46. Welche Götter es auch geben mag…

„Was ist Gott?“ wollte Mirissa wissen.

Kaldor seufzte und schaute von dem jahrhundertealten Computerbild auf, das er gerade überflog.

„O je. Warum fragen Sie das?“

„Weil Loren gestern sagte: ‚Moses meint, die Skorps suchen vielleicht nach Gott.‘“

„Hat er das wirklich gesagt? Ich werde später mit ihm sprechen. Und Sie, junge Dame, wollen, daß ich Ihnen etwas erkläre, wovon Millionen von Menschen Tausende von Jahren lang besessen waren und was mehr Worte hervorgebracht hat als j eder andere Einzelbereich in der Geschichte. Wieviel Zeit können Sie heute vormittag erübrigen?“

Mirissa lachte. „Oh, mindestens eine Stunde. Haben Sie nicht einmal gesagt, daß alles, was wirklich wichtig ist, in einem einzigen Satz ausgedrückt werden kann?“

„Hm… Nun, ich bin schon auf einige äußerst langatmige Sätze gestoßen. Nun, wo soll ich anfangen…?“

Er ließ seinen Blick über die Lichtung vor dem Bibliotheksfenster und über den stummen — und doch so beredten — Rumpf des Mutterschiffs wandern, der sie überragte. Hier hat auf diesem Planeten das menschliche Leben begonnen; kein Wunder, daß er mich oft an Eden erinnert. Soll ich die Schlange sein, die seine Unschuld zerstören will? Aber ich werde einem Mädchen, das so klug ist wie Mirissa, nichts erzählen, was sie nicht schon weiß — oder errät.

„Die Schwierigkeit mit dem Wort ‚Gott‘ ist“, begann er langsam, „daß es noch niemals für zwei Menschen das gleiche bedeutet hat — besonders, wenn es Philosophen waren. Deshalb ist es im Laufe des dritten Jahrtausends allmählich aus dem Sprachgebrauch verschwunden, außer als Kraftausdruck — in einigen Kulturen, so obszön, daß man es in anständiger Gesellschaft nicht verwenden konnte. Statt dessen wurde es von einer ganzen Ansammlung von Spezialausdrücken ersetzt. Dadurch wurde wenigstens erreicht, daß die Leute nicht mehr aneinander vorbeireden konnten, wodurch in der Vergangenheit neunzig Prozent der Probleme entstanden waren.

Der Persönliche Gott, manchmal Gott Eins genannt, wurde zu Alpha. Er war die hypothetische Entität, von der man annahm, daß sie über das tägliche Leben wache — über jedes Individuum, jedes Tier sogar! — und daß sie das Gute belohne und das Böse bestrafe, gewöhnlich in einer vage beschriebenen Existenz nach dem Tode. Man verehrte Alpha, man betete zu ihm, führte komplizierte, religiöse Zeremonien durch und baute riesige Kirchen zu seinen Ehren…

Dann gab es den Gott, der das Universum geschaffen und seither etwas damit zu tun gehabt hatte oder auch nicht. Das war Omega. Als die Philosophen damit fertig waren, Gott zu sezieren, hatten sie auch alle weiteren ungefähr zwanzig Buchstaben des altgriechischen Alphabets verbraucht, aber für heute vormittag sind Alpha und Omega völlig ausreichend. Ich würde schätzen, daß die Menschen mehr als zehn Milliarden Lebensjahre damit verbracht haben, über die beiden zu diskutieren. Alpha war unentwirrbar mit Religion verstrickt — und das war sein Verderben. Er hätte sich bis zur Zerstörung der Erde halten können, wenn sich die Myriaden miteinander konkurrierender Religionen in Ruhe gelassen hätten. Aber dazu waren sie nicht fähig, weil jede behauptete, die Eine und Einzige Wahrheit zu besitzen. Deshalb mußten sie ihre Rivalen vernichten — und das bedeutete letzten Endes, nicht nur jede andere Religion, sondern auch Abweichler innerhalb des eigenen Glaubens.

Das ist jetzt natürlich eine grobe Vereinfachung: gute Männer und Frauen wuchsen oft über ihren Glauben hinaus, und es ist durchaus möglich, daß für die frühen menschlichen Gesellschaften die Religion wesentlich war. Ohne übernatürliche Sanktionen, die sie im Zaum hielten, hätten die Menschen vielleicht nie in größeren Verbänden als einem Stamm zusammengearbeitet. Erst als die Religion durch Macht und Privilegien korrumpiert wurde, wurde sie eine im Innersten antisoziale Kraft, und all das Gute, das sie geleistet hatte, wurde durch die noch größeren Missetaten verdunkelt.

Sie haben hoffentlich nie von der Inquisition, von Hexenjagden und von Heiligen Kriegen gehört. Würden Sie glauben, daß es bis weit ins Raumzeitalter hinein Nationen gab, in denen man Kinder offiziell hinrichten konnte, weil ihre Eltern einer ketzerischen Teilmenge der besonderen Alpha-Marke dieses Staates anhingen? Sie machen ein schockiertes Gesicht, aber diese Dinge -

und noch schlimmere — geschahen, während unsere Vorfahren begannen, das Sonnensystem zu erforschen.

Zum Glück für die Menschheit verschwand Alpha zu Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts mehr oder weniger elegant von der Bildfläche. Er wurde das Opfer einer faszinierenden Entwicklung, die man ‚Statistische Theologie‘ nannte. Wieviel Zeit habe ich noch? Wird Bobby nicht ungeduldig werden?“

Mirissa schaute aus dem großen Panoramafenster. Der Palomino rupfte ganz fröhlich das Gras um das Mutterschiff herum ab und war sichtlich vollauf zufrieden.

„Er wird nicht weglaufen — solange es hier etwas zu fressen gibt. Was war die Statistische Theologie?“

„Das war der letzte große Ansturm auf das Problem des Bösen. Was zur Entscheidung führte, war die Entstehung eines sehr exzentrischen Kults — seine Anhänger nannten sich die Neo-Manichäer; bitte fragen Sie mich nicht, warum! — um das Jahr 2050. Übrigens war es die erste ‚orbitale‘ Religion; obwohl auch alle anderen Glaubensrichtungen mit Nachrichtensatelliten gearbeitet hatten, um ihre Lehren weltweit zu verbreiten, stützten sich die NM ausschließlich auf sie. Sie hatten keinen Versammlungsort außer dem Fernsehschirm.

Trotz dieser Abhängigkeit von der Technik war ihre Tradition eigentlich sehr alt. Sie glaubten, daß Alpha zwar existierte, aber völlig böse sei — und daß es die letzte Bestimmung der Menschheit sei, sich ihm zu stellen und ihn zu vernichten.

Um ihren Glauben zu stützen, ließen sie eine gewaltige Reihe abscheulicher Tatsachen aus der Geschichte und der Zoologie aufmarschieren. Ich glaube, es waren wohl ziemlich kranke Menschen, denn es schien ihnen ein morbides Vergnügen zu bereiten, solches Material zu sammeln.

Ein Beispiel — man begründete die Existenz von Alpha gerne mit dem sogenannten teleologischen Gottesbeweis. Wir wissen heute, daß das ein Trugschluß war, aber die NM brachten ihn so vor, daß er völlig überzeugend und zwingend klang.

Wenn man ein gut durchkonstruiertes System vorfindet — ihr Lieblingsbeispiel war eine Digitaluhr — dann muß ein Planer, ein Schöpfer dahinterstehen. Man sehe sich deshalb die Welt der Natur an…

Und das taten sie, mehr als ausgiebig. Ihr Spezialgebiet war die Parasitologie — übrigens wissen Sie gar nicht, wie gut Sie es auf Thalassa haben! Ich will Sie nicht anekeln mit der Beschreibung der unglaublich raffinierten Methoden und Anpassungsformen, mit denen verschiedene Geschöpfe in andere Organismen — besonders in Menschen — eindrangen und sie auszehrten, bis sie zerstört waren. Ich will nur ein besonderes Schoßtier der NM erwähnen, die Ichneumon-Fliege.

Dieses entzückende Geschöpf legte seine Eier in andere Insekten, die es vorher paralysiert hatte, damit ihre Larven, wenn sie ausschlüpften, einen reichlichen Vorrat an frischem — lebendigem! — Fleisch hatten.

In dieser Richtung konnten die NM stundenlang weitermachen und die Wunder der Natur als Beweis dafür anführen, daß Alpha, wenn schon nicht abgrundtief böse, so doch menschlichen Maßstäben von Moral und Güte gegenüber völlig gleichgültig war. Keine Angst — ich kann sie nicht nachmachen und werde es auch nicht tun.

Aber einen anderen ihrer Lieblingsbeweise muß ich noch erwähnen — den Katastrophenbeweis. Ein typisches Beispiel, das man unzähligemale vervielfachen könnte: Alpha-Gläubige versammeln sich im Angesicht eines Unglücks, um Hilfe zu erflehen — und alle werden durch den Zusammenbruch des Gebäudes, in dem sie Zuflucht gesucht haben, getötet, wohingegen die meisten von ihnen gerettet worden wären, wenn sie sich zu Hause aufgehalten hätten.

Wieder sammelten die NM ganze Bände solcher Schreckensfälle — brennende Krankenhäuser und Altersheime, Kindergärten, die von Erdbeben vernichtet wurden, Vulkane oder Flutwellen, die ganze Städte zerstörten — die Liste ist endlos.

Natürlich nahmen rivalisierende Alpha-Gläubige das nicht unwidersprochen hin. Sie sammelten ebensoviele Gegenbeispiele — die wunderbaren Dinge, die immer wieder geschehen waren, um fromme Gläubige vor Katastrophen zu retten.

Diese Debatte war in verschiedener Form über mehrere tausend Jahre geführt worden. Aber im einundzwanzigsten Jahrhundert erlaubten es die neuen Informationstechnologien und die Methoden statistischer Analyse, sowie ein besseres Verständnis der Wahrscheinlichkeitstheorie, sie beizulegen.

Es dauerte ein paar Jahrzehnte, bis die Antworten hereinkamen, und noch ein paar weitere, bis sie von praktisch allen intelligenten Menschen akzeptiert wurden: Schlimmes ereignete sich genauso oft wie Gutes; wie man schon lange vermutet hatte, gehorchte das Universum einfach den Gesetzen der mathematischen Wahrscheinlichkeit. Keinesfalls gab es Zeichen für irgendein übernatürliches Eingreifen, weder zum Guten noch zum Bösen.

Also hat das Problem des Bösen niemals wirklich existiert. Zu erwarten, daß das Universum wohlwollend war, das war genauso, wie sich einzubilden, daß man bei einem reinen Glücksspiel immer gewinnen könne.

Einige Kultanhänger versuchten die Lage noch zu retten, indem sie die Religion ‚Alphas des völlig Gleich gültigen‘ ausriefen und die glockenförmige Kurve der Normalverteilung als Symbol ihres Glaubens verwendeten. Unnötig zu sagen, daß eine so abstrakte Gottheit nicht zu viel Frömmigkeit anregte.

Und wenn wir schon beim Thema Mathematik sind, sie hat Alpha im einundzwanzigsten — oder war es das zweiundzwanzigste? — Jahrhundert noch einen vernichtenden Schlag versetzt. Ein brillanter Terraner namens Kurt Gödel bewies, daß dem Wissen bestimmte, absolut fundamentale Grenzen gesetzt waren, und daß daher die Vorstellung eines vollständig allwissenden Wesens — eine der Definitionen für Alpha — logisch absurd war. Die Entdeckung ist in einem jener unvergeßlichen schlechten Wortspiele auf uns gekommen: ‚Gödel strich Gott‘. Studenten kritzelten damals die Buchstaben G.O. mit dem griechischen Delta auf die Mauern; und natürlich gab es auch Versionen, die lauteten: ‚Gott strich Gödel.‘

Aber zurück zu Alpha. Bis zur Mitte des Jahrtausends war er aus dem Interesse der Menschen mehr oder weniger verschwunden. Praktisch alle denkenden Menschen hatten sich schließlich dem harten Urteil des großen Philosophen Lukretius angeschlossen: Alle Religionen waren im Grunde unmoralisch, weil die Formen des Aberglaubens, die sie an den Mann bringen wollten, mehr Schaden als Nutzen brachten.

Aber ein paar der alten Glaubensrichtungen schafften es, wenn auch in drastisch veränderter Form, bis zum Ende der Erde zu überleben. Die ‚Mormonen der Letzten Tage‘ und die ‚Töchter des Propheten‘ brachten es sogar soweit, daß sie eigene Saatschiffe bauten. Ich frage mich oft, was wohl aus ihnen geworden ist.

Nachdem Alpha in Mißkredit gekommen war, blieb noch Omega übrig, der Schöpfer von allem. Es ist nicht so einfach, Omega abzutun; das Universum braucht gewisse Erklärungen. Oder nicht? Es gibt einen alten, philosophischen Witz, der viel subtiler ist, als es zunächst den Anschein hat. Frage: Warum ist das Universum hier? Antwort: Wo sollte es denn sonst sein? Und ich glaube, das reicht jetzt wirklich für einen Vormittag.“

„Danke, Moses“, antwortete Mirissa mit leicht glasigem Blick. „Sie haben das alles schon früher erzählt, nicht wahr?“

„Natürlich — schon oft. Und eines müssen Sie mir versprechen!“

„Was ist es?“

„Glauben Sie nichts von dem, was ich Ihnen gesagt habe, nur weil ich es gesagt habe. Kein ernsthaftes philosophisches Problem wird jemals gelöst. Omega ist immer noch da — und bei Alpha bin ich manchmal gar nicht sicher…

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