54. Abschiedsworte

Nun werde ich zum letztenmal mit dir sprechen, Evelyn, ehe ich meinen längsten Schlaf beginne. Ich bin noch auf Thalassa, aber in ein paar Minuten wird die Fähre abheben und mich zur ‚Magellan‘ bringen; für mich gibt es nichts mehr zu tun — bis wir in dreihundert Jahren den Planeten erreichen…

Ich verspüre eine große Traurigkeit, denn soeben habe ich Mirissa Leonidas, meiner besten Freundin hier, Lebewohl gesagt. Wie hätte es dir gefallen, sie kennenzulernen! Sie ist vielleicht der intelligenteste Mensch, der mir auf Thalassa begegnet ist, und wir hatten viele lange Gespräche — wenn ich auch befürchte, daß manche davon mehr den Monologen ähnelten, für die du mich so oft kritisiert hast…

Sie hat natürlich nach Gott gefragt; aber ihre scharfsinnigste Frage war vielleicht eine, die ich überhaupt nicht beantworten konnte. Bald nachdem ihr geliebter jüngerer Bruder ums Leben kam, fragte sie mich: „Welchen Zweck hat der Kummer? Hat er irgendeine biologische Funktion?“

Wie sonderbar, daß ich mir darüber niemals ernsthaft Gedanken gemacht hatte! Man könnte sich eine perfekt funktionierende, intelligente Spezies vorstellen, in der der Toten ohne Gefühle gedacht würde — wenn ihrer überhaupt gedacht würde. Es wäre eine völlig unmenschliche Gesellschaft, aber sie könnte mindestens genauso erfolgreich sein, wie es die Termiten und die Ameisen auf der Erde waren.

Könnte der Kummer ein zufälliges — sogar pathologisches — Nebenprodukt der Liebe sein, die natürlich durchaus eine wesentliche, biologische Funktion hat? Das ist ein seltsamer, verwirrender Gedanke. Aber es sind doch unsere Gefühle, die uns zu Menschen machen; wer würde sie aufgeben wollen, selbst wenn er wüßte, daß jede neue Liebe nur eine weitere Geisel für jene terroristischen Zwillinge Zeit und Schicksal ist?

Sie hat oft mit mir über dich gesprochen, Evelyn. Sie konnte nicht verstehen, daß ein Mann sein ganzes Leben lang nur eine Frau lieben sollte und sich keine andere suchte, wenn sie nicht mehr war. Einmal habe ich sie geneckt und gesagt, den Lassanern sei Treue fast ebenso fremd wie Eifersucht; sie erwiderte, sie hätten gewonnen, indem sie beides verloren hätten. Man ruft mich; die Fähre wartet. Jetzt muß ich Thalassa für immer Lebewohl sagen. Und auch dein Bild beginnt zu verblassen. Obwohl ich gut darin bin, anderen Ratschläge zu erteilen, habe ich mich vielleicht zu lange an meinen eigenen Kummer geklammert, und das erweist der Erinnerung an dich keinen Dienst.

Thalassa hat geholfen, mich zu heilen. Jetzt kann ich mich mehr darüber freuen, dich gekannt zu haben, als daß ich trauere, dich verloren zu haben.

Eine seltsame Ruhe ist über mich gekommen. Zum erstenmal habe ich das Gefühl, die Vorstellung meiner alten buddhistischen Freunde von der Loslösung wirklich zu verstehen — sogar das Nirwana…

Und wenn ich auf Sagan Zwei nicht mehr aufwache, dann mag es so sein. Meine Arbeit hier ist getan, und ich bin es zufrieden.

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