Die Tage wurden zu Wochen, und Thrall begann, das Vergehen der Zeit nicht mehr an den Sonnenaufgängen zu messen, sondern an den Schneefällen. Bald war das Trockenfleisch, das der Warsong-Clan ihm mitgegeben hatte, verbraucht, obwohl er es sehr sparsam rationierte. Die Fallen hatten nur gelegentlich Erfolg, und je höher er kam, desto weniger Tiere fing er darin.
Wenigstens Wasser war kein Problem. Überall gab es eisige Bäche und später dann dicke, weiße Schneewehen. Mehr als einmal wurde er von einem plötzlichen Sturm überrascht und vergrub sich im Schnee, bis das Unwetter vorüber war. Jedes Mal hoffte er verzweifelt, dass es ihm gelingen würde, sich später wieder aus dem tückischen Weiß herauszugraben.
Die winterliche Bergwelt begann ihren grimmigen Tribut zu fordern. Thralls Bewegungen wurden langsamer und langsamer, und mehr als einmal legte er sich zur Ruhe und wäre beinahe nicht wieder aufgestanden. Die Nahrung ging ihm aus, und weder Hasen noch Murmeltiere waren so unvorsichtig, sich in seinen Fallen zu verfangen. Dass es hier überhaupt tierisches Leben gab, wusste er nur, weil er gelegentlich Spuren im Schnee fand und nachts das unheimliche Heulen ferner Wölfe hörte. Er begann, Blätter und Baumrinde zu essen, um seinen rumorenden Magen zu beruhigen.
Der Schnee kam und ging. Blauer Himmel erschien, verdunkelte sich und bewölkte sich wieder, bevor neuer Schnee fiel. Thrall begann zu verzweifeln. Er wusste nicht einmal, ob er in die richtige Richtung unterwegs war, um auf die Eiswölfe zu treffen. Er setzte stetig einen Fuß vor den anderen, stur entschlossen, sein Volk zu finden oder in diesen unwirtlichen Bergen zu sterben.
Sein Geist begann, ihm üble Dinge vorzugaukeln. Von Zeit zu Zeit erhob sich beispielsweise Aedelas Blackmoore aus einer Schneewehe, beschimpfte ihn und schwang ein Breitschwert. Thrall konnte sogar den Wein im Atem der Erscheinung riechen. Sie kämpften. Thrall fiel. In seiner Erschöpfung war er unfähig, Blackmoores letzten Hieb abzuwehren. Erst dann verschwand der Schatten, und aus dem verabscheuten Bild wurde der harmlose Umriss eines Felsens oder eines knorrigen Baumes.
Andere Bilder waren angenehmer. Manchmal kam Hellscream, um ihn zu retten, und bot ihm ein warmes Feuer an, das verschwand, sobald Thrall seine Hände danach ausstreckte. Manchmal war sein Retter Sergeant, der sich darüber beklagte, dass er verlorene Kämpfer aufspüren müsse, und der ihm einen dicken, warmen Mantel anbot. Seine süßesten und zugleich bittersten Halluzinationen aber waren jene, in denen Tari erschien, Mitgefühl in ihren großen, blauen Augen und tröstende Worte auf ihren Lippen. Manchmal konnte er sie fast berühren, bevor sie vor seinem sehnenden Blick verschwand.
Weiter und weiter kämpfte er sich, bis er eines Tages einfach nicht mehr konnte. Er tat einen Schritt und hatte die feste Absicht, den nächsten zu tun und auch den danach – als sein Körper ihn im Stich ließ und er nach vorne fiel. Sein Geist befahl seinem erschöpften, halb erfrorenen Leib, sich zu erheben, aber das Fleisch verweigerte den Gehorsam. Der Schnee fühlte sich jetzt gar nicht mehr kalt an. Er war … warm … und weich. Seufzend schloss Thrall die Augen.
Ein Geräusch brachte ihn dazu, sie wieder zu öffnen, aber er blickte diese neue Schimäre seine Geistes ohne großes Interesse an. Dieses Mal handelte es sich um ein Rudel von Wölfen, die fast so weiß waren, wie der Schnee, der ihn umgab. Sie hatten einen Ring um ihn gebildet und warteten schweigend. Thrall fragte sich beiläufig, wie dieses Schauspiel ausgehen würde. Würden sie ihn angreifen, nur um wieder zu verschwinden? Oder würden sie ausharren, bis die Bewusstlosigkeit ihn übermannte?
Drei dunkle Gestalten ragten hinter den Wolfserscheinungen auf. Sie gehörten nicht zu den Personen, die ihn schon zuvor heimgesucht hatten. Von Kopf bis Fuß in dichte Felle gehüllt, sahen sie warm aus, aber nicht so warm, wie Thrall sich fühlte. Ihre Gesichter lagen im Schatten fellbesetzter Kapuzen, aber er sah breite Kiefer. Das und ihre Größe gab sie als Orks zu erkennen.
Diesmal war er wütend auf seinen Geist. Er hatte sich an die anderen Halluzinationen gewöhnt. Jetzt aber fürchtete er, er würde sterben, bevor er herausfinden konnte, was diese Fantasiegebilde mit ihm vorhatten.
Er schloss die Augen und wusste nichts mehr.
»Ich glaube, er ist wach.« Die Stimme war sanft und hoch. Thrall regte sich und öffnete die schweren Augenlider.
Er blickte in das Gesicht eines Ork-Kindes, das ihn mit offener Neugierde musterte. Thralls Augen öffneten sich weiter, um den kleinen Jungen genauer zu betrachten. Im Warsong-Clan hatte es keine Kinder gegeben. Fürchterliche Schlachten und Krankheiten hatten sie nach und nach dezimiert, und Grom hatte erzählt, dass die Kinder als erste von ihnen gegangen waren.
»Hallo«, sagte Thrall auf Orkisch. Das Wort kam nur als ein raues Krächzen heraus, und der Junge sprang zurück. Dann lachte er.
»Er ist wirklich wach«, rief er und huschte davon. Ein weiterer Ork trat in Thralls Blickfeld. Zum zweiten Mal in ebenso vielen Minuten sah Thrall eine neue Art von Ork, erst jenen sehr jungen und jetzt einen, der offensichtlich schon viele, viele Winter gesehen hatte.
Fasziniert studierte Thrall das Gesicht des Greises. Die Kinnbacken hingen herab, die Zähne waren noch gelber als Thralls eigene; viele von ihnen fehlten oder waren abgebrochen. Die Augen hatten eine seltsam milchige Farbe, und Thrall konnte keine Pupillen in ihnen erkennen. Der Rücken des Orks war gebeugt, was ihn fast so klein machte wie das Kind, aber Thrall schreckte instinktiv vor der machtvollen Ausstrahlung dieses alten Mannes zurück.
»Hmpf«, machte der alte Ork. »Dachte schon, du würdest sterben, junger Mann.«
»Tut mir leid, dich enttäuscht zu haben«, antwortete Thrall leicht verärgert.
»Unser Ehrenkodex befiehlt uns, jenen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen«, fuhr der Ork fort, »aber es ist einfacher, wenn sich unsere Hilfe als fruchtlos erweist. Ein Maul weniger zu stopfen.«
Thrall war erstaunt über die harten Worte, aber er entschied sich, nichts darauf zu erwidern.
»Mein Name ist Drek’Thar. Ich bin der Schamane der Eiswölfe und ihr Beschützer. Wer bist du?«
Ein leises Lachen klang in Thralls Geist auf, als er sich vorstellte, dieser runzlige Alte solle der Beschützer der Eiswölfe sein. Er versuchte sich aufzusetzen und erschrak, als er brutal aufs Bett zurückgeworfen wurde. Es war als hätten ihn unsichtbare Hände niedergestoßen. Er blickte zu Drek’Thar und sah, dass der alte Mann die Haltung seiner Finger leicht verändert hatte.
»Ich habe dir nicht erlaubt aufzustehen«, sagte Drek’Thar mit ruhiger Stimme. »Beantworte meine Frage, Fremder, wenn du nicht willst, dass ich unsere Gastfreundschaft noch einmal überdenke.«
Thrall blickte den Alten mit neuem Respekt an und erklärte: »Mein Name ist Thrall.«
Drek’Thar spuckte aus. »Thrall! Ein Menschenwort und außerdem ein Wort, das Unterwerfung bedeutet.«
»Ja«, sagte Thrall, »ein Wort, das in ihrer Zunge ›Sklave‹ bedeutet. Aber ich bin nicht länger ein Sklave, obwohl ich den Namen behalte, damit er mich meiner Pflichten gemahnt. Ich bin meinen Ketten entkommen und will meine wahre Geschichte erfahren.« Ohne nachzudenken, versuchte Thrall ein weiteres Mal aufzustehen und wurde wieder niedergestoßen. Dieses Mal sah er, wie die knorrigen alten Hände leicht zuckten.
Vor ihm stand ein mächtiger Schamane.
»Unsere Wolfsfreunde haben dich im Schneesturm gefunden. Wie bist du hierher gekommen?«, verlangte Drek’Thar zu wissen. Er blickte dabei von Thrall fort, und dieser erkannte, dass der Alte blind war.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«
Thrall musste lachen. Er mochte diesen griesgrämigen, alten Kerl. Er hörte auf, sich gegen die unerbittliche Kraft zu wehren, die ihn flach auf dem Rücken hielt, und erzählte seine Geschichte. Wie Blackmoore ihn als Baby gefunden hatte, wie er ihn aufgezogen und ihm Kämpfen und Lesen beigebracht hatte. Er erzählte dem Schamanen von Taris Freundlichkeit, von der Trägheit der Orks in den Lagern, schließlich von seiner Begegnung mit Hellscream, der ihn den Weg des Kriegers und die Sprache seines Volkes gelehrt hatte.
»Hellscream war es, der mir sagte, die Eiswölfe seien mein Clan«, schloss er. »Er erkannte es an einem kleinen Stück Stoff, in das ich als Kind gewickelt war. Ich kann es dir zeigen …« Dann brach er beschämt ab. Natürlich konnte er Drek’Thar überhaupt nichts »zeigen«.
Er erwartete, dass der Schamane über diese Bemerkung in Wut ausbrechen würde, doch stattdessen streckte Drek’Thar die Hand aus. »Gib es mir.«
Der Druck auf seine Brust ließ nach, und Thrall konnte sich aufsetzen. Er griff in sein Bündel neben der Eiswolf-Decke und reichte das zerfetzte Tuch wortlos dem Schamanen.
Drek’Thar nahm es in beide Hände und presste es an seine Brust. Er murmelte leise Worte, die Thrall nicht verstehen konnte. Dann nickte er.
»Es ist, wie ich es mir gedacht hatte«, sagte er und seufzte schwer. Er gab Thrall das Tuch zurück. »Der Stoff besitzt tatsächlich das Muster der Eiswölfe, und er wurde von der Hand deiner Mutter gewoben. Wir dachten, du seiest tot.«
»Wie konntest du erkennen, dass …« Und dann verstand Thrall plötzlich, was Drek’Thar gesagt hatte. Hoffnung ergriff ihn. »Du kennst meine Mutter? Meinen Vater? Du weißt, wer ich bin?«
Drek’Thar hob seinen Kopf und blickte Thrall mit blinden Augen an. »Du bist das einzige Kind Durotans, unseres früheren Häuptlings, und seiner tapferen Gefährtin Draka.« Bei einem herzhaften Eintopf aus Fleisch und Wurzeln erzählte Drek’Thar Thrall den Rest seiner Geschichte, zumindest so viel, wie er selbst wusste. Er hatte den jungen Ork in seine Höhle genommen, und am hell brennenden Feuer in dicke Fellmäntel gehüllt, saßen der alte Schamane und der junge Krieger warm und bequem. Palkar, Drek’Thars kleiner Diener, der so gewissenhaft gewesen war, ihm Bescheid zu geben, als Thrall erwachte, schöpfte den Eintopf in eine kleine hölzerne Schale und drückte sie sanft in die Hände des Alten.
Der Ork machte eine Pause in seiner Erzählung und aß. Palkar saß still daneben. Die einzigen Geräusche in der Höhle waren das Knistern des Feuers und das langsame, tiefe Atmen von Wiseear, Drek’Thars Wolfsgefährten. Es war eine schwierige Geschichte für Drek’Thar, und er hatte nicht geglaubt, sie jemals wieder erzählen zu müssen.
»Kein Eiswolf besaß so viel Ehre wie deine Eltern. Sie verließen uns vor vielen Wintern auf einer dringenden Mission und kehrten niemals zurück. Wir wussten nicht, was mit ihnen geschehen war … bis heute.« Er zeigte in Richtung des Tuchs. »Das Gewebe des Stoffes hat es mir erzählt. Sie wurden ermordet, und du hast überlebt, um von Menschen aufgezogen zu werden.«
Der Stoff lebte nicht, aber er war aus der Wolle der weißen Ziegen gemacht, die in den Bergen ihr Dasein fristeten. Da das Tuch einst Teil eines lebenden Wesens gewesen war, besaß es eine Art eigene Seele. Es konnte keine Einzelheiten erzählen, aber es sprach von dem Blut, das vergossen worden war und es mit dunklen, roten Tropfen bespritzt hatte. Es erzählte Drek’Thar auch ein wenig über Thrall und bestätigte, was der junge Ork berichtet hatte.
Zugleich spürte Drek’Thar Thralls Zweifel, dass der Tuchfetzen zu ihm »gesprochen« haben könnte.
»Was war das für eine Mission, die meine Eltern das Leben kostete?«, wollte der junge Ork wissen.
Aber das war ein Wissen, das Drek’Thar noch nicht bereit war, mit ihm zu teilen. »Ich werde es dir sagen, wenn es an der Zeit ist. Vielleicht. Aber jetzt hast du mich in eine schwierige Lage gebracht, Thrall. Du bist im Winter gekommen, der grausamsten aller Jahreszeiten, und als deine Clan-Brüder und -Schwestern müssen wir dich aufnehmen. Das bedeutet aber nicht, dass wir dich wärmen, füttern und beschützen, ohne dass es dich etwas kostet.«
»Ich hatte auch nicht erwartet, so behandelt zu werden«, erklärte Thrall. »Ich bin stark. Ich kann hart arbeiten, bei der Jagd helfen. Ich kann euch etwas über die Wege der Menschen lehren, damit ihr besser darauf vorbereitet seid, gegen sie zu kämpfen. Ich kann …«
Drek’Thar hob eine seiner Hände befehlend und brachte Thralls eifrige Zunge zum Schweigen. Er lauschte. Das Feuer sprach zu ihm. Er lehnte sich näher an die Flammen heran, um die Worte besser verstehen zu können.
Drek’Thar war erstaunt. Das Feuer war das undisziplinierteste aller Elemente. Es ließ sich kaum dazu herab, ihm zu antworten, wenn er es, nachdem er alle Rituale vollzogen hatte, um es zu besänftigen, anrief. Und jetzt sprach das Feuer zu ihm … über Thrall!
Er sah in seinem Geist Bilder des tapferen Durotan und der schönen und wilden Draka. Ich vermisse euch, meine alten Freunde, dachte er. Und nun kehrt euer Blut zu mir zurück, in der Gestalt eures Sohnes. Ein Sohn, von dem der Geist des Feuers gut spricht. Aber ich kann ihm nicht einfach den Mantel der Führerschaft um die Schultern legen. Er ist jung, ungeprüft und … von den Menschen beschmutzt!
»Seit dein Vater uns verlassen hat, bin ich der Führer der Eiswölfe«, sagte Drek’Thar. »Ich nehme dein Angebot an, dem Clan zu helfen, Thrall, Sohn des Durotan. Aber du wirst dir deinen Platz unter uns verdienen müssen.«
Sechs Tage später, als Thrall sich durch einen Schneesturm kämpfte, um zum Lager des Clans zurückzukehren – er schleppte ein großes Tier, das er und die Eiswölfe erjagt hatten, über dem Rücken –, fragte er sich, ob das Leben in Sklaverei nicht doch einfacher gewesen war.
Sobald ihn dieser Gedanke heimsuchte, verbannte er ihn auch sogleich wieder. Er war jetzt bei seinen eigenen Leuten, obwohl sie ihm mit einer gewissen Feindseligkeit und nur widerwilliger Gastfreundschaft entgegen traten. Stets war er der Letzte, der zu essen bekam. Selbst die Wölfe fraßen ihren Anteil vor Thrall. Er bekam den kältesten Platz zum Schlafen, den dünnsten Mantel, die schlechtesten Waffen, die schwersten Aufgaben. Er nahm diese Behandlung demütig hin und erkannte sie als das, was sie war: eine Prüfung, um sicherzustellen, dass er nicht zu den Eiswölfen gekommen war, damit sie ihn bedienten wie einen König, wie einen … Blackmoore.
Also bedeckte er die Abfallgruben, häutete die Tiere, sammelte Brennholz und tat alles, was man von ihm verlangte, ohne sich zu beklagen. Wenigstens hatte er die weißen Wölfe, die ihm jetzt im Schneesturm Gesellschaft leisteten.
Eines Abends hatte er Drek’Thar nach der Verbindung zwischen den Wölfen und den Orks gefragt. Er war natürlich mit gezähmten Tieren vertraut, aber diese Beziehung schien etwas anderes zu sein und tiefer zu gehen.
»So ist es«, antwortete Drek’Thar. »Die Wölfe sind nicht gezähmt, nicht so, wie du das Wort verstehst. Sie sind zu unseren Freunden geworden, weil wir sie eingeladen haben. Das gehört zu den Aufgaben eines Schamanen. Wir besitzen eine Verbindung zu den Dingen der natürlichen Welt und versuchen, stets in Harmonie mit ihnen zu leben. Es hilft uns, wenn die Wölfe unsere Gefährten sind, mit uns jagen, uns warm halten, falls die Felle nicht reichen und uns auf Fremde aufmerksam machen, wie sie es bei dir taten. Du wärst gestorben, wenn unsere Wolfsfreunde dich nicht gefunden hätten. Und im Gegenzug sorgen wir dafür, dass sie gut genährt werden, dass ihre Verletzungen heilen, und ihre Jungen müssen die mächtigen Windadler nicht fürchten, die die Berge in eben den Zeiten heimsuchen, wenn die Wölfe gebären.
Wir sind einen ähnlichen Pakt mit den Ziegen eingegangen, obwohl sie nicht so weise sind wie die Wölfe. Sie geben uns ihre Wolle und ihre Milch, und wenn wir große Not leiden, dann opfert eine von ihnen ihr Leben. Dafür beschützen wir sie. Es steht ihnen frei, den Pakt jederzeit zu brechen, aber in den letzten dreißig Jahren hat es keine von ihnen getan.«
Thrall konnte nicht glauben, was er da hörte. Das war wirklich eine sehr starke Magie. »Aber du gehst auch mit anderem als Tieren Verbindungen ein, nicht wahr?«
Drek’Thar nickte. »Ich kann den Schnee und den Wind und den Blitz anrufen. Die Bäume beugen sich vor mir, wenn ich sie darum bitte. Die Flüsse fließen dort, wohin zu fließen ich sie bitte.«
»Wenn deine Macht so groß ist, warum lebt der Clan dann weiterhin an einem so unwirtlichen Ort?«, fragte Thrall. »Wenn das, was du sagst, stimmt, dann könntest du diese unfruchtbaren Berggipfel in einen grünen Garten verwandeln. Der Stamm müsste nie wieder mühsam nach Nahrung suchen, seine Feinde würden ihn niemals finden …«
»Und ich würde das Abkommen mit den Elementen verletzen, und kein Teil der Natur würde mir jemals wieder antworten!«, bellte Drek’Thar. Thrall wünschte sich, er hätte seine Worte zurücknehmen können, aber es war zu spät. Er hatte den Schamanen offenbar sehr verärgert. »Versteht du gar nichts? Haben die Menschen ihre gierigen Klauen so tief in deinen Geist versenkt, dass du nicht sehen kannst, was im Herzen der Macht eines Schamanen liegt? Ich erhalte diese Dinge, weil ich darum bitte, mit Respekt im Herzen, und ich bin bereit, im Gegenzug etwas dafür anzubieten. Ich bitte nur um das Allernötigste für mich und mein Volk. Manchmal bitte ich um große Dinge, aber nur, wenn es um eine gute und gerechte Sache geht. Im Gegenzug danke ich diesen Mächten, denn ich weiß, dass ihre Gaben nur geliehen sind, niemals gekauft. Sie kommen zu mir, weil sie sich dafür entschieden haben, nicht weil ich es verlange! Sie sind keine Sklaven, Thrall. Sie sind mächtige Wesenheiten, die aus ihrem eigenen freien Willen zu mir kommen. Sie sind die Gefährten meiner Magie, nicht meine Diener. Ach!« Er knurrte und wandte sich von Thrall ab. »Du wirst es nie verstehen.«
Viele Tage lang sprach er nicht mit Thrall. Thrall tat weiterhin die geringeren Arbeiten, aber es schien ihm, als entferne er sich langsam immer mehr von den Eiswölfen, statt ihnen näher zu kommen. Eines Abends bedeckte er die Abfallgruben, als einer der jüngeren Männer ihm zurief: »Sklave!«
»Mein Name ist Thrall«, entgegnete Thrall finster.
Der andere Ork zuckte die Schultern. »Thrall, Sklave. Das bedeutet das Gleiche. Mein Wolf ist krank und hat sein Lager schmutzig gemacht. Mach es sauber!«
Thrall knurrte tief in der Kehle. »Mach es selbst sauber. Ich bin nicht dein Diener. Ich bin ein Gast der Eiswölfe«, erwiderte er.
»Ach wirklich? Mit einem Namen, der Sklave bedeutet? Hier, Menschenjunge, fang auf!« Er warf ihm eine Decke zu, und sie lag auf Thrall, bevor er reagieren konnte. Kalte Feuchtigkeit klebte an seinem Gesicht, und es stank nach Urin.
Etwas in ihm brach heraus. Rote Wut ergriff Besitz von ihm, und er brüllte vor Empörung. Er riss die schmutzige Decke von seinem Leib und ballte seine Fäuste. Er begann mit den Füßen zu stampfen, rhythmisch, wütend, wie er es vor so langer Zeit im Ring getan hatte. Nur dass ihm hier keine Menge applaudierte. Stattdessen umstand ihn ein kleiner Kreis von plötzlich sehr still gewordenen Orks, die ihn anstarrten.
Der junge Ork reckte stur sein Kinn vor. »Ich sagte, mach es sauber, Sklave!«
Thrall brüllte und sprang. Der junge Mann ging zu Boden, aber nicht, ohne sich zu wehren. Thrall fühlte nicht, wie sich sein Fleisch unter scharfen, schwarzen Nägeln teilte. Er fühlte nur die Wut, die Empörung. Er war niemandes Sklave.
Dann zogen die anderen ihn von dem jungen Ork fort und warfen ihn in eine Schneebank. Die plötzliche kalte Nässe brachte ihn wieder zu Sinnen, und er erkannte, dass er sich jede Chance verdorben hatte, von diesen Leuten angenommen zu werden. Der Gedanke schmetterte ihn nieder. Er saß hüfttief im Schnee und starrte zu Boden. Er hatte versagt. Es gab keinen Ort, an den er gehörte.
»Ich hatte mich schon gefragt, wie lange du brauchen würdest«, sagte Drek’Thar. Thrall blickte matt auf und sah den blinden Schamanen vor sich stehen. »Es hat mich wirklich überrascht, dass du so lange durchgehalten hast.«
Langsam stand Thrall auf. »Ich habe mich gegen meine Gastgeber gewandt«, sagte er mit schwerer Stimme. »Ich werde gehen.«
»Das wirst du nicht«, sagte Drek’Thar. Thrall starrte ihn an. »Meine erste Prüfung wollte herausfinden, ob du zu arrogant bist, um darum zu bitten, einer von uns zu werden. Wenn du gekommen wärst und die Häuptlingswürde als dein Erbe verlangt hättest, hätten wir dich fort geschickt – und dir unsere Wölfe hinterher gejagt, um sicherzustellen, dass du nicht zurück kommst. Du musstest erst demütig sein, bevor wir dich bei uns aufnehmen konnten.
Aber wir können niemanden akzeptieren, der zu lange unterwürfig bleibt. Wenn du Uthuls Beleidigungen ertragen hättest, wärst du kein wahrer Ork gewesen. Es freut mich zu sehen, dass du sowohl demütig als auch stolz bist, Thrall.«
Sanft legte Drek’Thar eine knotige Hand auf Thralls muskulösen Arm. »Beide Eigenschaften sind notwendig für einen, der dem Weg des Schamanen folgen will.«