50. Der Eisschild

Das Hochziehen der letzten Schneeflocke hätte ein freudiges Ereignis sein sollen; jetzt war es nur Anlaß zu düsterer Befriedigung. Dreißigtausend Kilometer über Thalassa wurde das letzte Sechseck aus Eis an Ort und Stelle bugsiert, und dann war der Schild komplett.

Zum erstenmal in fast zwei Jahren wurde der Quantenantrieb aktiviert, aber nur mit minimaler Leistung. Die ‚Magellan‘ löste sich aus ihrem stationären Orbit und beschleunigte, um die Ausgewogenheit und die Haltbarkeit des künstlichen Eisbergs zu testen, den sie mit hinaus zu den Sternen nehmen wollte. Es gab keine Probleme; es war gute Arbeit geleistet worden… Kapitän Bey war deshalb sehr erleichtert, er hatte nie vergessen können, daß Owen Fletcher (der jetzt ausreichend streng bewacht auf der Nordinsel lebte) einer der Hauptkonstrukteure des Schilds gewesen war. Und er fragte sich, was wohl in Fletcher und den anderen Sabras vorgegangen war, als sie der Einweihungszeremonie zusahen. Es hatte mit einem Video-Rückblick angefangen, der den Bau der Gefrieranlage und das Hochziehen der ersten Schneeflocke zeigte. Dann hatte man ein faszinierendes Weltraumballett in Zeitraffertechnik vorgeführt, das zeigte, wie die großen Eisblöcke an die richtige Stelle geschoben und in den stetig wachsenden Schild eingefügt wurden. Es hatte in Normalzeit angefangen und war dann stark beschleunigt worden, bis zum Schluß alle paar Sekunden ein Abschnitt eingefügt wurde. Thalassas führender Komponist hatte eine fröhliche Begleitmusik dazu geschrieben, die mit einer langsamen Pavane begann, in einer atemlosen Polka gipfelte und schließlich ganz am Ende, als der letzte Eisblock an Ort und Stelle bugsiert wurde, wieder in ein normales Tempo fiel.

Dann war auf eine Live-Kamera umgeschaltet worden, die einen Kilometer vor der ‚Magellan‘, deren Bahn im Schatten des Planeten lag, im Raum schwebte. Die große Sonnenschutzwand, die das Eis während des Tages abschirmte, war zur Seite gerückt worden, so daß jetzt zum erstenmal der gesamte Schild sichtbar war.

Die riesige, grünlich-weiße Scheibe glitzerte kalt unter den Scheinwerfern; bald würde sie noch viel kälter sein, wenn sie hinauskam in die paar Grad über dem absoluten Nullpunkt der galaktischen Nacht. Dort würde sie nur von der Hintergrundbeleuchtung der Sterne, von der aus dem Schiff austretenden Strahlung — und gelegentlich von einem seltenen Energieschwall aufprallenden Staubes erwärmt werden.

Die Kamera schwebte, begleitet von Moses Kaldors unverwechselbarer Stimme, langsam über den künstlichen Eisberg hinweg. „Menschen von Thalassa, wir danken euch für euer Geschenk. Hinter diesem Eisschild hoffen wir sicher zu der Welt zu gelangen, die auf uns wartet, in fünfundsiebzig Lichtjahren Entfernung, dreihundert Jahre in der Zukunft.

Wenn alles gutgeht, werden wir immer noch mindestens zwanzigtausend Tonnen Eis mitführen, wenn wir Sagan Zwei erreichen. Das kann dann auf den Planeten stürzen und wird durch die Hitze beim Eintritt in den ersten Regen verwandelt, den diese Eiswelt jemals erlebt hat. Eine kleine Weile wird er, ehe auch er wieder gefriert, der Vorläufer noch ungeborener Ozeane sein.

Und eines Tages werden unsere Nachkommen Meere haben wie die euren hier, wenn auch nicht so groß und so tief. Wasser von unseren beiden Welten wird sich miteinander vermischen und unserer neuen Heimat Leben bringen. Und wir werden euer in Liebe und Dankbarkeit gedenken.“

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