42. Die Überlebenden

Das ist eine ganz unselige Geschichte, dachte Kapitän Bey. Owen Fletcher ist ein guter Mann. Ich war selbst einverstanden, als er ausgewählt wurde. Wie konnte er so etwas tun?

Wahrscheinlich gab es keine einzelne Erklärung dafür. Wenn er nicht Sabra und auch noch in ein Mädchen verliebt gewesen wäre, wäre es vielleicht nie soweit gekommen. Was war der Ausdruck dafür, wenn eins und eins mehr als zwei ergaben? Etwas mit Sin… — ach ja, Synergie. Aber er wurde das Gefühl nicht los, daß da noch etwas dahintersteckte, etwas, das er wahrscheinlich nie erfahren würde.

Er erinnerte sich an eine Bemerkung, die Kaldor, der ja für jede Gelegenheit einen Spruch parat hatte, ihm gegenüber einmal geäußert hatte, als sie über die Psychologie der Besatzung sprachen.

„Wir sind alle verstümmelt, Kapitän, ob wir es nun zugeben oder nicht. Niemand, der während jener letzten Jahre auf der Erde das erlebt hat, was wir hinter uns haben, könnte davon unberührt bleiben. Und wir empfinden alle das gleiche Schuldgefühl.“

„Schuld?“ hatte er überrascht und indigniert gefragt.

„Ja. Obwohl es nicht an uns liegt. Wir sind Überlebende — die einzigen Überlebenden. Und Überlebende fühlen sich immer schuldig, weil sie noch am Leben sind.“

Das war eine aufwühlende Feststellung, und sie mochte helfen, Fletcher — und vieles andere — zu erklären.

Wir sind alle Verstümmelte.

Ich frage mich, welche Verletzung du hast, Moses Kaldor — und wie du damit fertig wirst. Ich kenne die meine und war bisher in der Lage, sie zum Wohle meiner Mitmenschen nutzbar zu machen. Sie hat mich dahin gebracht, wo ich heute bin, und darauf kann ich stolz sein. In einer früheren Epoche wäre ich vielleicht ein Diktator oder ein Kriegsherr geworden. Statt dessen hat man mich sinnvollerweise als Chef der Kontinentalpolizei, als Kommandierenden General der Weltraumbaueinrichtungen — und schließlich als Kommandanten eines Sternenschiffes eingesetzt. Meine Machtgelüste wurden erfolgreich sublimiert.

Er ging zum Kapitänstresor, zu dem er allein den Schlüssel hatte, und schob die kodierte Metallstange in den Schlitz. Die Tür schwang weich auf, und verschiedene Papierstapel, einige Medaillen und Trophäen und ein kleiner, flacher Holzkasten mit den in Silber eingelegten Buchstaben S.B. wurden sichtbar.

Als der Kapitän den Kasten auf den Tisch stellte, spürte er erfreut die vertraute Unruhe in seinen Lenden. Er öffnete den Deckel und starrte auf das schimmernde Instrument der Macht hinunter, das sich in sein Samtbett kuschelte.

Einst hatten Millionen seine Perversion geteilt. Gewöhnlich war sie recht harmlos — in primitiven Gesellschaften sogar wertvoll. Und oft hatte sie den Lauf der Geschichte verändert — zum Besseren oder zum Schlechteren.

„Ich weiß, daß du ein Phallussymbol bist“, flüsterte der Kapitän. „Aber du bist auch eine Waffe. Ich habe dich schon benützt; ich kann es auch wieder tun.“

Die Rückblende konnte nicht mehr als den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, aber sie schien Jahre zu umfassen. Er stand noch immer an seinem Schreibtisch, als sie vorüber war; nur für einen Augenblick wurde all die sorgfältige Arbeit der Psychotherapeuten zunichte gemacht, und die Pforten des Gedächtnisses öffneten sich weit.

Er blickte entsetzt — aber doch fasziniert — zurück auf jene letzten, turbulenten Jahrzehnte, die die besten und die schlimmsten Seiten der Menschen ans Licht gebracht hatten. Er erinnerte sich, wie er als junger Polizeiinspektor in Kairo zum erstenmal Befehl gegeben hatte, auf eine aufständische Menschenmenge zu feuern. Die Kugeln sollten eigentlich nur kampfunfähig machen. Aber zwei Menschen waren ums Leben gekommen. Weshalb war der Aufruhr entstanden? Er hatte es nie erfahren — es gab so viele politische und religiöse Bewegungen in jenen letzten Tagen. Und damals war auch die große Zeit der Superverbrecher; sie hatten nichts zu verlieren und keine Zukunft, auf die sie sich freuen konnten, daher waren sie bereit, jedes Risiko einzugehen. Die meisten von ihnen waren Psychopathen gewesen, aber einige waren fast Genies. Er dachte an Joseph Kidder, der fast ein Sternenschiff gestohlen hätte. Niemand wußte, was aus ihm geworden war, und manchmal fantasierte sich Kapitän Bey einen Alptraum zusammen: „Nur mal angenommen, einer meiner Schläfer wäre in Wirklichkeit…“

Die gewaltsame Reduzierung der Bevölkerung, das völlige Verbot jeglicher neuen Geburten nach dem Jahre 3600, die absolute Vorrangstellung, die der Entwicklung des Quantenantriebs und dem Bau von Schiffen der ‚Magellan‘-Klasse eingeräumt wurde — alle diese Zwänge, zusammen mit dem Wissen um das bevorstehende Verhängnis, hatten die irdische Gesellschaft solchen Belastungen unterworfen, daß es ihm immer noch wie ein Wunder vorkam, daß überhaupt jemand in der Lage gewesen war, aus dem Sonnensystem zu entkommen. Kapitän Bey erinnerte sich bewundernd und dankbar an jene, die ihre letzten Jahre für eine Sache geopfert hatten, von der sie nie erfahren würden, ob sie Erfolg hatte oder scheiterte. Er sah wieder die letzte Weltpräsidentin, Elisabeth Windsor, vor sich, wie sie erschöpft, aber stolz nach ihrer letzten Inspektionsrunde das Schiff verließ und auf einen Planeten zurückkehrte, der nur noch Tage zu leben hatte. Ihr war noch weniger Zeit geblieben; die Bombe in ihrem Raumtransporter war explodiert, kurz bevor die Maschine in Port Canaveral landen sollte.

Bei dieser Erinnerung überlief es den Kapitän immer noch eiskalt; jene Bombe war für die ‚Magellan‘ bestimmt gewesen, und nur durch einen Fehler in der Zeitplanung war das Schiff gerettet worden. Die Ironie war, daß jeder der rivalisierenden Kulte behauptet hatte, dafür verantwortlich zu sein.

Jonathan Cauldwell und seine schwindende, aber immer noch lautstarke Bande von Anhängern verkündeten immer verzweifelter, daß alles gutgehen würde, und daß Gott die Menschheit nur prüfen wolle, wie Er einst Hiob geprüft hatte. Trotz allem, was mit der Sonne geschah, sie würde bald wieder zu ihrem normalen Zustand zurückkehren, und die Menschheit würde gerettet sein — es sei denn, jene, die nicht an Seine Gnade glaubten, forderten Seinen Zorn heraus. Dann freilich könnte Er Seine Meinung im letzten Moment ändern…

Der ‚Wille-Gottes-Kult‘ glaubte genau das Gegenteil. Der Jüngste Tag war endlich gekommen, und man sollte keinen Versuch unternehmen, ihm zu entgehen. Ja, man sollte ihn willkommen heißen, denn nach dem Gericht würden jene, die einer Rettung wert waren, in ewiger Glückseligkeit leben.

Und so kamen die Cauldwelliten und der WGK von völlig entgegengesetzten Voraussetzungen ausgehend zu demselben Schluß: Die menschliche Rasse sollte nicht versuchen, ihrem Schicksal zu entgehen. Alle Sternenschiffe mußten vernichtet werden.

Vielleicht war es ein Glück, daß die beiden gegnerischen Kulte so bitter verfeindet waren, daß sie nicht einmal zu einem Zweck, von dem sie beide überzeugt waren, zusammenzuarbeiten vermochten. Ja, nach dem Tod von Präsidentin Windsor war ihre Feindseligkeit in mörderische Gewalttätigkeit umgeschlagen. Jemand — wahrscheinlich war es das Weltsicherheitsbüro, obwohl Beys Kollegen das ihm gegenüber niemals zugegeben hatten — setzte das Gerücht in Umlauf, die Bombe sei vom WGK gelegt und der Zeitzünder von den Cauldwelliten demoliert worden. Auch die genau entgegengesetzte Version wurde gerne verbreitet; eine von beiden hätte sogar wahr sein können.

All das war Geschichte, war jetzt außer ihm selbst nur noch einer Handvoll Menschen bekannt und würde bald vergessen sein. Aber es war doch sonderbar, daß die ‚Magellan‘ nun wieder von Sabotage bedroht wurde.

Anders als der WGK und die Cauldwelliten waren die Sabras sehr kompetent und hatten nicht vor lauter Fanatismus den Verstand verloren. Sie könnten daher ein größeres Problem darstellen, aber Kapitän Bey glaubte zu wissen, wie er damit fertigwerden konnte.

Du bist ein guter Mann, Owen Fletcher, dachte er grimmig. Aber ich habe schon bessere getötet. Und wenn es keine andere Möglichkeit gab, habe ich auch zur Folter gegriffen.

Er war ziemlich stolz darauf, daß er das nie genossen hatte; und diesmal gab es eine bessere Möglichkeit.

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