10. Der erste Kontakt

Vielleicht hätte ich es ihnen schonender beibringen sollen, sagte sich Moses Kaldor; sie scheinen alle unter Schock zu stehen. Aber das ist an sich schon sehr lehrreich; selbst wenn diese Menschen technologisch rückständig sind (man braucht sich ja nur diesen Wagen anzusehen!), müssen sie doch begreifen, daß nur ein Wunder der Technik uns von der Erde nach Thalassa gebracht haben konnte. Zuerst werden sie sich fragen, wie wir das gemacht haben, und dann werden sie anfangen zu überlegen, warum.

Tatsächlich war das die erste Frage, die Bürgermeisterin Waldron in den Sinn gekommen war. Diese beiden Männer in dem kleinen Fahrzeug waren offensichtlich nur die Vorhut. Da droben im Orbit mochten Tausende sein — Millionen sogar. Und die Bevölkerung von Thalassa war, dank strenger Vorschriften, schon bei neunzig Prozent des ökologischen Optimums angelangt…

„Mein Name ist Moses Kaldor“, sagte der ältere der beiden Besucher. „Und das ist Kapitänleutnant Loren Lorenson, stellvertretender Chefingenieur des Sternenschiffs ‚Magellan‘. Wir möchten uns wegen dieser Blasenanzüge entschuldigen — Sie sehen sicher ein, daß sie für die Sicherheit beider Seiten erforderlich sind. Auch wenn wir in freundlicher Absicht kommen, unsere Bakterien könnten andere Vorstellungen haben.“

Was für eine schöne Stimme, sagte die Bürgermeisterin bei sich — und das mit Recht. Es war einmal die bekannteste Stimme der Welt gewesen, sie hatte in den Jahrzehnten vor dem Ende Millionen getröstet — und manchmal provoziert.

Der notorisch schweifende Blick der Bürgermeisterin blieb jedoch nicht lange auf Moses Kaldor haften; er war offensichtlich hoch in den Sechzigern und ein wenig zu alt für sie. Der jüngere Mann war viel mehr nach ihrem Geschmack, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie sich an diese häßliche, bleiche Hautfarbe jemals wirklich gewöhnen konnte. Loren Lorenson (was für ein hübscher Name!) war fast zwei Meter groß, und sein Haar war so blond, daß es fast silbern wirkte. Er war nicht so stämmig wie… nun, wie Brant, aber er sah auf jeden Fall besser aus.

Die Bürgermeisterin konnte sowohl Männer wie auch Frauen gut beurteilen, und sie ordnete Lorenson sehr schnell ein. Hier waren Intelligenz, Entschlossenheit, vielleicht sogar Skrupellosigkeit — sie wollte ihn nicht gerne zum Feind haben, war aber unbedingt daran interessiert, ihn zum Freund zu haben. Oder noch besser…

Gleichzeitig zweifelte sie nicht daran, daß Kaldor ein wesentlich netterer Mensch war. In seinem Gesicht und seiner Stimme erkannte sie schon jetzt Weisheit, Mitgefühl und auch eine tiefe Traurigkeit. Kein Wunder in Anbetracht des Schattens, unter dem er sein ganzes Leben verbracht haben mußte.

Alle übrigen Mitglieder des Begrüßungskomitees waren jetzt nähergetreten und wurden nacheinander vorgestellt. Brant marschierte, nach den kürzestmöglichen Höflichkeitsfloskeln, schnurstraks auf das Flugzeug zu und begann, es von vorne bis hinten zu mustern.

Loren folgte ihm: er erkannte sofort, wenn er einen Ingenieurskollegen vor sich hatte, und er würde aus den Reaktionen des Thalassaners viel erfahren können. Er erriet, wonach Brant zuerst fragen würde. Trotzdem warf es ihn aus dem Gleichgewicht.

„Was ist das für ein Antriebssystem? Diese Düsenöffnungen sind lächerlich klein — wenn es überhaupt welche sind.“

Das war eine sehr scharfe Beobachtung; diese Menschen waren technologisch gesehen nicht so primitiv, wie es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Aber er konnte es sich keinesfalls erlauben, sich anmerken zu lassen, daß er beeindruckt war. Lieber zum Gegenangriff übergehen und ihn direkt zwischen die Augen treffen.

„Das ist ein herabgesetztes Quantenstrahltriebwerk, an den Atmosphärenflug angepaßt, indem es als Betriebsflüssigkeit Luft verwendet. Zapft die Planck-Fluktuationen an — Sie wissen schon, zehn hoch minus dreiunddreißig Zentimeter. Hat daher natürlich unbegrenzte Reichweite, sowohl in der Luft wie im Weltraum.“ Loren war mit dem ‚natürlich‘ recht zufrieden.

Wieder konnte er Brant seinen Respekt nicht versagen; der Lassaner zuckte kaum mit der Wimper und brachte sogar ein „Sehr interessant“ heraus, das sich so anhörte, als ob er es ehrlich meinte.

„Darf ich hinein?“

Loren zögerte. Vielleicht wirkte es unhöflich, wenn er ablehnte, und schließlich waren sie ja bestrebt, so schnell wie möglich Freundschaft zu schließen. Und, was eventuell noch wichtiger war, damit wurde klargestellt, wer hier wirklich die Herren waren.

„Natürlich“, antwortete er. „Aber achten Sie darauf, nichts anzurühren.“ Brant war viel zu interessiert, um das Fehlen eines ‚Bitte‘ wahrzunehmen.

Loren ging voran in die winzige Luftschleuse des Raumflugzeugs. Hier war gerade Platz genug für sie beide, und es erforderte komplizierte, gymnastische Übungen, um Brant in den Reserveblasenanzug einzuschweißen. „Hoffentlich brauchen wir die Dinger nicht lange“, erklärte Loren. „Aber wir müssen sie tragen, bis die mikrobiologischen Prüfungen abgeschlossen sind. Schließen Sie die Augen, bis wir den Sterilisationszyklus hinter uns haben.“

Brant nahm ein schwach violettes Leuchten wahr, dann zischte ein kurzer Gasstoß. Schließlich öffnete sich die Innentür, und sie traten in die Kontrollkabine.

Als sie sich nebeneinandersetzten, hinderte sie der zähe, aber kaum sichtbare Film, der sie umgab, so gut wie nicht in ihren Bewegungen. Und doch trennte er sie so wirkungsvoll voneinander, als wären sie auf verschiedenen Welten — was in vieler Hinsicht ja auch immer noch zutraf.

Brant lernte schnell, das mußte Loren zugeben. Wenn man ihm ein paar Stunden Zeit ließ, konnte er mit dieser Maschine umgehen — auch wenn er die dahinterstehende Theorie niemals begreifen würde. Übrigens wurde behauptet, nur eine Handvoll Leute hätten die Geodynamik des Superraums jemals wirklich begriffen — und die waren jetzt schon seit Jahrhunderten tot.

Sie vertieften sich schnell so gründlich in technische Gespräche, daß sie die Außenwelt fast vergaßen. Plötzlich ertönte eine leicht beunruhigte Stimme etwa aus der Richtung der Schalttafel: „Loren? Hier Schiff. Was ist los? Wir haben seit einer halben Stunde nichts von Ihnen gehört.“

Loren griff träge nach einem Schalter.

„Nachdem ihr uns auf sechs Videound fünf Audiokanälen überwacht, halte ich das für leicht übertrieben.“ Er hoffte, daß Brant begriffen hatte, was er damit sagen wollte: Wir haben die Situation voll im Griff und nehmen nichts als gegeben hin. „Übergebe an Moses — er hat das Reden übernommen, wie üblich.“

Durch die gewölbten Fenster sahen sie, daß Kaldor und die Bürgermeisterin sich immer noch ernsthaft unterhielten, und daß Gemeinderat Simmons sich von Zeit zu Zeit ins Gespräch mischte. Loren legte einen Schalter um, und plötzlich erfüllten die von Lautsprechern verstärkten Stimmen die Kabine, lauter, als wenn die Leute neben ihnen gestanden hätten.

„… unsere Gastfreundschaft. Sie sind sich aber natürlich darüber im klaren, daß unsere Welt, was die Landflächen angeht, außergewöhnlich klein ist. Wie viele Menschen sind an Bord Ihres Schiffes, sagten Sie?“

„Ich glaube nicht, daß ich eine Zahl nannte, Frau Bürgermeisterin. Auf jeden Fall werden nur sehr wenige von uns jemals nach Thalassa herunterkommen, so schön es hier auch ist. Ich habe volles Verständnis für ihre… ah… Besorgnis, aber es besteht keinerlei Anlaß zu den geringsten Befürchtungen. Wenn alles gut geht, sind wir in ein oder zwei Jahren schon wieder unterwegs. Andererseits ist das nicht nur ein Höflichkeitsbesuch — schließlich haben wir nie damit gerechnet, hier jemandem zu begegnen! Aber ein Sternenschiff bremst nicht von halber Lichtgeschwindigkeit ab, wenn es nicht sehr gute Gründe dafür hat. Sie haben hier etwas, was wir brauchen, und wir haben etwas, was wir Ihnen geben können.“

„Darf ich fragen, was?“

„Von uns, wenn Sie sie annehmen wollen, die künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften aus den letzten Jahrhunderten der Menschheit. Aber ich muß Sie warnen — bedenken Sie, was so ein Geschenk Ihrer eigenen Kultur antun kann. Vielleicht ist es gar nicht klug, alles anzunehmen, was wir Ihnen bieten können.“

„Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen — und Ihr Verständnis. Sie müssen unbezahlbare Schätze haben. Was können wir dafür bieten?“

Kaldor ließ sein klangvolles Lachen ertönen. „Das ist glücklicherweise kein Problem. Sie würden es nicht einmal bemerken, wenn wir es nähmen, ohne zu fragen.

Alles, was wir von Thalassa wollen, sind hunderttausend Tonnen Wasser. Oder, genauer gesagt, Eis.“

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