39. Der Leopard im Schnee

Entschuldige, Evelyn — es ist viele Tage her, seit ich zum letztenmal mit dir gesprochen habe. Bedeutet das, daß dein Bild in meinem Geist verblaßt, je mehr die Zukunft meine Energien und meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt?

Vermutlich ist es so, und logischerweise sollte ich mich darüber freuen. Sich so lange an die Vergangenheit zu klammern ist eine Krankheit — was du mir oft gesagt hast. Aber in meinem Herzen kann ich diese bittere Wahrheit noch immer nicht akzeptieren.

In den letzten paar Wochen ist viel geschehen. Das Schiff wurde vom Bounty-Syndrom befallen, wie ich es nenne. Wir hätten darauf gefaßt sein müssen — ja, wir waren es sogar, aber nur im Scherz. Jetzt ist es Ernst, aber bisher nicht zu ernst — hoffentlich.

Einige von der Besatzung möchten gerne auf Thalassa bleiben — wer kann es ihnen verübeln? — und haben das offen zugegeben. Andere wollen die ganze Mission hier beenden und Sagan Zwei vergessen. Wir wissen nicht, wie stark diese Gruppe ist, weil sie bisher nicht an die Öffentlichkeit getreten ist.

Achtundvierzig Stunden nach der Ratsversammlung hatten wir das Abstimmungsergebnis. Obwohl die Stimmabgabe natürlich geheim war, weiß ich nicht, inwieweit man den Ergebnissen trauen kann. 151 waren für die Fortsetzung der Reise; nur 6 wollten die Mission hier beenden; und 4 waren unentschieden.

Kapitän Bey war zufrieden. Er glaubt, die Situation unter Kontrolle zu haben, will aber einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er weiß genau, je länger wir hierbleiben, desto größer wird der Druck werden, überhaupt nicht mehr fortzugehen. Ein paar Deserteure stören ihn nicht weiter — „Wenn sie gehen wollen, will ich sie bestimmt nicht halten“, wie er es ausgedrückt hat. Aber er befürchtet, daß die Unzufriedenheit auf den Rest der Besatzung übergreifen könnte.

Deshalb will er den Bau des Schilds beschleunigen. Nachdem das System jetzt völlig automatisiert ist und reibungslos läuft, planen wir, zwei Eisblöcke pro Tag nach oben zu befördern, anstatt nur einen. Wenn das klappt, können wir in vier Monaten aufbrechen. Es ist noch nicht bekanntgegeben worden. Hoffentlich gibt es keine Proteste, wenn es verkündet wird, weder von den Neu-Lassanern, noch von sonst jemandem.

Und nun noch eine Sache, die vielleicht völlig unwichtig ist, die ich aber faszinierend finde. Weißt du noch, wie wir einander Geschichten vorlasen, als wir uns kennenlernten? Es war eine großartige Methode, in Erfahrung zu bringen, wie die Menschen vor Tausenden von Jahren — lange, bevor Sensoroder auch nur Videoaufzeichnungen existierten — wirklich lebten und dachten…

Einmal hast du mir — ich hatte nicht die leiseste, bewußte Erinnerung daran — eine Geschichte über einen großen Berg in Afrika mit dem seltsamen Namen ‚Kilimandscharo‘ vorgelesen. Ich habe im Schiffsarchiv nachgesehen, und jetzt verstehe ich, warum der Name mich verfolgt hat.

Offenbar gab es hoch oben auf dem Berg, oberhalb der Schneegrenze, eine Höhle. Und in dieser Höhle lag der gefrorene Kadaver einer großen Raubkatze — eines Leoparden. Das ist das Rätsel: niemand erfuhr jemals, was der Leopard in dieser Höhle, so weit von seinem normalen Aufenthaltsgebiet entfernt, gewollt hatte.

Du weißt, Evelyn, ich war immer stolz — viele Leute sagten eitel! — auf meine Intuition. Nun, mir scheint, daß hier etwas Ähnliches im Gange ist. Nicht nur einmal, sondern mehrmals hat man ein großes, starkes Meerestier entdeckt, weit entfernt von seinem natürlichen Lebensraum. Vor kurzem wurde das erste gefangen; es ist so etwas wie ein riesiges Krustentier, ähnlich den Meeresskorpionen, die einst auf der Erde lebten.

Wir wissen nicht genau, ob diese Tiere intelligent sind, und vielleicht ist diese Frage sogar bedeutungslos. Aber sicher sind sie hochorganisierte, im Gesellschaftsverband lebende Tiere, die über primitive Technikkenntnisse — obwohl das vielleicht ein zu starkes Wort ist — verfügen. Soviel wir festgestellt haben, sind ihre Fähigkeiten nicht größer als die von Bienen, Ameisen oder Termiten, aber ihre Tätigkeiten spielen sich auf einer anderen und ziemlich eindrucksvollen Ebene ab.

Am wichtigsten ist, daß sie das Metall entdeckt haben, obwohl sie es bisher offenbar nur als Schmuck verwenden und nur so viel Nachschub bekommen, wie sie von den Lassanern stehlen können. Das haben sie schon mehrmals getan.

Und vor kurzem ist ein Skorp durch den Kanal mitten in unsere Gefrieranlage gekrochen. Die naive Annahme lautet, er habe nach Nahrung gesucht. Aber da, wo er herkam, aus mindestens fünfzig Kilometer Entfernung, gab es genug.

Ich möchte wissen, was der Skorp so weit entfernt von zu Hause zu suchen hatte; ich glaube, die Antwort könnte für die Lassaner sehr wichtig sein.

Ob wir sie wohl finden werden, ehe ich den langen Schlaf nach Sagan Zwei antrete?

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