16

Es war Thrall gelungen, sich in drei Lager zu schmuggeln und diese zu befreien. Nach der ersten Revolte waren die Sicherheitsmaßnahmen natürlich verschärft worden, doch sie waren weiterhin jämmerlich nachlässig, und die Männer, die Thrall »gefangen nahmen« schienen niemals zu erwarten, dass er Ärger schüren würde.

Doch während der Schlacht im dritten Lager hatte man ihn erkannt. Das Überraschungselement war dahin, und nachdem er mit Hellscream und Doomhammer gesprochen hatte, war man zu dem Schluss gekommen, dass es zu riskant wäre, wenn sich Thrall weiterhin als einfacher Geknechteter ausgab.

»Es ist dein Mut, der uns geweckt hat. Du kannst dich nicht weiter in solche Gefahr begeben«, sagte Hellscream. In seinen Augen lag das Leuchten, von dem Thrall jetzt wusste, dass es dämonisches Höllenfeuer war.

»Ich kann nicht in Sicherheit hinter den Linien sitzen, während sich andere der Gefahr stellen«, antwortete Thrall.

»Das wollen wir auch nicht vorschlagen«, sagte Doomhammer, »aber die Taktik, die wir bisher benutzt haben, ist jetzt zu gefährlich geworden.«

»Die Menschen reden«, sagte Thrall und erinnerte sich an all die Gerüchte und Geschichten, die er während seiner Ausbildungszeit gehört hatte. Die menschlichen Rekruten hatten gedacht, er sei zu dumm, um sie zu verstehen, und sie hatten sich in seiner Gegenwart frei unterhalten. Diese herablassende Behandlung wurmte ihn noch immer, aber das so erhaltene Wissen war ihm willkommen gewesen. »Die Orks in den Lagern werden davon erfahren, wie die anderen Lager befreit wurden. Selbst wenn sie gar nicht wirklich hinhören, werden sie wissen, dass etwas im Gange ist. Zwar kann ich nicht körperlich bei ihnen sein, um ihnen vom Weg des Schamanen zu erzählen, aber wir dürfen hoffen, dass unsere Botschaft irgendwie zu ihnen durchgedrungen ist. Sobald der Weg frei ist, lasst uns hoffen, dass sie ihren eigenen Pfad in die Freiheit finden.«

Und so war es geschehen. Das vierte Lager hatte vor bewaffneten Wachen gestrotzt, aber die Elemente kamen Thrall weiterhin zu Hilfe, wenn er sie darum bat. Dies überzeugte ihn noch mehr davon, dass seine Sache richtig und gerecht war, denn anderenfalls hätten die Geister gewiss ihre Hilfe verweigert. Es wurde schwerer, die Mauern zu zerstören und gegen die Wachen zu kämpfen, und viele von Doomhammers besten Kriegern ließen ihr Leben. Doch die gefangenen Orks reagierten eifrig und stürmten durch die entstandene Bresche, fast bevor Doomhammer und seine Krieger für sie bereit waren.

Die neue Horde wuchs beinahe täglich. Die Jagd war zu dieser Jahreszeit einfach, und Doomhammers Gefolgsleute mussten nicht hungern. Als Thrall von einer kleinen Gruppe hörte, die ein abgelegenes Dorf angegriffen hatte, war er wütend. Besonders als er hörte, dass viele unbewaffnete Menschen getötet worden waren.

Er erfuhr, wer der Anführer dieses Überfalls war, und noch am selben Abend marschierte er in das Lager der Gruppe, ergriff den erschrockenen Ork und schlug ihn hart zu Boden.

»Wir sind nicht die Schlächter von Menschen!«, brüllte Thrall. »Wir kämpfen, um unsere gefangenen Brüder zu befreien, und unsere Gegner sind bewaffnete Soldaten, nicht Frauen und Kinder!«

Der Ork wollte protestieren, aber Thrall schlug ihn brutal mit der Rückhand. Blut spritzte aus dem Mund des Orks.

»Die Wälder wimmeln von Hirschen und Hasen! Jedes Lager, das wir befreien, gibt uns neue Nahrung! Es ist nicht nötig, nur zu unserem persönlichen Vergnügen Menschen zu terrorisieren, die uns nichts getan haben. Ihr kämpft, wo ich euch befehle zu kämpfen und gegen wen ich euch befehle zu kämpfen, und wenn irgendein Ork je wieder einen unbewaffneten Menschen verletzt, werde ich ihm nicht vergeben. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Der Ork nickte. Die anderen Orks, die um das Lagerfeuer hockten, starrten Thrall mit großen Augen an und nickten ebenfalls.

Thrall sprach nun etwas weicher. »Dies ist das Verhalten der alten Horde, die von dunklen Hexern angeführt wurde, die keine Liebe für unser Volk empfanden. Dieser Weg hat uns in die Lager geführt und in die Trägheit, als uns die dämonische Energie entzogen wurde, von der wir uns so gierig genährt haben. Ich möchte nicht, dass wir irgendjemand anderem verpflichtet sind als uns selbst. Dieser Weg hat uns beinahe vernichtet. Wir werden frei sein. Zweifelt nicht daran. Aber wir werden frei sein, um das Volk zu sein, das wir in Wirklichkeit sind, und was wir in Wirklichkeit sind, ist viel, viel mehr als ein Volk von Menschenmördern. Die alten Wege gibt es nicht mehr. Wir kämpfen jetzt als stolze Krieger, nicht als grausame Schlächter. Es liegt kein Stolz darin, Kinder zu töten.«

Thrall wandte sich um und ging. Betäubtes Schweigen folgte ihm. Er hörte ein grollendes Lachen in der Dunkelheit, und plötzlich erschien Doomhammer neben ihm. »Du machst es dir unnötig schwer«, sagte der große Kriegshäuptling. »Es liegt ihnen im Blut zu töten.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Thrall. »Ich glaube, dass man uns manipulierte und aus edlen Kriegern Mörder formte, Marionetten, deren Fäden von Dämonen gezogen wurden – und von jenen aus unserem eigenen Volk, die uns verraten haben.«

»Es … es ist ein fürchterlicher Tanz«, erklang Hellscreams Stimme, so leise und schwach, dass Thrall sie beinahe nicht erkannte. »So missbraucht zu werden. Die Macht, die sie uns gaben … sie war wie der süßeste Honig, das saftigste Fleisch. Du hast Glück, Thrall, dass du niemals von diesem Brunnen getrunken hast. Und dann auf ihn verzichten zu müssen … Es ist beinahe … unerträglich.« Er schauderte.

Thrall legte eine Hand auf Hellscreams Schulter. »Und doch hast du es ertragen, tapferer Ork«, sagte er. »Dein Mut lässt den meinen so gering erscheinen.«

Hellscreams rote Augen leuchteten in der Dunkelheit, und in ihrem höllischen blutigen Licht konnte Thrall sehen, dass er lächelte. Es war in den frühen, finsteren Morgenstunden, als die neue Horde das fünfte Lager umzingelte.

Die Kundschafter kehrten zurück. »Die Soldaten sind wachsam«, berichteten sie Doomhammer. »Sie haben doppelt so viele Männer wie üblich auf den Mauern postiert, und sie haben viele Feuer entzündet, damit ihre schwachen Augen sehen können.«

»Und sie haben das Licht der vollen Monde«, sagte Doomhammer. Er blickte zu den silbern und blau-grün leuchtenden Scheiben hinauf. »Die weiße Dame und das blaue Kind sind heute Nacht nicht unsere Freunde.«

»Wir können nicht zwei Wochen warten«, sagte Hellscream. »Die Horde dürstet nach einer gerechten Schlacht, und wir müssen zuschlagen, so lange unsere Leute noch stark genug sind, um der dämonischen Trägheit zu widerstehen.«

Doomhammer nickte, doch er blickte weiterhin besorgt. Die Kundschafter fragte er: »Irgendwelche Anzeichen, dass sie einen Angriff erwarten?«

Eines Tages, das wusste Thrall, würde das Glück sie im Stich lassen. Sie hatten darauf geachtet, die Lager nicht nach einem bestimmten System auszusuchen, um es den Menschen unmöglich zu machen, zu erraten, wo sie als nächstes zuschlagen würden. So konnten sie nicht auf der Lauer liegen. Aber Thrall kannte Blackmoore und wusste, dass er ihm irgendwann, an irgendeinem Ort begegnen würde.

Und so sehr er sich wünschte, Blackmoore endlich im fairen Kampf gegenüberzustehen, wusste er doch, was das für die Truppen bedeuten würde. Um ihretwillen hoffte er, dass heute Nacht nicht bereits dieser Fall eintreten würde.

Die Kundschafter schüttelten die Köpfe.

»Dann lasst uns angreifen«, sagte Doomhammer, und schweigend flutete die grüne Woge den Hügel hinab und auf das Lager zu.

Sie hatten es fast erreicht, als die Tore aufflogen und Dutzende bewaffneter Männer auf Pferden herausstürmten. Thrall erkannte den schwarzen Falken auf der rot-goldenen Standarte und wusste, dass der Tag, den er gleichzeitig gefürchtet und erhofft hatte, gekommen war.

Hellscreams Schlachtruf durchschnitt die Nacht und ertränkte beinahe die Schreie der Menschen und das Donnern der Hufe. Die Horde schien sich von der Stärke des Feindes nicht entmutigen zu lassen. Tatsächlich wirkte sie von neuem Leben erfüllt und bereit, sich der Herausforderung zu stellen.

Thrall warf den Kopf zurück und brüllte seinen eigenen Schlachtruf. Das Gedränge war zu groß, als dass er solch große Mächte wie den Blitz und das Erdbeben hätte anrufen können, aber es gab andere, die er um Hilfe bitten konnte. Trotz eines geradezu überwältigenden Drangs, sich in die Schlacht zu stürzen und Mann gegen Mann zu kämpfen, hielt er sich zurück. Dafür war noch Zeit genug, nachdem er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um den Orks einen Vorteil zu verschaffen.

Er schloss die Augen, stemmte seine Füße fest ins Gras und rief den Geist der Wildnis. Ihm erschien ein großes, weißes Pferd, der Geist aller Pferde, und Thrall sprach seine Bitte aus.

Die Menschen benutzen deine Kinder, um uns zu töten. Auch sie sind in Gefahr. Wenn die Pferde ihre Reiter abwerfen, sind sie frei und können sich in Sicherheit bringen. Kannst du sie bitten, dies zu tun?

Das große Pferd dachte nach. Diese Kinder sind trainiert für den Kampf. Sie haben keine Angst vor Schwertern und Speeren.

Aber es ist nicht nötig, dass sie heute sterben, entgegnete Thrall. Wir wollen nur unsere Leute befreien. Es ist eine gerechte Sache, und deine Kinder sollten nicht im Kampf gegen uns sterben.

Wieder dachte der große Pferdegeist über Thralls Worte nach. Schließlich nickte er mit dem riesigen weißen Kopf.

Plötzlich geriet das Schlachtfeld in noch größere Unordnung, als jedes Pferd entweder kehrt machte und mit einem erschreckten und wütenden Menschen davon galoppierte oder sich auf die Hinterbeine erhob und seinen Reiter abwarf. Die Menschen kämpften darum, sich auf ihren Pferden zu halten, aber es war unmöglich.

Jetzt war es an der Zeit, den Geist der Erde um Hilfe zu bitten. Thrall stellte sich vor, wie die Wurzeln jenes Waldes, der das Lager umgab, ausgriffen, wuchsen und aus der Erde hervorbrachen. Bäume, die ihr uns Zuflucht gewährt habt … werdet ihr uns auch jetzt helfen?

Ja, kam die Antwort in seinem Geist. Thrall öffnete die Augen und bemühte sich zu sehen. Selbst mit seiner hervorragenden Nachtsicht war es schwierig auszumachen, was geschah. Aber er konnte es schwach erkennen.

Wurzeln stießen aus der harten Erde vor den Lagermauern hervor. Sie schossen aus dem Boden und packten die Männer, die von ihren Pferden gefallen waren. Sie wanden ihre bleichen Tentakel um die Menschen wie Netze, die sich um gefangene Orks schlossen. Zu Thralls Freude töteten die Orks die gefallenen Wachen nicht, als sie hilflos am Boden lagen. Stattdessen wandten sie sich anderen Zielen zu, drangen in das Lager ein und suchten nach ihren gefangenen Brüdern und Schwestern.

Eine weitere Feindeswelle stürmte heraus, Menschen zu Fuß. Die Bäume sandten ihre Wurzeln nicht ein zweites Mal aus; sie hatten alle Hilfe gegeben, die sie zu geben bereit waren. Trotz seiner Enttäuschung dankte Thrall ihnen und zermarterte sich das Gehirn, was er als nächstes tun sollte.

Er entschied, dass er alles getan hatte, was er als Schamane zu bewirken vermochte. Jetzt war es an der Zeit als Krieger zu handeln. Thrall packte das riesige Breitschwert, das ihm Hellscream geschenkt hatte, und stürmte den Hügel hinab, um seinen Brüdern zu helfen.

Noch nie in seinem Leben hatte Lord Karramyn Langston solche Angst empfunden.

Er war zu jung, um an den Schlachten im letzten Krieg zwischen Menschen und Orks Teil genommen zu haben, und hatte stets an jedem Wort gehangen, das sein Idol Lord Blackmoore von diesen Kämpfen erzählt hatte. Wenn Blackmoore von den Schlachten sprach, klang es so leicht wie die Jagd in den Wäldern um Durnholde, nur viel aufregender. Blackmoore hatte nichts von den Schreien und dem Stöhnen der Männer erzählt, dem Gestank von Blut und Fäkalien – und Orks! Tausende verschiedene Bilder griffen seine Augen gleichzeitig an. Nein, der Kampf gegen die Orks hatte wie ein herzerfrischender Spaß geklungen, nach dem man sich badete, einen Wein genoss und der Bewunderung durch die Frauen widmete.

Sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt. Sie waren auf die grünen Monster vorbereitet gewesen. Was war passiert? Warum waren die Pferde, jedes von ihnen ein gut trainiertes Tier, geflohen oder hatten ihre Reiter abgeworfen? Was für ein böser Zauber hatte die Erde dazu gebracht, ihre bleichen Arme auszustrecken und jene zu fesseln, die das Unglück hatten zu fallen? Woher kamen die schrecklichen weißen Wölfe? Und wie wussten sie, wen sie anzugreifen hatten?

Langston erhielt auf keine seiner Fragen eine Antwort. Er hatte den Befehl über die Truppe, aber jedes Gefühl, sie zu kontrollieren, war geschwunden, kaum dass diese schrecklichen Tentakel aus der Erde hervorgebrochen waren. Jetzt gab es nur noch reine Panik, die Geräusche von Schwert auf Schild oder Fleisch und die Schreie der Sterbenden.

Langston wusste nicht, gegen wen er gerade kämpfte. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, und er schwang sein Schwert blind, schreiend und schluchzend bei jedem wilden Schlag. Manchmal biss Langstons Schwert in Fleisch, doch meist hörte er nur, wie es die Luft durchschnitt. Er wurde allein von seinem Entsetzen angetrieben, und eine leise Stimme in seinem Kopf fragte sich, wie lange er das Schwert noch würde schwingen können.

Ein gewaltiger Schlag auf seinen Schild erschütterte seinen Arm bis hinauf zu den Zähnen. Irgendwie gelang es ihm, den Schutz hochzuhalten, während eine gigantische Kreatur von enormer Stärke darauf einhämmerte. Für einen kurzen Moment trafen Langstons Augen die seines Angreifers, und vor Schrecken klappte ihm der Mund auf.

»Thrall!«, schrie er.

Die Augen des Orks weiteten sich, als er ihn erkannte, und verengten sich dann in tödlicher Wut. Langston sah, wie sich eine riesige grüne Faust hob.

Dann wusste er nichts mehr.


Das Leben von Langstons Männern war Thrall egal. Sie standen zwischen ihm und der Befreiung der gefangenen Orks. Sie hatten sich in einen ehrlichen Kampf begeben, und wenn sie darin starben, so war es ihr Schicksal. Aber Langston wollte er lebend.

Er erinnerte sich an Blackmoores kleinen Schatten. Langston sagte niemals viel, blickte Blackmoore nur mit einem begeisterten Gesichtsausdruck an und Thrall mit einer Grimasse, die Ekel und Verachtung ausdrückte. Aber Thrall wusste, dass niemand seinem Feind näher stand als dieser jämmerliche Mann mit dem schwachen Willen, und obwohl er es nicht verdiente, würde Thrall dafür sorgen, dass Langston die Schlacht überlebte.

Er warf sich den bewusstlosen Captain über die Schulter und kämpfte sich zurück durch die dunkle Flut der fortdauernden Schlacht. Er eilte in den Schutz des Waldes und warf Langston am Fuß einer alten Eiche zu Boden wie einen Sack Kartoffeln. Er fesselte die Hände des Mannes mit dessen eigenem Bandelier. Bewache ihn gut, bis ich zurückkehre, bat er die alte Eiche. Als Antwort hoben sich die riesigen Wurzeln und schlossen sich unsanft um Langstons reglose Gestalt.

Thrall stürmte wieder zurück in die Schlacht. Sonst gelangen die Befreiungen mit erstaunlicher Schnelligkeit, aber nicht dieses Mal. Die Kämpfe dauerten noch immer an, als Thrall wieder zu seinen Kameraden stieß, und sie schienen endlos weiterzugehen. Aber die gefangenen Orks taten, was sie konnten, um der Freiheit entgegenzulaufen.

Es gelang Thrall, sich an den Menschen vorbei zu kämpfen, und er durchsuchte das Lager. Er fand mehrere Orks, die noch in Ecken kauerten. Zuerst wichen sie vor ihm zurück, und noch immer mit dem Feuer der Schlacht in seinem Blut, fiel es Thrall schwer, sanft zu ihnen zu sprechen. Trotzdem gelang es ihm, sie zu überreden, mit ihm zu kommen und den verzweifelten Ausbruch in die Freiheit an den kämpfenden Kriegern vorbei zu wagen.

Schließlich, als er sich sicher war, dass alle Insassen hatten fliehen können, kehrte er selbst in die Schlacht zurück. Er blickte sich um. Da war Hellscream, der mit all der Kraft und Leidenschaft eines Dämons kämpfte. Aber wo war Doomhammer? Normalerweise hätte der charismatische Kriegshäuptling inzwischen längst den Rückzug befohlen, damit sich die Orks neu formieren, die Verwundeten versorgen und den nächsten Angriff planen konnten.

Es war eine blutige Schlacht, und zu viele seiner Waffenbrüder waren bereits gefallen oder lagen im Sterben. Thrall nahm es als Stellvertretender Kommandeur auf seine Verantwortung zu schreien: »Rückzug! Rückzug!«

Verloren in ihrer Blutlust hörten ihn viele nicht. Thrall rannte von Krieger zu Krieger, wehrte Angriffe ab und schrie das Wort, das die Orks niemals gerne hörten, das aber so notwendig, so entscheidend lebenswichtig für ihre weitere Existenz war: »Rückzug! Rückzug!«

Seine Schreie durchdrangen schließlich den Nebel der Blutlust, und nach ein paar letzten Schwerthieben wandten sich die Orks ab und verließen entschlossen das Lager. Viele der menschlichen Ritter – denn es war klar, dass sie Ritter waren – eilten ihnen hinterher. Thrall wartete draußen und rief: »Los! Los!«

Die Orks waren größer, stärker und schneller als die Menschen, und als auch der letzte Krieger den Hügel hinauf in den Wald hetzte, wirbelte Thrall herum, stemmte seine Füße in dem stinkenden Schlamm aus Erde und Blut und rief schließlich den Geist des Bodens.

Die Erde antwortete. Der Grund unter dem Lager begann zu beben, und vor Thralls Augen brach die Erde auf und hob sich. Die mächtige Steinmauer, die das Lager umgab, brach in sich zusammen. Schreie drangen an Thralls Ohren, nicht Kampfschreie oder Beschimpfungen, sondern Schreie purer Angst. Er wappnete sich gegen eine plötzliche Anwandlung von Mitleid. Diese Ritter kämpften unter Blackmoores Befehl. Es war mehr als wahrscheinlich, dass man sie angewiesen hatte, so viele Orks wie möglich zu töten, alle gefangen zu nehmen, die sie nicht töteten, und Thrall dingfest zu machen, um ihn wieder der Sklaverei zuzuführen. Sie hatten sich entschieden, diesen Befehlen zu gehorchen, und dafür würden sie mit dem Leben bezahlen.

Die Erde bebte. Die Schreie erstarben unter dem schrecklichen Tumult einstürzender Gebäude und zerberstenden Steins. Und dann – beinahe so schnell, wie er gekommen war – erstarb der Lärm.

Thrall stand da und betrachtete die Ruine, die einst ein Lager gewesen war, in dem man sein Volk wie Tiere gehalten hatte. Leise hörte er unter den Trümmern Männer stöhnen, aber Thrall verhärtete sein Herz. Seine eigenen Leute waren verwundet, stöhnten. Er würde sich um sie kümmern.

Er nahm sich einen Moment Zeit, um die Augen zu schließen und der Erde seine Dankbarkeit auszudrücken. Dann wandte er sich um und eilte zum Sammelpunkt seiner Leute.

Die Zeit nach der Schlacht war stets chaotisch, aber dieses Mal hatte Thrall das Gefühl, dass der Tumult sogar noch unorganisierter war als üblich. Während er den Hügel hinaufrannte, kam ihm Hellscream entgegen.

»Es ist Doomhammer«, krächzte Hellscream. »Du musst dich beeilen.«

Thralls Herz setzte einen Schlag aus. Nicht Doomhammer. Sicher konnte er nicht in Gefahr sein … Er folgte Hellscream, der ihm den Weg durch eine dichte Traube schwatzender Orks wies, und stand plötzlich vor Orgrim Doomhammer, der seitlich gegen den Stamm eines Baumes gelehnt lag.

Thrall keuchte entsetzt auf. Mindestens zwei Fuß einer gebrochenen Lanze ragten aus Doomhammers breitem Rücken hervor. Während Thrall von dem Anblick für einen Moment wie gelähmt war, versuchten die beiden persönlichen Diener Doomhammers die runde Brustplatte zu lösen. Jetzt konnte Thrall sehen, wie aus dem schwarzen Gambeson, der die schwere Rüstung auspolsterte, die rote, glitzernde Spitze der Lanze hervorragte. Sie war mit solcher Macht in Doomhammer eingedrungen, dass sie die schwarze Rückenplatte vollkommen durchbohrt, den Körper des Orks glatt durchfahren und die Brustplatte von innen ausgedellt hatte.

Drek’Thar kniete neben Doomhammer und wandte Thrall die blinden Augen zu. Er schüttelte leicht den Kopf, dann erhob er sich und trat zurück.

Das Blut rauschte in Thralls Ohren, und er hörte nur undeutlich, wie der mächtige Krieger seinen Namen sprach. Stolpernd näherte sich Thrall und kniete neben Doomhammer nieder.

»Die Hand eines Feiglings hat das getan«, krächzte Doomhammer. Blut tröpfelte aus seinem Mund. »Ich wurde von hinten angegriffen.«

»Mylord«, sagte Thrall elend. Doomhammer winkte ihm zu schweigen.

»Ich brauche deine Hilfe, Thrall. In zwei Dingen. Du musst die Mission weiterführen, die wir begonnen haben. Einst habe ich die Horde angeführt. Es ist nicht mein Schicksal, dies wieder zu tun.« Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er erzitterte, dann fuhr er fort: »Dein ist der Titel des Kriegshäuptlings, Thrall, Sohn des Durotan. Du wirst meine Rüstung tragen und meinen Hammer führen.«

Doomhammer streckte eine Hand nach Thrall aus, und Thrall ergriff sie. »Du weißt, was du zu tun hast. Ihr Schicksal ruht jetzt in deinen Händen. Ich hätte mir … keinen besseren Erben wünschen können. Dein Vater wäre so stolz gewesen … Hilf mir …«

Mit zitternden Händen half Thrall den beiden jüngeren Orks, Stück für Stück die Rüstung zu entfernen, die stets auch ein Symbol für Orgrim Doomhammer gewesen war. Aber die Lanze, die noch immer aus Orgrims Rücken hervor ragte, verhinderte, dass sie die Rüstung vollständig abnehmen konnten.

»Das ist die zweite Sache«, knurrte Doomhammer. Eine kleine Menge hatte sich um den gefallenen Helden versammelt, und mit jeder Sekunde wurden es mehr Orks. »Es ist Schande genug, dass ich durch den Angriff eines Feiglings sterbe«, sagte er, »aber ich werde nicht aus dem Leben gehen, während noch dieses Stück menschlichen Verrats in meinem Körper steckt.« Eine Hand näherte sich der Spitze der Lanze. Die Finger zuckten schwach. Die Hand fiel nieder. »Ich habe versucht, sie selbst herauszuziehen, doch mir fehlt die Kraft … Schnell, Thrall. Tu dies für mich.«

Thrall fühlte sich, als würde sein Brustkorb von einer unsichtbaren Hand zusammengedrückt. Er nickte. Er wappnete sich gegen den Schmerz, den er seinem Freund und Mentor zufügen musste, schloss die Finger um die Spitze der Lanze, drückte gegen Doomhammers Fleisch …

Und Doomhammer schrie. Vor Wut ebenso sehr wie vor Schmerz. »Zieh!«, schrie er.

Thrall schloss die Augen und zog. Der blutgetränkte Schaft kam ein paar Zoll heraus. Das Stöhnen, das über Doomhammers Lippen drang, wollte Thrall das Herz brechen.

»Noch mal!«, schrie der mächtige Krieger. Thrall atmete tief ein und zog mit dem festen Willen, dieses Mal den ganzen Schaft herauszuziehen, und dieser kam mit solcher Plötzlichkeit frei, dass Thrall rückwärts taumelte.

Schwarzrotes Blut schoss wie ein Strom aus dem tödlichen Loch in Doomhammers Bauch. Hellscream stand neben Thrall und flüsterte: »Ich sah, wie es passierte. Es war, bevor du die Pferde dazu brachtest, ihre Herren im Stich zu lassen. Er kämpfte allein gegen acht von ihnen, alle beritten. Es war der tapferste Kampf, den ich jemals gesehen habe.«

Thrall nickte wie betäubt. Dann kniete er wieder an Doomhammers Seite. »Großer Anführer«, flüsterte Thrall, so dass nur Doomhammer es hören konnte, »ich habe Angst. Ich bin nicht würdig, Eure Rüstung zu tragen und Eure Waffe zu führen.«

»Niemand atmet, der würdiger wäre«, erklärte Doomhammer mit leiser, schwacher Stimme. »Du wirst sie führen … in den Sieg … und du wirst sie … in den Frieden fuhren …«

Die Augen des großen Orks schlossen sich, und Doomhammer fiel nach vorne auf Thrall. Thrall fing ihn auf und drückte ihn lange an sich. Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter. Es war Drek’Thar. Der alte Schamane griff Thrall unter den Arm und half ihm auf.

»Sie haben alles gesehen«, sagte Drek’Thar zu Thrall und sprach dabei sehr leise. »Sie dürfen jetzt nicht den Mut verlieren. Du musst sofort die Rüstung anlegen und ihnen zeigen, dass sie einen neuen Häuptling haben.«

»Herr«, sagte einer der Orks, der Drek’Thars Worte mitbekommen hatte, »die Rüstung …« Er schluckte. »Die Platte, die durchstoßen wurde – wir werden sie ersetzen müssen.«

»Nein«, erklärte Thrall bestimmt, »das werden wir nicht tun. Vor der nächsten Schlacht werdet ihr sie wieder in Form hämmern, aber ich werde die Platte behalten. Zu Ehren von Orgrim Doomhammer, der sein Leben gab, um sein Volk zu befreien.«

Er richtete sich zu voller Größe auf und ließ sich die Rüstung anlegen. Während er in seinem Herzen trauerte, zeigte er den anderen ein tapferes Gesicht. Schweigend und ehrfürchtig sah die versammelte Menge zu. Drek’Thars Rat war weise gewesen. Dies war jetzt das Richtige zu tun. Er beugte sich herab, nahm den riesigen Hammer auf und schwang ihn über seinem Kopf.

»Orgrim Doomhammer hat mich zum Kriegshäuptling ernannt«, rief er. »Es ist ein Titel, den ich nicht gesucht habe, aber ich habe keine Wahl. Ich wurde ernannt, und ich werde gehorchen. Wer wird mir folgen und unser Volk mit mir in die Freiheit führen?«

Ein Schrei erhob sich aus vielen Kehlen, rau und voller Trauer um den Tod ihres Führers. Doch es war auch ein Schrei der Hoffnung, und während Thrall dastand und die berühmte Waffe Doomhammers empor hob, wusste er in seinem Herzen, dass trotz aller Widrigkeiten der Sieg tatsächlich ihnen gehören würde.

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