16. Partyspiele

„Man nennt es ein Baby“, sagte Mirissa, „und allem Anschein zum Trotz wird es eines Tages zu einem völlig normalen, menschlichen Wesen heranwachsen.“

Sie lächelte, aber ihre Augen waren feucht. Bis sie merkte, wie fasziniert Loren war, war es ihr noch nie in den Sinn gekommen, daß es in dem kleinen Dorf Tarna wahrscheinlich mehr Kinder gab als während der letzten Jahrzehnte mit einer Geburtenrate von praktisch Null auf dem ganzen Planeten Erde. „Ist es… Ihres?“ fragte er ruhig. „Nun, zuallererst einmal ist es kein Es; es ist ein Er. Brants Neffe, Lester — wir kümmern uns um ihn, solange seine Eltern auf der Nordinsel sind.“

„Er ist wunderschön. Darf ich ihn halten?“ Wie ein Stichwort begann Lester zu schreien. „Das wäre keine gute Idee.“ Mirissa lachte, nahm ihn hastig auf und steuerte auf das nächste Badezimmer zu. „Ich kenne die Anzeichen. Lassen Sie sich von Brant oder Kumar herumführen, bis die anderen Gäste kommen.“

Die Lassaner liebten Parties und ließen keine Gelegenheit vorübergehen, welche zu veranstalten. Die Ankunft der ‚Magellan‘ war eine Chance, wie man sie im wahrsten Sinne des Wortes nur einmal im Leben — ja, in vielen Leben — bekam. Wenn die Besucher so unvorsichtig gewesen wären, alle Einladungen anzunehmen, die sie erhielten, so hätten sie jeden wachen Augenblick damit verbracht, von einem offiziellen oder inoffiziellen Empfang zum nächsten zu stolpern. Keinen Augenblick zu früh hatte der Kapitän eine seiner seltenen, aber scharfen Anweisungen herausgegeben — ‚Bey-Blitzschläge‘ — oder einfach ‚Bey-Schläge‘, wie sie ironisch genannt wurden — und seinen Offizieren maximal eine Party in fünf Tagen gestattet. Es gab einige, die der Ansicht waren, in Anbetracht der Zeit, die man oft brauchte, um sich von der lassanischen Gastfreundschaft zu erholen, sei dies viel zu großzügig bemessen.

Das Wohnhaus der Leonidas, das im Augenblick von Mirissa, Kumar und Brant bewohnt wurde, war ein großes, ringförmiges Gebäude, das die Familie seit sechs Generationen beherbergte. Ein Stockwerk hoch — in Tarna gab es nicht viele Obergeschosse — umschloß es einen grasbewachsenen Innenhof mit ungefähr dreißig Metern Durchmesser. Direkt im Zentrum lag ein kleiner Teich samt winziger Insel, die über eine pittoreske Holzbrücke zugänglich war. Und auf der Insel stand eine einzelne Palme, die nicht im besten Zustand zu sein schien.

„Man muß sie ständig ersetzen“, sagte Brant entschuldigend. „Einige terranische Pflanzen gedeihen hier sehr gut — andere schwinden einfach dahin, trotz aller chemischen Aufputschmittel, die wir ihnen verpassen. Das gleiche Problem haben wir mit den Fischen, die wir einführen wollten. Süßwasserfarmen funktionieren natürlich gut, aber wir haben nicht genügend Platz dafür. Es ist frustrierend, wenn man daran denkt, daß es eine Million mal soviel Ozean gibt, wenn wir ihn nur vernünftig nützen könnten.“

Loren fand, daß Brant Falconer ziemlich langweilig wurde, wenn er anfing, über das Meer zu sprechen. Er mußte jedoch zugeben, daß es ein weniger gefährliches Gesprächsthema war als Mirissa, der es nun gelungen war, Lester loszuwerden, und die jetzt die neu eintreffenden Gäste begrüßte.

Hätte er sich je träumen lassen, fragte sich Loren, daß er sich einmal in einer solchen Situation befinden würde? Verliebt war er schon öfter gewesen, aber die Erinnerungen — sogar die Namen — waren glücklicherweise durch die Löschprogramme, denen sie sich alle unterzogen hatten, ehe sie das Sonnensystem verließen, un deutlich geworden. Er wollte nicht einmal versuchen, sie zurückzurufen; warum sollte er sich mit Bildern aus einer Vergangenheit quälen, die völlig zerstört worden war?

Sogar Kitanis Gesicht verschwamm allmählich, obwohl er sie erst vor einer Woche im Hibernakulum gesehen hatte. Sie gehörte zu einer Zukunft, die sie geplant hatten, aber vielleicht niemals teilen würden: Mirissa gab es hier und jetzt — sie war voller Leben und Lachen, nicht in einem ein halbes Jahrtausend währenden Schlaf eingefroren. Sie hatte bewirkt, daß er sich noch einmal als ganzer Mensch fühlte und voll Freude feststellte, daß ihn die Belastungen und die Erschöpfungen der letzten Tage schließlich doch nicht seiner Jugend beraubt hatten.

Jedesmal, wenn sie beisammen waren, spürte er die Spannung, die ihm sagte, daß er wieder ein Mann war; solange die nicht gelöst wurde, würde er wenig Frieden finden und nicht einmal seine Arbeit so verrichten können, wie es sich gehörte. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sich Mirissas Gesicht über die Pläne für die Mangrovenbucht und die Flußdiagramme geschoben, und er hatte dem Computer einen PAUSE-Befehl geben müssen, ehe sie ihr gemeinsames, geistiges Gespräch hatten fortsetzen können. Es war eine besonders köstliche Folter, einige Stunden lang nicht mehr als ein paar Meter von ihr entfernt zu sein und doch nur über höfliche Nichtigkeiten mit ihr sprechen zu können.

Zu Lorens Erleichterung entschuldigte sich Brant plötzlich und eilte davon. Loren entdeckte schnell den Grund dafür.

„Kapitän Lorenson!“ sagte Bürgermeisterin Waldron. „Ich hoffe, Tarna behandelt Sie gut.“

Loren stöhnte innerlich. Er wußte, daß er der Bürgermeisterin gegenüber höflich zu sein hatte, aber seine gesellschaftlichen Talente waren nie besonders ausgeprägt gewesen.

„Sehr gut, vielen Dank. Ich glaube, Sie haben diese Herren noch nicht kennengelernt…“

Er rief, viel lauter als eigentlich nötig, quer über den Patio hinweg eine Gruppe von Kollegen an, die soeben eingetroffen waren. Glücklicherweise waren es lauter Leutnants; selbst außer Dienst hatten höhere Ränge ihre Privilegien, und er zögerte auch nie, das auszunützen.

„Bürgermeisterin Waldron, das ist Leutnant Fletcher — zum erstenmal hier unten, nicht wahr, Owen? Leutnant Werner Ng, Leutnant Ranjit Winson, Leutnant Karl Bosley…“

Typisch für den Marsklüngel, dachte er, ständig kleben sie aneinander. Nun, dadurch gaben sie ein großartiges Ziel ab, und sie waren eine Gruppe von recht sympathischen, jungen Männern. Er glaubte, daß die Bürgermeisterin es gar nicht bemerkte, als er seinen strategischen Rückzug antrat.

Doreen Chang hätte viel lieber mit dem Kapitän gesprochen, aber der hatte in Höchstgeschwindigkeit einen Scheinauftritt inszeniert, ein Glas getrunken, sich bei seinen Gastgebern entschuldigt und war wieder aufgebrochen.

„Warum will er sich nicht von mir interviewen lassen?“ fragte sie Kaldor, der keine derartigen Hemmungen kannte und sich schon an mehreren Tagen im Rundfunk und auf Video hatte aufnehmen lassen.

„Kapitän Sirdar Bey“, antwortete er, „ist in einer privilegierten Stellung. Anders als wir übrigen braucht er keine Erklärungen abzugeben — und sich auch nicht zu entschuldigen.“

„Ich entdecke einen leichten Hauch von Sarkasmus in Ihrer Stimme“, sagte die Starreporterin der Thalassanischen Rundfunkgesellschaft.

„Das war nicht beabsichtigt. Ich bewundere den Kapitän außerordentlich und akzeptiere sogar seine Meinung über mich — mit Einschränkungen natürlich. Äh… zeichnen Sie auf?“

„Im Augenblick nicht. Zu viele Nebengeräusche.“

„Ihr Glück, daß ich so vertrauensselig bin, ich könnte es unmöglich feststellen, wenn Sie es doch täten.“

„Ganz bestimmt inoffiziell, Moses. Was hält er denn nun von Ihnen?“

„Er hört sich gerne meine Ansichten an und bedient sich meiner Erfahrung, aber er nimmt mich nicht sehr ernst. Ich weiß nicht genau, warum. Er hat einmal gesagt: ‚Moses — Sie mögen die Macht, aber nicht die Verantwortung. Ich genieße beides.‘ Das war eine sehr treffende Feststellung; sie faßt die Unterschiede zwischen uns beiden zusammen.“

„Was haben Sie geantwortet?“

„Was hätte ich sagen können? Er hatte völlig recht. Das einzige Mal, als ich mich in die praktische Politik hineinziehen ließ, war… nun ja, keine Katastrophe, aber richtig gefallen hat es mir nie.“

„Die Kaldor-Kampagne?“

„Ach — Sie wissen davon? Alberner Name — hat mich geärgert. Und das war auch ein Punkt, in dem der Kapitän und ich nicht übereinstimmten. Er dachte — und das denkt er immer noch, da bin ich sicher — daß die Anweisung, die von uns verlangt, alle Planeten zu meiden, auf denen Leben möglich wäre, nichts als sentimentaler Unsinn ist. Noch ein Zitat von unserem guten Kapitän: ‚Gesetz, das verstehe ich. Metagesetz ist… ah… blanker Unsinn.‘“

„Das ist hochinteressant — das müssen Sie mich einmal aufzeichnen lassen.“

„Ganz bestimmt nicht. Was ist denn da drüben eigentlich los?“

Doreen Chang war eine hartnäckige Frau, aber sie wußte, wann sie aufgeben mußte.

„Oh, das ist Mirissas Lieblings-Gasskulptur. Auf der Erde gab es so etwas doch sicher auch.“

„Natürlich. Und da wir immer noch inoffiziell miteinander sprechen, ich halte es nicht für Kunst. Aber es ist amüsant.“

In einem Teil des Innenhofs war die Hauptbeleuchtung ausgeschaltet worden, und etwa ein Dutzend Gäste hatten sich um etwas versammelt, was wie eine sehr große Seifenblase mit fast einem Meter Durchmesser aussah. Als Chang und Kaldor darauf zugingen, sahen sie, wie sich im Innern die ersten Farbwirbel bildeten, wie bei der Geburt eines Spiralnebels.

„Es heißt ‚Leben‘“, sagte Doreen, „und ist seit zweihundert Jahren im Besitz von Mirissas Familie. Aber das Gas strömt allmählich aus; ich kann mich erinnern, daß es früher viel heller war.“

Trotzdem war es eindrucksvoll. Die Batterie von Elektronenkanonen und Lasern in der Bodenplatte war von einem geduldigen, schon lange verstorbenen Künstler so programmiert worden, daß sie eine Serie von geometrischen Formen erzeugte, die sich langsam zu organischen Strukturen entwickelten. Aus dem Zentrum der Kugel erschienen immer kompliziertere Formen, dehnten sich aus, bis sie nicht mehr zu sehen waren, und wurden durch andere ersetzt. In einer witzigen Sequenz wurden einzellige Geschöpfe gezeigt, die eine Wendeltreppe hinaufstiegen, welche sofort als Darstellung des DNS-Moleküls erkennbar war. Mit jeder Stufe kam etwas Neues hinzu; innerhalb von wenigen Minuten wurde die vier Milliarden Jahre dauernde Odyssee von der Amöbe bis zum Menschen dargestellt.

Dann versuchte der Künstler, noch weiterzugehen, und Kaldor konnte ihm nicht mehr folgen. Die Spiralen des fluoreszierenden Gases wurden zu komplex und zu abstrakt. Vielleicht würde sich ein Muster herausschälen, wenn man die Vorführung ein paarmal öfter sah…

„Was ist mit dem Ton passiert?“ fragte Doreen, als der Mahlstrom von brodelnden Farben in der Blase unvermittelt erlosch. „Früher war doch sehr gute Musik dabei, besonders am Ende.“

„Ich habe schon befürchtet, daß jemand danach fragen würde“, sagte Mirissa und lächelte bedauernd. „Wir wissen nicht genau, ob der Fehler im Playback-Mechanismus liegt oder im Programm selbst.“

„Sie haben doch sicher ein Ersatzteil!“

„O, ja, natürlich. Aber das Reserveelement liegt irgendwo in Kumars Zimmer, wahrscheinlich unter Teilen seines Kanus vergraben. Wer seine Höhle noch nicht gesehen hat, begreift nicht, was Entropie wirklich bedeutet.“

„Es ist kein Kanu — es ist ein Kajak“, protestierte Kumar, der gerade herangekommen war, an jedem Arm ein hübsches, einheimisches Mädchen. „Und was ist Entropie?“

Einer der jungen Marsianer war so unvorsichtig, eine Erklärung zu versuchen, indem er zwei Getränke von verschiedener Farbe in dasselbe Glas schüttete. Ehe er noch sehr weit gekommen war, ging seine Stimme in einem Schwall von Musik aus der Gasskulptur unter.

„Seht ihr!“ schrie Kumar mit offensichtlichem Stolz über das Getöse hinweg. „Brant bringt einfach alles in Ordnung!“

Alles? dachte Loren. Ich weiß nicht… ich weiß nicht…

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