen. Er ignorierte ihre Bitten trotz seiner schweißnassen Handflächen.
»Lass mich raten. Es hat wieder einen Aufstand in einem der Lager gegeben. Alle Orks sind entkommen. Niemand weiß, wohin sie sind.«
»Lord Blackmoore«, schluckte der junge Bote, »werdet Ihr mir den Kopf abschlagen, wenn ich Eure Worte bestätige?«
Die Wut explodierte in Blackmoore mit solcher Gewalt, dass sie fast einem körperlichen Schmerz gleichkam – und wurde sofort durch ein tiefes Gefühl schwarzer Verzweiflung abgelöst. Was ging hier vor? Wie hatten diese Schafe in Ork-Gestalt sich dazu aufraffen können, ihre Wärter zu überwältigen? Wer waren diese Orks, die aus dem Nichts erschienen waren, bis an die Zähne bewaffnet und von einer Wut erfüllt, die man seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte? Es gab Gerüchte, dass Doomhammer – verflucht sollte seine verrottete Seele sein! – aus seinem Versteck gekrochen sei und die Aufstände anführe. Eine Wache hatte geschworen, sie habe die berühmte schwarze Rüstung des Bastards gesehen.
»Du darfst deinen Kopf behalten«, erklärte Blackmoore und versuchte, die Flasche zu ignorieren, die in Reichweite seines Armes lockte. »Aber nur, damit du eine Nachricht an deinen Kommandanten überbringen kannst.«
»Sir«, sagte der Bote elend, »es gibt noch mehr.«
Blackmoore blickte aus blutunterlaufenen Augen zu ihm auf. »Wie viel mehr kann es noch geben?«
»Dieses Mal wurde der Anstifter der Orks erkannt. Es ist …«
»Doomhammer, ja. Ich habe die Gerüchte gehört.«
»Nein, Mylord.« Der Bote schluckte. Blackmoore konnte sehen, wie auf der Stirn des jungen Mannes der Schweiß ausbrach. »Der Anführer dieser Aufstände ist … es ist Thrall, Mylord.«
Blackmoore fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. »Du bist ein verdammter Lügner«, sagte er leise. »Oder zumindest solltest du mir besser sagen, dass du ein verdammter Lügner bist.«
»Nein, Mylord, obwohl ich mir wünschte, es wäre so. Mein Herr sagte, er sei ihm im Kampf begegnet. Er erinnerte sich an Thrall von den Gladiatorenkämpfen.«
»Ich werde deinem Herrn die Zunge herausschneiden, die solche Lügen verbreitet!«, brüllte Blackmoore.
»Leider, Sir, müsst Ihr sechs Fuß tief graben, um seine Zunge zu bekommen«, erklärte der Bote. »Er starb nur eine Stunde nach der Schlacht.«
Bestürzt über die Neuigkeit sank Blackmoore in seinen Sessel zurück und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ein schneller Schluck würde helfen, aber er wusste, dass er zu viel vor den Augen anderer Leute trank. Er hörte sie bereits flüstern. Betrunkener Narr … der hier den Befehl hat …
Nein. Er leckte sich die Lippen. Ich bin Aedelas Blackmoore, Lord von Durnholde, Herr der Lager … Ich habe diese grünhäutige, schwarzblütige Missgeburt aufgezogen und ausgebildet, ich sollte in der Lage sein, sie auszutricksen … Beim Licht! Nur einen Schluck, damit diese Hand wieder ruhig wird …
Ein seltsames Gefühl des Stolzes überkam ihn. Er hatte Recht behalten mit Thralls Potenzial. Er hatte immer gewusst, dass der Junge etwas Besonderes war, mehr als ein normaler Ork. Hätte Thrall doch nur nicht die Chancen ausgeschlagen, die Blackmoore ihm geboten hatte! Sie könnten in diesem Augenblick den Angriff gegen die Allianz anführen, mit Blackmoore an der Spitze einer loyalen Ork-Armee, die jedem seiner Befehle gehorchte. Dummer, dummer Thrall. Für einen kurzen Augenblick musste Blackmoore an jene letzten Prügel denken, die er Thrall verabreicht hatte. Vielleicht war er doch ein wenig zu weit gegangen …
Aber er würde jetzt keine Schuldgefühle entwickeln, nicht wegen eines ungehorsamen Sklaven. Thrall hatte alles aufgegeben, um sich mit diesen grunzenden, stinkenden, wertlosen Bestien zu verbünden. Sollte er dort verrotten, wo er fallen würde.
Seine Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem zitternden Boten zu, und Blackmoore zwang sich zu einem Lächeln. Der Mann entspannte sich und lächelte zaghaft zurück. Mit unsicherer Hand griff Blackmoore nach einer Feder, tauchte sie in Tinte und schrieb eine Botschaft. Er puderte sie, um die überschüssige Tinte aufzusaugen, und gab ihr ein paar Sekunden zum Trocknen. Dann faltete er das Schreiben, ließ heißes Wachs auf das Papier tropfen und setzte ihm sein Siegel auf.
Er reichte den Brief dem Boten und sagte: »Bring dies zu deinem Herrn. Und pass gut auf deinen Hals auf, junger Mann.«
Der Bote konnte sein Glück offenbar kaum fassen, verbeugte sich tief und huschte schnell hinaus. Wahrscheinlich wollte er nicht das Risiko eingehen, dass Blackmoore seinen Entschluss änderte.
Als er wieder allein war, griff Blackmoore nach der Flasche, entkorkte sie und genehmigte sich mehrere lange, tiefe Schlucke. Als er die Flasche von den Lippen nahm, tropfte etwas Wein auf sein schwarzes Wams. Er wischte den Fleck gleichgültig ab. Dafür hatte er schließlich Diener.
»Tammis!«, schrie er. Sofort öffnete sich die Tür, und der Diener streckte seinen Kopf herein.
»Ja, Sir?«
»Geh und finde mir Langston.« Blackmoore lächelte. »Ich habe eine Aufgabe für ihn.«