47. Himmelfahrt

Sie hieß Carina; sie war achtzehn Jahre alt, und obwohl sie an diesem Tag zum erstenmal nachts in Kumars Boot draußen war, war es keineswegs das erstemal, daß sie in seinen Armen lag. Sie hatte vielleicht sogar am ehesten Anspruch auf den vielumstrittenen Titel, seine Favoritin zu sein.

Wenn auch die Sonne vor zwei Stunden untergegangen war, der innere Mond — soviel heller und näher als der verlorene Mond der Erde — war fast voll und übergoß den Strand in einem halben Kilometer Entfernung mit seinem kalten, blauen Licht. Gleich vor der Reihe der Palmen, wo die Party noch im Gange war, brannte ein kleines Feuer. Und von Zeit zu Zeit war leise Musik über das sanfte Murmeln des Düsenantriebs zu hören, der auf allerkleinster Stufe lief. Kumar hatte sein Hauptziel schon erreicht und hatte es nicht sehr eilig, anderswohin zu kommen. Trotzdem machte er sich als guter Seemann gelegentlich frei, um dem Autopiloten ein paar Anweisungen zu geben und schnell einen Blick auf den Horizont zu werfen.

Kumar hatte die Wahrheit gesprochen, dachte Carina ganz selig. Der gleichmäßige, sanfte Rhythmus eines Bootes hatte etwas sehr Erotisches, besonders, wenn er durch das Luftbett, auf dem sie lagen, noch verstärkt wurde. Würde sie nach diesem Erlebnis jemals wieder damit zufrieden sein, die Liebe auf dem festen Land zu genießen?

Und Kumar war anders als so einige andere junge Tarnaner, von denen sie hätte erzählen können, überraschend zärtlich und rücksichtsvoll. Er war keiner von den Männern, die nur auf ihre Befriedigung bedacht waren; sein Vergnügen war erst vollständig, wenn er es mit jemandem teilen konnte. Wenn er in mir ist, dachte Carina, glaube ich, daß ich das einzige Mädchen in seinem Universum bin — obwohl ich ganz genau weiß, daß das nicht wahr ist.

Carina nahm undeutlich wahr, daß sie sich noch immer vom Dorf entfernten, aber das kümmerte sie nicht. Sie wünschte, daß dieser Augenblick ewig dauern möge, und es hätte ihr kaum etwas ausgemacht, wenn das Boot mit voller Geschwindigkeit auf den leeren Ozean hinausgefahren wäre, wo es kein Land mehr gab, bis man den Globus umschifft hatte. Kumar wußte, was er wollte — in mehr als einer Beziehung. Ein Teil ihres Vergnügens kam aus dem absoluten Vertrauen, das er ihr einflößte; in seinen Armen wußte sie nichts von Sorgen oder Problemen. Die Zukunft existierte nicht; es gab nur die zeitlose Gegenwart. Aber die Zeit verging, und jetzt stand der innere Mond viel höher am Himmel.

Im Nachspiel der Leidenschaft erforschten ihre Lippen immer noch träge die Zonen der Liebe, als die Hydrodüse zu pulsieren aufhörte und das Boot zum Stehen kam.

„Wir sind da“, sagte Kumar mit einem Hauch von Erregung in der Stimme.

Und wo mag ‚da‘ wohl sein? dachte Carina träge, während sie sich voneinander lösten. Es schienen Stunden vergangen, seit sie das letztemal einen Blick auf die Küstenlinie geworfen hatte… vorausgesetzt, sie war noch in Sicht.

Sie kam langsam auf die Füße, stemmte sich gegen das Schaukeln des Bootes — und starrte mit großen Augen auf das Märchenland, das vor nicht allzu langer Zeit noch ein öder Sumpf gewesen war, den man hoffnungsvoll aber unzutreffend Mangrovenbucht getauft hatte.

Natürlich war das nicht das erstemal, daß sie mit Hochtechnologie in Berührung kam; die Kernfusionsanlage und der Hauptkopierer auf der Nordinsel waren viel größer und eindrucksvoller. Aber als sie dieses strahlend hell erleuchtete Labyrinth von Rohren und Lagertanks, Kränen und Bedienungsmechanismen sah — diese geschäftige Kombination aus Werft und chemischer Fabrik, wo alles lautlos und gut funktionierend unter den Sternen lag, ohne daß ein einziges, menschliches Wesen in Sicht gewesen wäre — war das ein richtiger visueller und psychologischer Schock.

Plötzlich platschte etwas erschreckend laut in der Stille der Nacht, Kumar warf den Anker aus. „Komm!“ sagte er verschmitzt. „Ich möchte dir etwas zeigen.“

„Ist es auch nicht gefährlich?“

„Natürlich nicht — ich war schon so oft hier.“

Und bestimmt nicht allein, dachte Carina. Aber er war schon über die Bootswand gesprungen, ehe sie etwas bemerken konnte.

Das Wasser reichte ihnen kaum weiter als bis zur Taille und hatte noch soviel von der Hitze des Tages zurückbehalten, daß es fast unangenehm warm war. Als Carina und Kumar Hand in Hand auf den Strand zugingen, fanden sie es erfrischend, die kühle Nachtbrise am Körper zu spüren. Sie tauchten aus dem regellosen Kräuseln winziger Wellen auf wie ein neuer Adam und eine neue Eva, die die Schlüssel zu einem mechanisierten Eden bekommen hatten.

„Keine Angst!“ beruhigte sie Kumar. „Ich kenne mich hier aus. Dr. Lorenson hat mir alles erklärt. Aber ich habe etwas gefunden, was er sicher nicht weiß.“

Sie gingen an einer Reihe von dick isolierten Röhren entlang, die auf Stützen einen Meter über den Boden ruhten, und nun konnte Carina zum erstenmal deutlich ein Geräusch hören — das Pochen von Pumpen, die durch das sie umgebende Labyrinth von Rohren und Wärmeaustauschern Kühlflüssigkeit drückten.

Schließlich kamen sie zu dem berühmten Becken, in dem man den Skorp gefunden hatte. Jetzt war nur sehr wenig Wasser zu sehen; die Oberfläche war fast völlig mit einer verfilzten Tangmasse bedeckt. Auf Thalassa gab es keine Reptilien, aber die dicken, biegsamen Stengel erinnerten Carina an umeinandergewickelte Schlangen. Sie gingen eine Reihe von Kanälen entlang, an kleinen Schleusentoren vorbei, die im Augenblick alle geschlossen waren, bis sie, weit abseits von der Hauptanlage, eine große, offene Fläche erreichten. Als sie den Hauptkomplex verließen, winkte Kumar fröhlich in die Linse einer Überwachungskamera. Später konnte niemand mehr feststellen, warum sie im kritischen Augenblick ausgeschaltet gewesen war.

„Die Gefriertanks“, sagte Kumar. „Jeder faßt sechshundert Tonnen. Fünfundneunzig Prozent Wasser, fünf Prozent Tang. Was findest du so komisch?“

„Nicht komisch — aber sehr sonderbar“, sagte Carina, immer noch lächelnd. „Stell dir doch nur vor — sie tragen einen Teil unseres Ozeanwaldes bis zu den Sternen hinauf. Wer käme je auf so etwas? Aber deshalb hast du mich doch nicht hierhergebracht.“

„Nein“, gestand Kumar leise. „Schau…!“

Zuerst konnte sie nicht sehen, worauf er zeigte. Dann interpretierte ihr Geist das Bild, das ganz am Rand ihres Blickfeldes flackerte, und sie verstand.

Natürlich war es ein altes Wunder. Seit mehr als tausend Jahren schon hatten Menschen so etwas auf vielen Welten gemacht. Aber als sie es jetzt mit eigenen Augen sah, war es mehr als atemberaubend, es war ehrfurchteinflößend.

Als sie näher an den letzten Tank herangegangen waren, konnte sie es deutlicher erkennen. Der dünne Lichtfaden — er konnte nicht mehr als ein paar Zentimeter breit sein! — zog sich hinauf zu den Sternen, absolut gerade wie ein Laserstrahl. Ihre Augen folgten ihm, bis er immer schmaler und schließlich unsichtbar wurde und sie reizte, die Stelle, wo er verschwand, genau zu bestimmen. Und immer noch ging ihr Blick weiter, schwindelerregend, bis sie direkt in den Zenit starrte und auf den einzelnen Stern, der bewegungslos dort schwebte, während alle seine blasseren, natürlichen Gefährten stetig an ihm vorbei nach Westen wanderten. Wie eine kosmische Spinne hatte die ‚Magellan‘ einen Faden heruntergelassen und würde bald das kostbare Gut hinaufziehen, das sie von der Welt unter sich begehrte.

Jetzt, wo sie direkt am Rande des wartenden Eisblocks standen, erlebte Carina noch eine Überraschung. Seine Oberfläche war völlig von einer glitzernden Schicht Goldfolie bedeckt und erinnerte sie an die Geschenke, die man Kindern an ihrem Geburtstag oder beim alljährlichen Landefest machte.

„Isolierung“, erklärte Kumar. „Und es ist wirklich Gold — ungefähr zwei Atome dick. Ohne das würde das Eis halb wegschmelzen, bis es zum Schild hinaufkäme.“

Ob Isolation oder nicht, Carina spürte, wie die Kälte beißend durch ihre bloßen Füße drang, als Kumar sie auf die gefrorene Platte hinausführte. Nach einem Dutzend Schritten erreichten sie ihr Zentrum, und da leuchtete sonderbar nichtmetallisch das straffe Band, das sich, wenn nicht zu den Sternen, so doch wenigstens die dreißigtausend Kilometer bis hinauf zu dem stationären Orbit spannte, in dem die ‚Magellan‘ sich befand.

Es endete in einer zylindrischen, mit Instrumenten und Steuerdüsen gespickten Trommel, die eindeutig als beweglicher, intelligenter Kranhaken diente, der nach seinem langen Sinkflug durch die Atmosphäre seine Ladung ansteuerte. Die ganze Anordnung wirkte überraschend einfach, sogar simpel — was, wie bei den meisten Produkten reifer, fortgeschrittener Techniken, eine Täuschung war.

Carina schauderte plötzlich, und zwar nicht von der Kälte unter ihren Füßen, die sie jetzt kaum noch bemerkte. „Bist du sicher, daß es hier nicht gefährlich ist?“ fragte sie ängstlich.

„Natürlich. Sie ziehen immer um Mitternacht hoch, auf die Sekunde — und bis dahin sind es noch Stunden.

Es ist ein großartiger Anblick, aber ich glaube nicht, daß wir so lange bleiben werden.

Jetzt kniete Kumar nieder und legte sein Ohr an das unglaubliche Band, das Schiff und Planet zusammenhielt. Wenn es zerriß, fragte sie sich ängstlich, würden sie dann auseinandergeschleudert werden?

„Hör zu!“ flüsterte sie…

Sie hatte nicht gewußt, was ihr bevorstand. Manchmal, in späteren Jahren, als sie es ertragen konnte, hatte sie versucht, den Zauber dieses Augenblicks zurückzurufen. Sie konnte nie sicher sein, ob es ihr gelungen war.

Zuerst schien es ihr, als höre sie den tiefsten Ton einer Riesenharfe, deren Saiten zwischen den Welten gespannt waren. Schauder jagten ihr das Rückgrat hinunter, und sie spürte, wie sich die kleinen Haare in ihrem Nacken sträubten, in jener uralten Angstreaktion, die dem Menschen in den Urwäldern der Erde unauslöschlich eingeprägt worden war.

Dann, als sie sich daran gewöhnt hatte, nahm sie ein ganzes Spektrum wechselnder Untertöne wahr, über den ganzen Bereich bis zur Hörbarkeitsgrenze hin — und zweifellos noch weit darüber hinaus. Die Töne verzerrten sich und verschmolzen miteinander, so unbeständig und doch sich stetig wiederholend wie die Geräusche des Meeres.

Je mehr sie lauschte, desto mehr wurde sie an das endlose Schlagen von Wellen an einen einsamen Strand erinnert. Sie glaubte, das Meer des Weltraums an die Küsten all seiner Welten branden zu hören — ein in seiner sinnlosen Vergeblichkeit erschreckender Laut, der durch die schmerzende Leere des Universums hallte.

Und jetzt nahm sie noch weitere Elemente in dieser ungeheuer komplexen Symphonie wahr. Es gab plötzliche, näselnde, klagende Klänge, als hätten Riesenfinger irgendwo entlang der Tausende von Kilometern an dem straff gespannten Band gezupft. Meteoriten? Sicher nicht. Vielleicht eine elektrische Entladung in der brodelnden Ionosphäre von Thalassa? Und — war das reine Einbildung, irgendwie von ihren eigenen, unbewußten Ängsten erzeugt? — ihr war, als höre sie von Zeit zu Zeit schwach das Heulen dämonischer Stimmen oder die geisterhaften Schreie all der kranken, verhungernden Kinder, die während der alptraumhaften Jahrhunderte auf der Erde gestorben waren.

Plötzlich konnte sie es nicht länger ertragen.

„Ich habe Angst, Kumar“, flüsterte sie und griff nach seiner Schulter. „Laß uns gehen!“

Aber Kumar war noch in die Sterne versunken, sein Mund war halb geöffnet, und er drückte den Kopf gegen dieses klingende Band, hypnotisiert von seinem Sirenengesang. Er bemerkte es nicht einmal, als Carina, zornig, aber auch verängstigt, über das folienbedeckte Eis stapfte und auf dem vertrauten, warmen, trockenen Land stehenblieb, um auf ihn zu warten.

Denn er hatte jetzt etwas Neues wahrgenommen — eine Reihe ansteigender Töne, die seine Aufmerksamkeit zu verlangen schienen. Es war wie eine Fanfare für Saiteninstrumente, wenn man sich so etwas vorstellen konnte, und es klang unsäglich traurig und fern.

Aber es kam näher, wurde lauter. Es war der erregendste Klang, den Kumar jemals gehört hatte, und er stand wie gelähmt vor Staunen und Ehrfurcht. Er konnte sich fast vorstellen, daß etwas über das Band herunter auf ihn zugerast kam…

Sekunden zu spät erkannte er die Wahrheit, als der erste Schlag der Vorläuferwelle ihn flach gegen die Goldfolie schmetterte und der Eisblock sich unter ihm regte. Dann erblickte Kumar Leonidas zum allerletztenmal die zerbrechliche Schönheit seiner schlafenden Welt und das entsetzte, nach oben gewandte Gesicht des Mädchens, das sich an diesen Augenblick bis zu seinem Todestag erinnern würde.

Schon war es zu spät, um abzuspringen. Und so fuhr der Kleine Löwe zu den schweigenden Sternen empor — nackt und allein.

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