37. In Vino Veritas

Nach Mirissa war Kumar der willkommenste — und häufigste Besucher Lorens. Trotz seines Spitznamens kam er Loren eher vor wie ein treuer Hund — oder vielmehr, ein freundlicher Welpe — als wie ein Löwe. Es gab ein Dutzend verhätschelter Hunde in Tarna — und eines Tages würde es vielleicht sogar auf Sagan Zwei wieder welche geben, die ihre lange Bekanntschaft mit dem Menschen erneuerten.

Loren hatte nun erfahren, in welche Gefahr sich der Junge in der aufgewühlten See begeben hatte. Es war gut für sie beide gewesen, daß Kumar die Küste nie verließ, ohne sich ein Tauchermesser ans Bein zu schnallen; trotzdem war er länger als drei Minuten unter Wasser gewesen, um das Kabel durchzusägen, in das Loren sich verwickelt hatte. Die Mannschaft der ‚Calypso‘ war überzeugt gewesen, daß sie beide ertrunken waren.

Trotz des Bandes, das sie jetzt zusammenschloß, fiel es Loren schwer, sich mit Kumar länger zu unterhalten. Immerhin konnte man nicht auf unendlich viele Arten sagen: Vielen Dank, daß du mir das Leben gerettet hast, Junge; und sie waren in ihrer Herkunft so völlig verschieden, daß sie nur sehr wenige gemeinsame Bezugssysteme hatten. Wenn Loren mit Kumar über die Erde oder über das Schiff sprechen wollte, mußte er alles mühselig bis in die kleinsten Einzelheiten erklären; und nach einer Weile sah er ein, daß er seine Zeit vergeudete.

Anders als seine Schwester lebte Kumar in der Welt des unmittelbaren Erlebens; ihm waren nur das Hier und Heute auf Thalassa wichtig. „Wie ich ihn beneide!“ hatte Kaldor einmal bemerkt. „Er ist ein Wesen von heute — nicht von der Vergangenheit heimgesucht und ohne Angst vor der Zukunft.“

An dem Abend, der, wie er hoffte, sein letzter in der Klinik sein würde, wollte sich Loren gerade schlafenlegen, als Kumar mit einer sehr großen Flasche ankam und sie triumphierend hochhielt. „Rate!“

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Loren, absolut nicht wahrheitsgemäß.

„Der erste Wein des Jahres, von Krakan. Man sagt, es würde ein sehr gutes Jahr.“

„Wieso verstehst du denn etwas davon?“

„Unsere Familie hat seit mehr als hundert Jahren einen Weinberg dort. Die Löwen-Weine sind die berühmtesten auf der Welt.“

Kumar suchte so lange, bis er zwei Gläser gefunden hatte, dann schenkte er beide großzügig voll. Loren nippte vorsichtig; der Wein war ein wenig süß für seinen Geschmack, aber sehr, sehr lieblich.

„Wie nennt ihr ihn?“ fragte er.

„Krakan Spezial.“

„Soll ich das riskieren, nachdem Krakan mich schon einmal fast getötet hätte?“

„Du wirst nicht einmal einen Kater davon bekommen.“

Loren nahm einen zweiten, größeren Schluck, und in überraschend kurzer Zeit war das Glas leer. Noch schneller war es wieder voll.

Loren fand, das sei eine ausgezeichnete Art, seine letzte Nacht im Krankenhaus zu verbringen, und er merkte, wie seine normale Dankbarkeit gegenüber Kumar sich auf die ganze Welt ausdehnte. Jetzt wäre ihm sogar ein Besuch von Bürgermeisterin Waldron nicht unwillkommen gewesen.

„Übrigens, wie geht es Brant? Ich habe ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen.“

„Er ist immer noch auf der Nordinsel, kümmert sich um die Reparaturen am Boot und redet mit den Meeresbiologen. Alle sind sehr aufgeregt wegen der Skorps. Aber niemand kann sich entscheiden, was man unternehmen soll. Wenn überhaupt.“

„Weißt du, so etwa geht es mir mit Brant.“

Kumar lachte.

„Keine Sorge. Er hat ein Mädchen auf der Nordinsel.“

„Oh. Weiß Mirissa davon?“

„Natürlich.“

„Und es macht ihr nichts aus?“

„Warum denn? Brant liebt sie — und er kommt immer wieder zurück.“

Loren verarbeitete diese Information, aber ziemlich langsam. Es ging ihm auf, daß er eine neue Variable in einer ohnehin schon komplexen Gleichung war. Hatte Mirissa noch weitere Liebhaber? Wollte er es wirklich wissen? Sollte er danach fragen?

„Jedenfalls“, fuhr Kumar fort, während er die beiden Gläser nachfüllte, „ist nur eines wirklich wichtig, daß nämlich ihre Genkarten genehmigt worden sind und daß sie für einen Sohn eingetragen wurden. Wenn er geboren ist, wird alles anders sein. Dann brauchen sie nur noch einander. War das auf der Erde nicht genauso?“

„Manchmal“, sagte Loren. Kumar weiß es also nicht; nur sie beide kannten immer noch allein das Geheimnis.

Wenigstens werde ich meinen Sohn sehen, dachte Loren, wenn auch nur ein paar Monate lang. Und dann…

Zu seinem Entsetzen spürte er, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen. Wann hatte er zum letztenmal geweint? Vor zweihundert Jahren, als er auf die brennende Erde zurückschaute…

„Was ist los?“ fragte Kumar. „Denkst du an deine Frau?“ Seine Besorgnis war so echt, daß Loren ihm seine Taktlosigkeit nicht übelnehmen konnte — auch nicht, daß er an etwas rührte, wovon in beiderseitigem Einvernehmen selten gesprochen wurde, weil es mit dem Hier und Jetzt nichts zu tun hatte. Vor zweihundert Jahren auf der Erde und in dreihundert Jahren auf Sagan Zwei, beides war zu weit weg von Thalassa, als daß seine Gefühle es hätten erfassen können, noch dazu in seinem gegenwärtigen, etwas benebelten Zustand. „Nein, Kumar, ich habe nicht an — meine Frau…“ „Wirst du ihr… jemals… von Mirissa… erzählen?“ „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin sehr schläfrig. Haben wir die ganze Flasche ausgetrunken? Kumar? Kumar!“

Die Krankenschwester kam in der Nacht herein, verbiß sich ein Kichern und steckte die Laken so fest, daß die beiden nicht herausfielen.

Loren erwachte als erster. Nach dem ersten Schrekken der Erkenntnis begann er zu lachen.

„Was ist so komisch?“ fragte Kumar und wälzte sich ziemlich verschlafen aus dem Bett.

„Wenn du es wirklich wissen willst — ich habe mich gerade gefragt, ob Mirissa wohl eifersüchtig wäre.“

Kumar grinste ironisch.

„Ich war vielleicht ein wenig betrunken“, sagte er dann. „Aber ich bin ziemlich sicher, daß nichts passiert ist.“

„Ich auch.“

Aber er erkannte, daß er Kumar liebte — nicht, weil der ihm das Leben gerettet hatte oder weil er Mirissas Bruder war — sondern einfach, weil er Kumar war. Sex hatte damit absolut nichts zu tun; allein der Gedanke daran hätte sie beide nicht etwa in Verlegenheit gebracht, sondern erheitert. Das war auch gut so. Das Leben auf Tarna war schon kompliziert genug.

„Und du hattest recht“, fügte Loren hinzu, „mit dem Krakan Spezial. Ich habe keinen Kater. Ich fühle mich sogar großartig. Kannst du ein paar Flaschen davon zum Schiff hinaufschicken lassen? Noch besser — ein paar hundert Liter.“

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