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Die Lektionen aus dieser Zeit waren bitter und wurden allesamt mit Mut und Tränen erkauft. Aber ironischerweise sollte uns das, was uns beinahe zerstörte, später erlösen: das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Jeder Clan war nur sich selbst verpflichtet, kümmerte sich allein um seine Mitglieder, nicht um die aus anderen Gruppen. Warum wir uns später vereinigen sollten und wogegen, war völlig falsch. Dafür büßen wir heute noch. Selbst Generationen nach mir werden für diese Fehler zahlen. Aber die Einigkeit selbst war herrlich. Und diese Lektion will ich aus der Asche gewinnen. Diese Lektion brachte mich auf die Idee, mich mit den Anführern so scheinbar unterschiedlicher Völker zu treffen, mich mit ihnen zusammenzutun, um so Ziele zu verfolgen, auf deren Erreichen wir letztendlich stolz sein können. Einheit. Harmonie. Das ist die gute Lektion aus der Vergangenheit. Ich habe sie gelernt.


Ner’zhul schaute zufrieden in den dämmrigen Himmel. Der Sonnenuntergang dieses Tages war wundervoll. Die Ahnen müssen zufrieden sein, dachte er und war ein kleines bisschen stolz darauf.

Ein weiteres Kosh’harg-Fest war gekommen und gegangen. Jedes Mal, wenn das Fest stattfand, passierte etwas Erfreuliches und etwas, das betrauert werden musste.

Seine alte Freundin Kashur, die, wie er wusste, von ihrem Clan liebevoll „Mutter“ genannt worden war, war zu den Ahnen gegangen. Wie er gehört hatte, war sie tapfer gestorben. Sie hatte darauf bestanden, an einer Jagd teilzunehmen, was sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Die Frostwölfe hatten Spalthufe gejagt, und die alte Mutter war bei der Vorhut der angreifenden Krieger gewesen. Sie war zu Tode getrampelt worden, bevor irgendjemand sie hatte retten können. Obwohl ihr Clan um sie trauerte, feierten sie ihr Leben und ihre Wahl, sich davon zu verabschieden. Er fragte sich, ob er sie in seinen Träumen sehen würde, und schalt sich dann für diesen Gedanken. Er würde sie erst dann sehen, wenn sie es für richtig hielt. Für die Schamanen war der Tod keine Wüste des Leids wie für normale Orcs. Sie genossen das Privileg, in der Gegenwart der geliebten Toten weiterzuleben, von ihrer Weisheit zu lernen und ihre Wärme zu spüren.

Die Frostwölfe hatten eine weitere Tragödie zu betrauern. Denn ihr Anführer Garad war ebenfalls gestorben. Seine Jagdgruppe hatte das große Pech gehabt, an einem schönen sonnigen Tag auf gleich drei Oger und einen ihrer monströsen Meister zu stoßen. Diese scheußlichen Kreaturen waren zwar dumm, aber wild, und zumindest war der Gronn ein gerissener Gegner. Die Orcs hatten sie schließlich besiegt, aber es hatte Tote gegeben. Garad und einige andere erlagen ihren Wunden an diesem schwarzen Tag. Die Heiler konnten ihnen nicht mehr helfen.

Aber in der Trauer einen Anführer zu verlieren, einen, den Ner’zhul gekannt und respektiert hatte, lag gleichzeitig die Freude, frisches Blut kommen zu sehen. Kashur wusste nur Gutes über den jungen Durotan zu berichten. So wie Ner’zhul es sah, würde er einen guten Anführer abgeben. Bei Durotans Ernennung zum Häuptling war ihm eine attraktive und sehr tapfer wirkende junge Frau aufgefallen, die der Feier mit Interesse zugeschaut hatte. Ner’zhul war sich sicher, dass die liebliche Draka bereits beim nächsten Kosh’harg-Fest die Frau des neuen Häuptlings des Frostwolf-Clans sein würde.

Er seufzte, ordnete die Bilder in seinem Kopf, während sich seine Augen an dem herrlichen Sonnenuntergang erfreuten. Die Jahre kamen und gingen, spendeten Segen und nahmen Opfer.

Er ging zu seiner kleinen Hütte, die er einst mit seiner Frau geteilt hatte. Rulkan war bereits vor einigen Jahren gestorben. Von Zeit zu Zeit besuchte sie ihn, verkündete zwar keine Weisheiten der Ahnen, aber erfüllte sein Herz mit Zärtlichkeit. Und jedes Mal, wenn ihr Geist den seinen berührte, wurden ihm die Bedürfnisse seines Volkes wieder bewusst. Er vermisste ihr raues Lachen und ihre Wärme, aber er war trotzdem zufrieden. Vielleicht, überlegte er, würde Rulkan ihm in der kommenden Nacht im Traum erscheinen.

Er bereitete einen Trank vor, sang leise, dann trank er ihn langsam. Das Gebräu würde keine Vision hervorrufen. Nichts vermochte das, solange die Ahnen es nicht wollten. Manchmal hatte er Visionen, wenn er sie am wenigsten erwartete. Aber über lange Jahre hatte der Schamane gelernt, dass einige Kräuter den Geist öffneten, während er schlief. Und sie halfen dabei, sich am nächsten Tag umso klarer daran zu erinnern.

Ner’zhul schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder, obwohl er wusste, dass er eingeschlafen war.

Sie standen auf einer Bergspitze, er und seine geliebte Rulkan. Zuerst dachte er, dass sie gemeinsam den Sonnenuntergang beobachten würden. Dann erkannte er, dass die Sonne auf-, nicht unterging. Der Himmel war herrlich, aber in einer Art, die ihn aufwühlte, statt zu beruhigen oder Trost zu spenden. Alles war rot, lila und orange, fast schon violett, und Ner’zhuls Herz pochte.

Rulkan schaute ihn an, lächelte. Und zum ersten Mal, seit sie den letzten Atem ausgehaucht hatte, sprach sie zu ihm.

„Ner’zhul, mein Mann, dies ist ein neuer Anfang.“

Er schnappte nach Luft, überwältigt von der Liebe zu ihr. Die Farben des Sonnenaufgangs wühlten ihn auf. Ein neuer Anfang?

„Du hast unser Volk gut geführt“, sagte sie. „Aber es ist die Zeit gekommen, um die alten Wege zu verändern und unser Volk weiterzubringen. Und das zum Besten aller.“

Ein Gedanken blitzte in ihm auf. Rulkan war weder Schamanin noch Häuptling gewesen. Sie war immer sie selbst. Ner’zhul hatte das stets gereicht, aber sie hatte keine wichtige Position innegehabt, die sie zu einer solchen Aussage legitimiert hätte. Verärgert über sein fehlendes Vertrauen in die Mächte des Schicksals schob Ner’zhul diesen Gedanken beiseite. Er war kein Geist. Er bestand nur aus Fleisch und Blut, obwohl er die Wege der Ahnen besser verstand als die meisten. Aber er wusste auch, dass es vieles gab, das er niemals verstehen würde. Warum sollte Rulkan nicht für die Ahnen sprechen?

„Ich höre“, sagte er.

Sie lächelte. „Den Orcs stehen dunkle und gefährliche Zeiten bevor. Bislang sind wir immer nur zu den Kosh’harg-Festen zusammengekommen. Diese Isolation muss aufhören, wenn wir als Volk überleben wollen.“

Rulkan schaute in den Sonnenaufgang, und sie wirkte dabei gedankenverloren. Ner’zhul brannte darauf, sie zu halten, ihre Sorgen als seine anzunehmen, so, wie er es früher immer getan hatte. Aber er wusste, dass er sie weder berühren, noch sie zum Sprechen zwingen konnte. Deshalb blieb er still, trank ihre Schönheit, während er ihr lauschte.

„Auf dieser Welt lastet etwas Böses“, sagte Rulkan. „Es muss vernichtet werden.“

„Sag es, und es wird getan“, schwor Ner’zhul eifrig. „Ich ehre immer den Rat der Ahnen.“

Sie sah ihn an, ihr Blick suchte den seinen. „Wenn es vernichtet ist, wird unser Volk stolz und fest zueinanderstehen, noch mehr, als es bereits der Fall ist. Wir werden mächtig und stark sein. Diese Welt wird uns gehören. Und du, du, Ner’zhul, wirst sie führen.“

Etwas an der Art, wie sie es sagte, ließ Ner’zhuls Herz springen. Er war bereits sehr machtvoll. Er wurde von seinen eigenen Leuten, dem Schattenmond-Clan, geehrt, vielleicht sogar verehrt. Dennoch rührte Furcht an ihm, dunkel und ungemütlich, doch er musste sich ihr stellen.

„Was ist das für eine Bedrohung, die beseitigt werden muss?“

Sie sagte es ihm.


„Was soll das bedeuten?“, fragte Durotan.

Er war mit den beiden Orcs zusammen, denen er in seinem Clan am meisten traute: Draka, seine Zukünftige, die er in einer feierlichen Zeremonie beim nächsten Vollmond heiraten würde, und Drek’Thar, der neue Oberschamane des Clans.

Durotan betrauerte wie jeder andere den Tod von Mutter Kashur. Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie an dem Tag freiwillig den Tod gesucht hatte, damit es ein ehrenvoller Tod war. Sie wurde vermisst, aber Drek’Thar hatte sich als würdiger Nachfolger erwiesen. Er stellte seinen persönlichen Kummer zurück und hatte seinen Platz als erster Heiler auf der Jagd eingenommen. Kashur wäre stolz gewesen. An diesem Abend aßen die drei im Zelt des Häuptlings, wo Durotan, der seit dem Tod seines Vaters der neue Anführer war, lebte.

Durotan las einen Brief, den er gerade erhalten hatte. Ein großer dürrer Kurier auf einem großen dürren Schwarzwolf hatte ihn überbracht. Er ging den Inhalt noch mal durch, während er den aus Getreide und Blut gekochten Brei aß.

An Durotan, Häuptling des Frostwolf-Clans!

Der Schamane Ner’zhul sendet dir Grüße. Ich hatte Visionen von den Ahnen, die uns alle betreffen. Ich möchte am zwölften Tage dieses Mondes zu allen Anführern der Clans sprechen wie auch zu jedem Schamanen jedes Clans. Kommt zum Fuß des heiligen Berges. Für Fleisch und Getränke wird gesorgt. Wenn ihr nicht teilnehmt an dem Treffen, werte ich das als Zeichen dafür, dass ihr euch nicht für die Zukunft eures Volkes interessiert, und werde entsprechend handeln. Vergebt meinen harschen Ton, aber diese Angelegenheit ist äußerst wichtig. Bitte antwortet über meinen Kurier.

Durotan hatte den Kurier warten lassen, während er die Angelegenheit mit seinen Vertrauten besprach. Der Kurier schien es eilig zu haben, war aber einverstanden gewesen, noch ein wenig zu bleiben. Der aromatische Geruch des Breis, der aus einem großen Kessel drang, hatte sicherlich geholfen, ihn zu überzeugen.

„Ich weiß nicht“, sagte Drek’Thar. „So etwas hat noch nie außerhalb des Kosh’harg-Festes stattgefunden. Die Schamanen halten dort immer in der Gegenwart der Ahnen ein Treffen ab, aber niemals zu anderen Zeiten. Und ich habe nie davon gehört, dass jemand die Häuptlinge zusammengerufen hätte. Doch ich kenne Ner’zhul schon mein ganzes Leben. Er ist ein weiser und großer Schamane. Wenn die Geister uns vor einer großen Bedrohung warnen wollen, würden sie sicher über ihn zu uns sprechen.“

Draka knurrte. „Er kommandiert euch herum, als wärt ihr Haustiere, die seinem Ruf folgen müssen“, murrte sie. „Mir gefällt das nicht, Durotan. Es riecht nach Arroganz.“

„Ich widerspreche dir nicht“, sagte Durotan. Seine Nackenhaare hatten sich aufgerichtet, als er den Brief gelesen hatte. Auch ihm gefiel dieser Tonfall nicht. Zuerst hatte er ablehnen wollen, aber als er die Nachricht noch einmal las, ignorierte er die unfreundlichen Worte und konzentrierte sich auf den Inhalt des Briefs. Etwas beunruhigte diesen Orc, den jeder respektierte. Und sicherlich war es eine Reise wert, auch wenn die ein paar Tage dauern würde.

Draka beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Er sah sie an und lächelte. „Ich werde gehen. Und mit mir all meine Schamanen.“

Draka fröstelte. „Ich begleite dich.“

„Ich denke, es wäre das Beste, wenn...“

Draka schnaubte. „Ich bin Draka, Tochter von Kelkar, Sohn des Rhakish. Ich bin deine Zukünftige und bald deine Lebenspartnerin. Du verbietest mir nicht, dich zu begleiten.“

Durotan warf den Kopf zurück und lachte. Er hatte gut gewählt. Aus einer Schwachgeborenen war Stärke erwachsen. Der Frostwolf-Clan würde mit ihr an der Seite erblühen.

„Ruf den Kurier rein, wenn er sein Mahl beendet hat“, sagte Durotan und lachte immer noch. „Sag ihm, dass wir zu Ner’zhuls merkwürdigem Treffen kommen werden. Aber er sollte uns von seiner Notwendigkeit überzeugen, wenn wir erst da sind.“


Der Anführer der Frostwölfe und sein Schamane gehörten zu den Ersten, die eintrafen. Ner’zhul selbst begrüßte sie. In dem Augenblick, in dem Durotan den Schamanen sah, wusste er, dass es richtig gewesen war, zu kommen. Obwohl Ner’zhul kein junger Orc mehr war, schien er in den wenigen Monaten seit dem letzten Kosh’harg-Fest um Jahre gealtert. Er wirkte dünner, fast schon verhungert, als wenn er schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen hätte. Seine Blicke wirkten gehetzt. Er griff mit zittrigen Händen Durotans breite Schultern, und der Häuptling der Frostwölfe spürte, dass sein Dank ehrlich gemeint war. Er spürte kein arrogantes Spiel um die Macht, sondern ein aufrichtiges Gefühl der Bedrohung.

Durotan neigte den Kopf, dann verließ er ihn, um zu sehen, wie seine Leute untergebracht waren.

Während der nächsten paar Stunden, als sich die Sonne dem Horizont näherte, beobachtete Durotan den steten Strom von Orcs, der sich durch das flache Wiesenland zog und zum Fuß des heiligen Bergs wanderte. Es wirkte fast schon, als würden sie sich für das Kosh’harg-Fest versammeln. Er sah die leuchtenden Banner in der Brise flattern, die jeden Clan ankündigten, und ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht, als er das Symbol des Schwarzfels-Clans erblickte, Orgrims Clan. Seit sie erwachsen waren, hatten die beiden Jugendfreunde nicht mehr so viel Zeit füreinander. Orgrim war bei Durotans Ernennung um Häuptling dabei gewesen, seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen. Durotan sah mit Freude und keineswegs überrascht, dass Orgrim nur einen Schritt hinter Schwarzfaust schritt, dem klotzigen und einschüchternden Häuptling des Schwarzfels-Clans. Durotans alter Freund war nun dessen Stellvertreter.

Draka folgte dem Blick ihres zukünftigen Gatten und grunzte ebenfalls zufrieden. Sie verstand sich sehr gut mit Orgrim, wofür Durotan dankbar war. Es war ein Glück, dass die beiden, die ihm die wichtigsten waren, ebenfalls miteinander gut auskamen.

Während Schwarzfaust mit Ner’zhul redete, warf Orgrim Durotan einen Blick zu und zwinkerte. Durotan grinste ihm zu. Ner’zhuls Vision beunruhigte ihn, aber immerhin gab ihm dieses Treffen die Möglichkeit, Orgrim wiederzusehen.

In diesem Moment drehte sich Schwarzfaust mit einem Schnauben um und bedeutete Orgrim, ihm zu folgen. Das Lächeln verschwand aus Durotans Gesicht. Wenn Schwarzfaust seinen Stellvertreter Orgrim das gesamte Treffen lang brauchte, dann würde ihm sogar das Vergnügen, ein paar Worte mit dem Freund zu sprechen, verwehrt werden.

Draka, die ihn gut kannte, griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie sagte nichts, sie musste es nicht. Durotan sah sie an und lächelte.


Derselbe lange dünne Kurier, der Durotan die Nachricht von dem Treffen überbracht hatte, verkündete, dass Ner’zhul die Versammlung nicht vor dem nächsten Morgen halten würde. Einige Clans würden erst in der Nacht eintreffen. Das Lager der Frostwölfe war kleiner als das der anderen, aber gemütlich. Sie hatten Reisezelte und Felle mitgebracht, und der Kurier hatte dafür gesorgt, dass sie ausreichend Fleisch, Fisch und Früchte bekamen. Eine Talbuk-Lende drehte sich langsam über dem Feuer, ihr verlockender Geruch hielt den Appetit wach, während sich die Orcs über den Fisch hermachten. Es waren insgesamt elf: Durotan, Draka, Drek’Thar und acht Schamanen. Einige wirkten sehr jung auf Durotan. Aber obwohl ein paar von ihnen noch nicht ihre vollen Fertigkeiten ausgebildet hatten, wurde ihnen, sobald sie von den Ahnen auserwählt worden waren, derselbe Respekt entgegengebracht wie allen anderen auch.

Ein dunkler Schatten erschien außerhalb des Feuerkreises. Durotan stand auf und erhob sich zu seiner vollen imposanten Größe. Nur für den Fall, dass der Besucher zu viel getrunken hatte und streitlustig war. Der Wind drehte, und er lachte, als er Orgrims Geruch wahrnahm.

„Willkommen, mein alter Freund“, rief er und umarmte den anderen Orc herzlich. Obwohl Durotan groß war, überragte ihn Orgrim wie schon in der Jugend. Als er den Stellvertreter des Schwarzfelshäuptlings sah, fragte sich Durotan, wie er Orgrim überhaupt in irgendetwas hatte schlagen können.

Orgrim grunzte und klatschte Durotan auf die Schulter. „Dein Lager ist klein, aber es riecht am besten“, sagte er, während er einen Blick zu dem Fleisch warf, das über dem Feuer briet, und dann schnüffelte.

„Dann reiß dir ein dickes Stück vom Talbuk heraus und lass deine Aufgaben für eine Weile ruhen“, sagte Draka.

„Würde ich gern, wenn ich könnte“, erwiderte Orgrim und seufzte. „Aber ich habe nicht viel Zeit. Wenn der Häuptling des Frostwolf-Clans so nett wäre, mich ein Stück zu begleiten, würde ich mich sehr geehrt fühlen.“

„Dann lass uns gehen“, antwortete Durotan.

Sie verließen das Lager und gingen eine Weile wortlos, bis die Lagerfeuer kleine blinkende Lichter in der Ferne waren und sie sicher sein konnten, dass niemand sie sehen oder hören konnte. Beide Orcs schnüffelten im Wind. Orgrim schwieg eine Weile, und Durotan wartete mit der Geduld des wahren Jägers.

Schließlich ergriff Orgrim das Wort. „Schwarzfaust wollte nicht, dass wir kommen“, sagte er. „Er fand es erniedrigend, dass Ner’zhul uns rief, als wären wir Haustiere.“

„Draka und ich haben zunächst genauso gedacht, aber ich bin froh, dass wir dann doch gekommen sind. Du hast Ner’zhuls Gesicht gesehen. Ein Blick genügte, und ich wusste, dass es richtig war herzukommen.“

Orgrim schnaubte. „Ich sehe das genauso, aber als ich das Lager verlassen habe, hat Schwarzfaust immer noch gegen den Schamanen gewettert. Er sieht nicht das, was du und ich sehen.“

Es stand Durotan nicht zu, schlecht über einen anderen Clanführer zu sprechen. Aber es war kein Geheimnis, was die meisten Orcs über Schwarzfaust dachten. Er war sicherlich ein machtvoller Orc in seinen besten Jahren, größer und stärker als jeder andere Orc, den Durotan kannte. Und er war auch nicht dumm. Aber etwas war an ihm, das dafür sorgte, dass sich Durotans Nackenhaare sträubten. Dennoch entschied er sich, den Mund zu halten.

„Ich sehe selbst im Dunkeln, dass du mit dir kämpfst, alter Freund“, sagte Orgrim leise. „Du musst nichts sagen, ich weiß es auch so. Er ist mein Häuptling. Ich habe ihm die Treue geschworen, und ich werde diesen Schwur nicht brechen. Aber auch ich habe meine Bedenken.“

Dieses Eingeständnis erschreckte Durotan. „Hast du?“

Orgrim nickte. „Ich bin hin- und hergerissen, Durotan. Auf der einen Seite meine Treue, auf der anderen das, was Herz und Verstand mir sagen. Mögest du niemals in so eine Lage geraten. Als Stellvertreter kann ich vermitteln, aber nur ein wenig. Er ist der Anführer des Clans, und er hat das Sagen. Ich kann nur hoffen, dass er den anderen morgen zuhört und nicht stur auf seinem verletzten Stolz, beharrt.“

Durotan teilte diese Hoffnung. Wenn die Dinge tatsächlich so schlimm waren, wie Ner’zhuls Gesichtsausdruck erahnen ließ, dann war ein Anführer eines der mächtigsten Clans, der sich wie ein trotziges Kind benahm, das Letzte, was sie brauchen konnten.

Sein Blick fiel auf einen dunklen Umriss auf Orgrims Rücken. Stolz und Trauer durchfluteten ihn, als er sagte: „Du trägst jetzt den Schicksalshammer. Ich wusste nicht, dass dein Vater gestorben ist.“

„Er starb tapfer und ehrenvoll“, sagte Orgrim. Er zögerte, dann ergänzte er: „Erinnerst du dich an den Tag vor langer Zeit, als wir vor dem Oger flohen und die Draenei uns gerettet haben?“

„Wie könnte ich das jemals vergessen?“, antwortete Durotan.

„Ihr Prophet sprach von einer Zeit, in der ich den Schicksalshammer erhalten würde“, sagte Orgrim. „Ich war so aufgeregt bei dem Gedanken, ihn auf der Jagd zu führen. Damals habe ich zum ersten Mal verstanden, richtig verstanden, dass der Tag, an dem ich die Waffe erhalten würde, derselbe Tag wäre, an dem ich meinen Vater verlieren würde.“

Er löste die Waffe von seinem Rücken und hob sie. Es war, als beobachte man einen Tänzer, denn seine Bewegung war voller Macht und Anmut. Der Mond beschien Orgrims starken Körper, als er den Hammer führte. Schwer atmend und schwitzend steckte er die Waffe schließlich zurück.

„Es ist ein herrliches Ding“, sagte Orgrim leise. „Eine Waffe der Macht. Eine Waffe der Prophezeiung. Der Stolz meiner Familie. Und dennoch würde ich sie eigenhändig in tausend Teile schlagen, würde das mir meinen Vater zurückbringen.“

Ohne ein weiteres Wort ging Orgrim zu der kleinen Ansammlung von Feuern zurück. Durotan jedoch folgte ihm nicht. Er blieb noch eine Weile, schaute zu den Sternen, und tief in seiner Seele spürte er, dass die Welt, die er beim Aufwachen sehen würde, sich radikal von der unterscheiden würde, die er bisher sein ganzes Leben lang gekannt hatte.

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