31. Eine Bittschrift

Obwohl Kapitän Sirdar Bey abgestritten hätte, auch nur ein Milligramm Aberglauben in sich zu haben, fing er immer an, sich Sorgen zu machen, wenn alles gut ging. Thalassa war bisher fast zu schön gewesen, um wahr zu sein; alles war nach den optimistischsten Planungen verlaufen. Der Schild wurde genau termingemäß gebaut, und es hatte bisher absolut keine Probleme gegeben, über die zu reden sich gelohnt hätte.

Aber jetzt, alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden…

Natürlich hätte es viel schlimmer sein können. Kapitänleutnant Lorenson hatte sehr, sehr großes Glück gehabt — dank dieses Jungen. (Sie mußten etwas für ihn tun…) Nach den Aussagen der Ärzte war es äußerst knapp gewesen. Noch ein paar Minuten länger, und der Gehirnschaden wäre nicht mehr rückgängig zu machen gewesen.

Verärgert, weil er sich von dem unmittelbar anstehenden Problem hatte ablenken lassen, las der Kapitän die Botschaft, die er jetzt schon auswendig kannte, noch einmal:

SCHIFFSSENDER: OHNE DATUM UND ZEITANGABE AN: KAPITÄN VON: ANONYM

Sir: Einige von uns möchten folgenden Vorschlag machen, über den Sie allen Ernstes nachdenken sollten. Wir beantragen, daß unsere Mission hier, auf Thalassa, ihr Ziel findet. Damit wären alle Pläne verwirklicht, ohne die zusätzlichen Risiken, die mit einer Weiterreise nach Sagan Zwei verbunden wären. Wir sind uns völlig im klaren darüber, daß sich daraus Probleme mit der bestehenden Bevölkerung ergeben werden, glauben aber, daß diese mit der Technologie gelöst werden können, die wir besitzen — insbesondere durch den Einsatz tektonischer Veränderungstechniken, um die zur Verfügung stehende Landfläche zu vergrößern. Unter Bezugnahme auf Reglement, Abschnitt 13, § 24(a), ersuchen wir mit allem Respekt darum, daß ein Schiffsrat einberufen wird, um diesen Antrag baldmöglichst zu diskutieren.

„Nun, Kapitän Malina? Botschafter Kaldor? Haben Sie dazu etwas zu bemerken?“

Die beiden Gäste in der geräumigen, aber einfach möblierten Kapitänskajüte blickten sich gleichzeitig an. Dann nickte Kaldor dem Vizekapitän fast unmerklich zu und bestätigte, daß er auf sein Rederecht verzichtete, indem er noch einen langsamen, bewußten Schluck von dem ausgezeichneten thalassanischen Wein nahm, mit dem ihre Gastgeber sie versorgt hatten.

Vizekapitän Malina, der sich viel eher in Gesellschaft von Maschinen als von Menschen wohlfühlte, betrachtete den Ausdruck mit unglücklicher Miene.

„Wenigstens ist es sehr höflich formuliert.“

„Das will ich auch hoffen“, sagte Kapitän Bey ungeduldig. „Haben Sie eine Ahnung, wer das geschickt haben könnte?“

„Nicht die leiseste. Wenn wir uns drei ausschließen, haben wir, so fürchte ich, 158 Verdächtige.“

„157“, warf Kaldor ein. „Kapitänleutnant Lorenson hat ein ausgezeichnetes Alibi. Er war zur fraglichen Zeit bereits tot.“

„Das reduziert die Auswahl nicht allzusehr“, sagte der Kapitän und brachte ein freudloses Lächeln zustande. „Haben Sie irgendeine Theorie, Doktor?“

Die habe ich tatsächlich, dachte Kaldor. Ich habe zwei der langen Jahre auf dem Mars gelebt; ich würde auf die Sabras setzen. Aber das ist nur eine Vermutung, und ich kann mich auch täuschen…

„Noch nicht, Kapitän. Aber ich werde die Augen offenhalten. Wenn ich etwas entdecke, werde ich es Ihnen mitteilen — soweit das möglich ist.“

Die beiden Offiziere verstanden vollkommen, was er damit sagen wollte. In seiner Rolle als Berater war Moses Kaldor nicht einmal dem Kapitän verantwortlich. Er kam an Bord der ‚Magellan‘ so etwas wie einem Beichtvater am nächsten.

„Ich nehme an, Dr. Kaldor, daß Sie es mir sicherlich mitteilen werden — wenn Sie Informationen aufdecken, die unsere Mission gefährden könnten.“

Kaldor zögerte, dann nickte er kurz. Er hoffte, nicht in das traditionelle Dilemma des Priesters zu geraten, der einem Mörder die Beichte abnahm — der sein Verbrechen erst noch begehen wollte.

Viel Unterstützung bekomme ich nicht, dachte der Kapitän verdrießlich. Aber ich habe absolutes Vertrauen zu diesen beiden Männern, und ich brauche jemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Auch wenn die letzte Entscheidung bei mir liegen muß.

„Die erste Frage ist, ob ich diese Botschaft beantworten oder ignorieren soll. Beides könnte riskant sein. Wenn es nur ein beiläufiger Vorschlag ist — vielleicht von einem einzelnen in einem psychologisch instabilen Augenblick gemacht —, könnte es unklug von mir sein, ihn zu ernst zu nehmen. Kommt er aber von einer entschlossenen Gruppe, dann mag ein Gespräch vielleicht nützlich sein. Es könnte die Situation entschärfen. Und es könnte auch die Betroffenen identifizieren.“ Und was würdest du dann tun? fragte sich der Kapitän. Sie in Ketten legen lassen?

„Ich glaube, Sie sollten mit ihnen sprechen“, sagte Kaldor. „Probleme verschwinden nur selten, wenn man sie ignoriert.“

„Ich bin auch dieser Ansicht“, sagte Vizekapitän Malina. „Aber ich bin sicher, daß es niemand von der Antriebsoder Energiegruppe ist. Die kenne ich alle, seit sie Examen gemacht haben — oder noch länger.“

Da könntest du eine Überraschung erleben, dachte Kaldor. Wer kennt einen anderen schon wirklich?

„Sehr schön“, sagte der Kapitän und stand auf. „So hatte ich auch schon entschieden. Und für den Fall der Fälle sollte ich wohl ein wenig Geschichte nachlesen. Ich kann mich erinnern, daß Magellan auch einige Schwierigkeiten mit seiner Besatzung hatte.“

„Die hatte er in der Tat“, antwortete Kaldor. „Aber ich hoffe, daß Sie niemanden aussetzen müssen.“

Oder einen Ihrer Kommandanten hängen lassen, fügte er für sich hinzu; es wäre sehr taktlos gewesen, diese historische Episode zu erwähnen.

Und es wäre noch schlimmer, Kapitän Bey daran zu erinnern — obwohl er das bestimmt nicht vergessen haben konnte! — , daß der große Seefahrer getötet worden war, ehe er seine Mission vollenden konnte.

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