25. Der Skorp

Er hatte Brant schon einmal entkleidet gesehen, damals, als sie jene denkwürdige Bootsfahrt unternommen hatten, aber bisher war ihm nie aufgegangen, welch eindrucksvolle Muskeln der junge Mann hatte. Loren hatte auf seinen Körper zwar immer gut achtgegeben, aber seit sie die Erde verlassen hatten, war nicht mehr viel Gelegenheit für Sport oder sonstige körperliche Betätigung gewesen. Brant hingegen hatte wahrscheinlich jeden Tag seines Lebens mit schwerer körperlicher Arbeit zu tun — und das sah man ihm an. Loren hätte absolut keine Chance gegen ihn, höchstens, wenn er einige der berühmten Kampftechniken der alten Erde heraufbeschwören konnte — von denen er keine je beherrscht hatte.

Die ganze Sache war absolut lächerlich. Da standen seine Offizierskollegen und grinsten blöde. Da stand Kapitän Bey mit einer Stoppuhr. Und da stand Mirissa mit einem Gesichtsausdruck, den man nur als süffisant bezeichnen konnte.

„… zwei… eins… null… los!“ sagte der Kapitän. Brant bewegte sich wie eine zustoßende Kobra. Loren wollte der Attacke ausweichen, stellte aber mit Entsetzen fest, daß er keine Kontrolle über seinen Körper hatte. Die Zeit schien sich verlangsamt zu haben. Seine Beine waren wie Blei und wollten ihm nicht gehorchen. Er stand kurz davor, nicht nur Mirissa zu verlieren, sondern auch seine Männlichkeit…

An diesem Punkt war er glücklicherweise aufgewacht, aber der Traum quälte ihn noch immer. Woher er kam, war offensichtlich, aber das machte ihn nicht weniger beunruhigend. Loren überlegte, ob er ihn Mirissa erzählen sollte. Brant, der ihm immer noch mit unerschütterlicher Freundlichkeit begegnete, dessen Gesellschaft ihm aber peinlich war, würde er bestimmt niemals davon erzählen. Heute jedoch war Loren richtig froh, daß der andere dabei war; wenn er recht hatte, wurden sie nun mit etwas konfrontiert, was sehr viel bedeutsamer war als ihre Privatangelegenheiten.

Er konnte es kaum erwarten zu sehen, wie Brant reagierte, wenn er den unerwarteten Besucher kennenlernte, der während der Nacht eingetroffen war.

Der mit Beton ausgegossene Kanal, durch den Seewasser in die Gefrieranlage floß, war hundert Meter lang und endete in einem kreisförmigen Becken, das gerade genug Wasser für eine Schneeflocke faßte. Da reines Eis kein besonders gutes Baumaterial war, mußte man es verstärken, und die langen Tangsträhnen aus der Großen Östlichen Prärie gaben eine billige und geeignete Armierung ab. Der gefrorenen Mischung hatte man den Spitznamen Eisbeton gegeben, sie sollte während der Wochen und Monate, in denen die ‚Magellan‘ beschleunigte, garantiert nicht zu fließen anfangen wie ein Gletscher.

„Da ist er.“ Loren stand mit Brant Falconer am Rand des Beckens und schaute durch eine Lücke in dem Teppich von verfilzten Meerespflanzen hinunter. Das Geschöpf, das den Tang fraß, war ungefähr nach dem gleichen Plan gebaut wie ein irdischer Hummer — war aber mehr als doppelt so groß wie ein Mensch.

„Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?“

„Nein“, antwortete Brant zutiefst überzeugt. „Und das tut mir auch überhaupt nicht leid. Was für ein Ungeheuer! Wie haben Sie es gefangen?“

„Überhaupt nicht. Es ist vom Meer her durch den Kanal hereingeschwommen — oder — gekrochen. Dann hat es den Tang entdeckt und beschlossen, sich zum Mittagessen einzuladen.“

„Kein Wunder, daß es solche Scheren hat. Diese Stengel sind wirklich zäh.“

„Tja. Wenigstens ist es Vegetarier.“

„Ich weiß nicht, ob ich das wirklich herausfinden möchte.“

„Ich hatte gehofft, Sie könnten uns etwas darüber erzählen.“

„Wir kennen nicht den hundertsten Teil der Wesen, die im lassanischen Meer leben. Eines Tages werden wir Forschungs-U-Boote bauen und ins tiefe Wasser vordringen. Aber es gibt so viele andere Prioritäten, und es interessieren sich auch nicht genügend Leute dafür.“

Das wird sich bald ändern, dachte Lorenson grimmig. Mal sehen, wie lange es dauert, bis Brant selbst dahinterkommt…

„Wissenschaftsoffizier Varley hat in den Aufzeichnungen nachgesehen. Sie sagt, daß es vor Millionen von Jahren auf der Erde etwas sehr Ähnliches gegeben hat. Die Paläontologen haben ihm einen schönen Namen zugeteilt — Meeresskorpion. Diese alten Ozeane müssen aufregende Gegenden gewesen sein.“

„Genau das, was Kumar gerne jagen würde“, sagte Brant. „Was werden Sie damit anfangen?“

„Genau studieren und dann freilassen.“

„Wie ich sehe, haben Sie es schon etikettiert.“

Brant hat es also bemerkt, dachte Loren. Nicht schlecht.

„Nein — das haben wir nicht. Sehen Sie nur genauer hin!“

Brant machte ein verdutztes Gesicht, als er an der Seite des Beckens niederkniete. Der Riesenskorpion beachtete ihn überhaupt nicht, sondern schnippelte weiter mit seinen bedrohlichen Scheren den Seetang ab.

Eine dieser Scheren war nicht ganz so, wie die Natur sie vorgesehen hatte. Um das Scharnier der rechten Zange war mehrmals eine Drahtschlinge herumgebogen, wie ein primitives Armband.

Brant erkannte den Draht. Die Kinnlade fiel ihm herunter, und einen Augenblick lang fand er keine Worte.

„Ich habe also richtig geraten“, sagte Lorenson. „Jetzt wissen Sie, was mit Ihrer Fischfalle passiert ist. Ich glaube, wir sollten noch einmal mit Dr. Varley sprechen — von Ihren eigenen Wissenschaftlern ganz zu schweigen.“

„Ich bin Astronomin“, hatte Anne Varley in ihrem Büro an Bord der ‚Magellan‘ protestiert. „Was Sie brauchen ist eine Mischung aus Zoologen, Paläontologen, Ethologen — und noch ein paar Disziplinen, von denen ich gar nicht reden will. Aber ich habe getan, was ich konnte, und ein Suchprogramm aufgestellt, Sie finden das Ergebnis in Ihrem Speicher Zwei unter dem Datenblock mit dem Titel ‚Skorp‘. Jetzt brauchen Sie nur das noch durchzusuchen — viel Glück dabei.“

Trotz ihrer Proteste hatte Dr. Varley tüchtig wie immer die fast unendliche Ansammlung von Wissen in den Hauptdatenspeichern des Schiffes gesichtet. Allmählich wurde ein Muster erkennbar; inzwischen graste der Gegenstand dieser ganzen Aufmerksamkeit friedlich in seinem Becken und nahm keinerlei Notiz von dem anhaltenden Strom von Besuchern, die kamen, um ihn genau zu studieren oder auch nur anzustarren.

Trotz seines erschreckenden Aussehens — die Scheren waren fast einen halben Meter lang und sahen so aus, als könnten sie mit einem einzigen Schlag einem Menschen den Kopf abtrennen — schien das Wesen nicht im mindesten aggressiv zu sein. Es machte keinen Fluchtversuch, vielleicht weil es eine so reichliche Nahrungsquelle gefunden hatte. Es wurde sogar allgemein angenommen, daß ein chemisches Spurenelement im Tang dafür verantwortlich sei, weshalb es hierhergelockt worden war.

Wenn es schwimmen konnte, so zeigte es keinerlei Neigung dazu, sondern gab sich damit zufrieden, auf seinen sechs stämmigen Beinen herumzukriechen. Sein vier Meter langer Körper war von einem leuchtend gefärbten, gegliederten Exoskelett umgeben, das ihm eine überraschende Beweglichkeit gestattete.

Weiterhin war der Saum von Palpi oder kleinen Fangarmen bemerkenswert, der den schnabelartigen Mund umgab. Sie hatten eine auffallende — ja, unangenehme Ähnlichkeit mit kurzen, menschlichen Fingern und schienen genauso geschickt zu sein. Obwohl sie offenbar hauptsächlich dazu dienten, mit Nahrung umzugehen, waren sie eindeutig zu viel mehr fähig, und es war faszinierend zu beobachten, wie der Skorp sie zusammen mit seinen Zangen einsetzte.

Seine zwei Augenpaare — das eine groß und offensichtlich für schwaches Licht geeignet, da es während des Tages geschlossengehalten wurde — verliehen ihm wohl ein ausgezeichnetes Sehvermögen. Insgesamt war das Wesen großartig darauf spezialisiert, seine Umgebung mit Sehund Greifwerkzeugen zu erfassen — die wichtigsten Voraussetzungen für Intelligenz.

Aber niemand hätte in einem solch bizarren Geschöpf Intelligenz vermutet, wäre da nicht der zu einem bestimmten Zweck um die rechte Zange gewundene Draht gewesen. Das bewies jedoch noch gar nichts. Wie die Aufzeichnungen zeigten, hatte es auf der Erde Tiere gegeben, die fremde Gegenstände — oft von Menschenhand gemacht — sammelten und auf ungewöhnliche Weise benützten.

Wäre es nicht vollständig dokumentiert gewesen, niemand hätte an den Tick der australischen Webervögel oder der nordamerikanischen Buschschwanzratte geglaubt, die glänzende oder farbige Gegenstände sammelten und sogar künstlerisch anordneten. Die Erde war voll gewesen von solchen Rätseln, die jetzt nie mehr gelöst werden würden. Vielleicht folgte der thalassanische Skorp nur der gleichen, sinnlosen Tradition, und aus ebenso unerklärlichen Gründen.

Es gab mehrere Theorien. Die populärste — weil sie die wenigsten Anforderungen an die Mentalität des Skorps stellte — lautete, das Drahtarmband sei nur ein Schmuck. Es mußte einige Geschicklichkeit erfordert haben, es zu befestigen, und es wurde viel darüber diskutiert, ob das Wesen dies ohne Hilfe hatte bewerkstelligen können.

Diese Hilfe hätte natürlich auch von menschlicher Seite kommen können. Vielleicht war der Skorp das entflohene Haustier eines exzentrischen Wissenschaftlers, aber das schien sehr unwahrscheinlich. Da auf Thalassa jeder jeden kannte, hätte man so ein Geheimnis nicht lange bewahren können.

Es gab noch eine andere Theorie, die am weitesten hergeholte von allen — und doch die gedanklich provozierendste.

Vielleicht war das Armband ein Rangabzeichen.

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